Direkt zum Inhalt

SGL Carbon: Wissenschaft im Unternehmen: Bremsen im Verbund



Karbonfasern gelten oft als Wunderwerkstoff, denn das Material ist fest und zäh, verträgt hohe Temperaturen und wiegt dabei nicht viel. Doch Bremsscheiben daraus enttäuschen, greifen sie doch erst richtig, wenn sie durch Reibung mindestens 300 Grad Celsius heiß werden. Außerdem verschleißen sie schnell und überzeugen auch nicht bei Regen. Während sich der Formel-1-Pilot mit ein paar Runden zum Warmfahren behelfen kann und sein Boxenteam die abgenutzten Leichtgewichte frühzeitig austauscht, müssen normale Automobilisten bislang auf die schwarzen Scheiben verzichten.

Ein Verbund von Karbonfasern und Keramik soll das nun ändern. Dabei bringt die Keramik Haltbarkeit und ein gutes Bremsvermögen bei niedrigen Temperaturen mit in die Ehe. Die ersten solcher Composite-Bremsscheiben fertigte das Unternehmen SGL Carbon, der weltweit größte Hersteller von Produkten aus Kohlenstoff und Grafit, im vergangenen Jahr noch weitgehend manuell. Vor wenigen Monaten ging nun eine automatisierte Produktionsanlage für jährlich 35000 Scheiben in Betrieb. Hauptabnehmer ist vorerst Porsche, der Aufpreis für seine "Ceramic Composite Brake" beträgt etwa 7500 Euro.

In einem ersten Schritt gewinnen die SGL-Ingenieure Karbonfasern aus Fasern des Kunststoffs Polyacrylnitril. Die werden in zwei Stufen – erst in oxidierender Atmosphäre, dann unter Luftabschluss – erhitzt und verkokt (fachlich: karbonisiert), die resultierenden Kohlenstofffasern dann fein zermahlen. Mit Kunstharz getränkt, werden sie als klebrige Masse in Form gebracht. Ein Aufenthalt in einer beheizten Presse folgt, dabei härtet der Polymeranteil aus, und es entsteht als Zwischenschritt ein Rohling aus karbonfaserverstärktem Kunststoff (CFK). Bei knapp 1000 Grad Celsius und Stickstoff-Atmosphäre wird daraus reiner Kohlenstoff, denn flüchtige Bestandteile entweichen.

Rubbelfrei auf nasser Fahrbahn

Als Nächstes erhitzen die Ingenieure metallisches Silizium auf etwa 1420 Grad Celsius. Die Karbonscheibe saugt die Schmelze auf, beim Abkühlen bildet sich Siliziumkarbid, eine Keramik, fast so hart wie Diamant.

"Karbon-Keramik bremst sofort und nicht erst ab 300 Grad", betont Hans-Michael Güther, Leiter der neuen Produktionsanlage. Der Grund dafür liegt in der Struktur: Reine Karbonscheiben haben bis zu 15 Prozent offene Poren, in denen sich Regenwasser und Luftfeuchtigkeit sammeln. Dieser Schmierfilm verringert die Reibung und muss erst durch mehrmaliges Bremsen verdampft werden. Die Zahl der Poren ist bei Karbon-Keramik-Scheiben wesentlich kleiner; ein wässriger Schmierfilm kann praktisch gar nicht entstehen.

Gegenüber der sonst gebräuchlichen Bremsscheibe aus Grauguss hat die aus dem Verbundwerkstoff außer einem niedrigeren Gewicht noch einen weiteren Vorteil: Sie verträgt Temperaturen bis zu 1000 Grad Celsius ohne Funktionseinbuße, während sich die aus Metall bei hohen Temperaturen leicht verzieht. Ihre Bremsbacken liegen dann nicht mehr planparallel, beginnen zu vibrieren und bremsen nicht mehr zuverlässig. Warum sogar regennasse Fahrbahnen die neuen Scheiben unbeeindruckt lassen, ist den Entwicklern selbst noch nicht klar. Vermutlich fließt der Wasserfilm rascher ab, ein Effekt der geringeren Oberflächenhaftung der Wassermoleküle.

Der mechanische Abrieb, so eines der Hauptargumente von SGL und Porsche, sei so gering, dass eine Bremsscheibe 300000 Kilometer hält – länger, als es für das Fahrzeug selbst vorgesehen ist. Weil sie – trotz eines zwanzig Millimeter größeren Durchmessers – nicht einmal halb so schwer ist wie die Grauguss-Bremsscheibe, hilft Karbon-Keramik überdies beim Kraftstoff-Sparen. Zudem verbessere sich laut Hersteller die Fahrdynamik, da weniger Masse ungefedert auf das Rad einwirkt. Grund genug auch für Continental Teves, einen der größten Produzenten von Pkw-Bremsanlagen, mit SGL eine Keramikbremse zu entwickeln.

Zu heiß für die Schiene

Nicht nur Automobilhersteller möchte SGL als Kunden gewinnen, sondern auch die Deutsche Bahn. Im Auftrag des Unternehmens Knorr-Bremse bauten die Ingenieure Bremsscheiben für den Intercity-Express. Etwa achtzig Kilogramm soll jede Scheibe leichter werden als bisher, bei drei Scheiben pro Achse könne ein Zug dann mehrere Tonnen Gewicht abspecken. Die Folgen: weniger Energie beim Beschleunigen, kürzere Fahrzeiten und eine geringere Belastung des Schienenunterbaus.

Doch im Augenblick hat Knorr die Bremse angezogen. Der Grund: Bei heftigen Bremsmanövern, wie sie ein ICE mindestens einmal pro Woche vollführt, erhitzten sich die Prototypen auf mehr als 1000 Grad Celsius. "Die Kohlenstofffasern brennen dann quasi heraus", dämpft Xaver Wirth, Entwicklungsleiter bei Knorr-Bremse, die Erwartungen. Ein höherer Verschleiß und damit höhere Kosten sind die Folgen. So bliebe nur der reine Gewichtsvorteil. Doch mit einer neuen Rezeptur verbessert SGL zurzeit in Kooperation mit Knorr-Bremse den Oxidationsschutz, um auch die geforderten langen Standzeiten der Bahn zu erreichen. Schließlich soll die Karbon-Keramik auf jeden Fall auch für die Schiene salonfähig gemacht werden.


Das Unternehmen im Profil


Die SGL Carbon Group ist ein börsennotiertes und weltweit agierendes Unternehmen. 8200 Mitarbeiter, davon etwa 3300 in Deutschland, erwirtschafteten im vergangenen Jahr einen Umsatz von 1,233 Milliarden Euro. Der Firmensitz ist Wiesbaden, der wichtigste Produktionsstandort in Deutschland befindet sich in Meitingen. Das Unternehmen ist Marktführer bei Kohlenstoff- und Grafitprodukten wie Grafit-Elektroden für die Elektrostahl-Erzeugung. Zudem hat sich SGL auf Korrosionsschutzsysteme, Bremsscheiben, Brennstoffzellenkomponenten und Karbonfasern für die Luft- und Raumfahrt spezialisiert.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Wie wird die Deutsche Bahn wieder zuverlässiger?

Unpünktlich, überlastet, veraltet – die Deutsche Bahn macht keine gute Figur. Woran das liegt und warum nun selbst Tricksereien nicht mehr helfen, erklärt Verkehrswissenschaftler Ullrich Martin. Außerdem in dieser Ausgabe: eine neue Theorie zu Schwarzen Löchern und Therapien gegen Katzencovid.

Spektrum - Die Woche – Sind E-Zigaretten so schädlich wie ihr Ruf?

In dieser Ausgabe: Die WHO warnt vor E-Zigaretten – wie schädlich ist Vaping? Außerdem erfahren Sie etwas über FCKW-Detektive und einen Mörder, der im Gefängnis Vogelexperte wurde.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.