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Wissenschaftliche Fachgesellschaften - zu passiv

Den selbstgestellten Aufgaben vermögen nur wenige der freiwilligen Zusammenschlüsse von Fachwissenschaftlern in der Bundesrepublik zu genügen, ergab eine Studie des Wissenschaftsrates.

Heinz Heckhausen, bis Anfang 1987 Vorsitzender des Wissenschaftsrates, hatte diesen bei seinem Ausscheiden angeregt, die Rolle der wissenschaftlichen Fachgesellschaften im deutschen Wissenschaftssystem zu untersuchen und womöglich stärker an dessen Selbstverwaltung zu beteiligen. Eine daraufhin eingesetzte Arbeitsgruppe fand allerdings sehr schnell heraus, daß zuverlässige Informationen zu diesem Thema kaum verfügbar waren, ja noch nicht einmal eine Kartei mit den Namen und Adressen dieser Institutionen existierte.

Deshalb stellte die Arbeitsgruppe mit Hilfe des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim über die Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates in Köln eine mehrstufige Erhebung an: Zunächst wurden die ein-schlägigen wissenschaftlichen Fachgesellschaften überhaupt identifiziert. Dem folgten zwei schriftliche Befragungen, eine im Frühjahr 1990 zu den Themen, die den Wissenschaftsrat besonders interessierten, eine weitere Anfang 1991 zur Integration der west- und ostdeutschen Organisationen. Schließlich wurden im Winter 1991 die Vorsitzenden beziehungsweise Geschäftsführer von zehn Gesellschaften zu Anhörungen gebeten. Ihren Abschlußbericht legte die Arbeitsgruppe im Juli 1992 vor.

Von den angeschriebenen Fachgesellschaften hatten sich 188 (85 Prozent) an der Befragung beteiligt. Sie wurden für die Datenanalyse nach den Kategorien der amtlichen Statistik in sieben Fächergruppen eingeteilt: Auf die Sprach- und Kulturwissenschaften entfallen 23, auf die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 15, auf Mathematik und Naturwissenschaften 38, auf die Humanmedizin 75, auf die Agrar-, Forst- und Ernährungswissenschaften 13, auf die Ingenieurwissenschaften – ohne den Verein Deutscher Ingenieure (VDI) und den Verband Deutscher Elektrotechniker (VDE), die gesondert behandelt wurden – 16 und auf sonstige Fächer 8. Diese Zusammenfassung zu statistischen Zwecken darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß sich die Gesellschaften sowohl in wie zwischen den Gruppen sehr stark voneinander unterscheiden, was auch bei den folgenden Globalaussagen beachtet werden sollte.

Fachspezifische Unterschiede im Organisationsgrad

Insbesondere die Expansion des Bildungssystems in den letzten drei Jahrzehnten hat es mit sich gebracht, daß der erste wissenschaftliche Abschluß nicht mehr die Mitgliedschaft in einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft nahelegt oder geradezu erzwingt. Offenbar erfordert eine Berufstätigkeit außerhalb des Wissenschaftssystems nur noch selten eine organisatorische Bindung an das Examensfach.

Dies gilt allerdings nicht generell, sondern besonders für die Geistes- und Sozialwissenschaften. In der Humanmedizin und in den Ingenieurwissenschaften hingegen ist der Organisationsgrad deutlich höher; anscheinend ist eine kompetente wissenschaftsbasierte Berufstätigkeit in anwendungsorientierten Fächern auch außerhalb von Hochschule und anderen Forschungseinrichtungen ohne institutionalisierte Rückkoppelung nicht gut möglich, und über neue Entwicklungen orientieren eben unter anderem die Fachgesellschaften.

Schwächen im Aktionsprofil

Mit Ausnahme der ingenieurwissenschaftlichen Vereinigungen finanzieren sich die Fachgesellschaften überwiegend durch Beitragszahlungen. Der Satz liegt fächergruppenübergreifend recht homogen bei rund 80 DM pro Jahr. Somit kann nicht überraschen, daß viele dieser Zusammenschlüsse häufig große Probleme haben, den selbstgestellten Aufgaben gerecht zu werden. Aus dem gleichen Grunde fehlen kontinuierliche und leistungsfähige Organisationsinfrastrukturen, was die ehrenamtlich tätigen Vorstände nicht durch Engagement ausgleichen können.

Entsprechend hat die Studie des Wissenschaftsrates eine Reihe von Schwächen im Aktionsprofil der Fachgesellschaften dokumentiert. Mangels Mitteln oder aufgrund fachspezifischer Besonderheiten gibt rund die Hälfte keine eigene Fachzeitschrift heraus (davon nutzen allerdings fast 60 Prozent eine andere Fachzeitschrift als ihr wissenschaftliches Sprachrohr). Zudem läßt lediglich ein gutes Drittel der Fachzeitschriften externe Gutachter die Qualität der Beiträge beurteilen (darunter gerade jede vierte ausschließlich externe Gutachter). Deutsche Fachgesellschaften sind also noch weit von der konsequenten Anwendung professioneller Standards entfernt, wie sie zum Beispiel in den USA gang und gäbe ist.

In dieses Bild einer gewissen Rückständigkeit paßt, daß außerhalb von Mathematik und Naturwissenschaften nur wenige fremdsprachige Beiträge veröffentlicht werden. Bisher wird auch kaum versucht, der jeweils organisierten Gemeinschaft kompetent geschriebene Übersichtsartikel zum Stand der Forschung anzubieten, die angesichts der Fächerdifferenzierung und Wissensvermehrung dringend notwendig wären.

Obwohl in einschlägigen Gremien und auch in der Öffentlichkeit viel über Probleme der Hochschulen diskutiert wird, zur Zeit insbesondere über die langen Studienzeiten, nimmt rund die Hälfte der Fachgesellschaften selten oder nie Einfluß auf die Gestaltung von Studiengängen; nur 13 Prozent tun dies häufig. Dem entspricht, daß lediglich 17 Prozent eine Kommission für Forschung und Lehre eingerichtet haben (des weiteren sieben eine Ethik- und drei eine Datenschutzkommission).

Zwar pflegen die deutschen Fachgesellschaften vielfältige, zum Teil institutionalisierte Beziehungen zu entsprechenden Einrichtungen im Ausland. Doch üben sie in der Bundesrepublik selbst in hohem Maße wissenschaftspolitische Zurückhaltung gegenüber Öffentlichkeit, staatlichen Stellen und Wissenschaftsorganisationen. So öffnen sie in wichtigen Bereichen, die sie beeinflussen oder eigenverantwortlich gestalten könnten, Freiräume für externe Interventionen, etwa durch die Administration, worüber dann freilich geklagt wird.

Trotz dieser Defizite hat die Studie die große Bedeutung der Fachgesellschaften für die Organisation von Wissenschaft in Deutschland belegt. Nachdem sie die schwierige Integration entsprechender ostdeutscher Einrichtungen und einzelner Wissenschaftler weitgehend bewältigt haben, wäre es nun aber an der Zeit, auf der Grundlage des Berichts des Wissenschaftsrates konkrete Schritte einzuleiten, um die aufgezeigten Schwachstellen zu beseitigen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1993, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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