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Wissenschaftsvermittlung in Großbritannien - Brücken zwischen den zwei Kulturen

Public understanding of science ist im Heimatland solch großer Gelehrter wie Isaac Newton, Charles Darwin und Stephen Hawking groß im Kommen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden durch vielfältige Aktionen wie spezielle Lehrgänge, Ausstellungen und eine jährlich stattfindende Woche der Wissenschaft einer breiten Öffentlichkeit nähergebracht.

Wenn landauf, landab im Vereinigten Königreich Großbritannien Schulklassen durch Forschungslabors gescheucht werden, wenn in Experimentalvorträgen Wolken aus Puddingpulver explodieren und Plastikflaschen als Raketen an die Decke schießen, wenn der bekannte Evolutionstheoretiker Richard Dawkins dazu aufruft, Wissenschaft nicht (nur) ihrer Nützlichkeit wegen, sondern auch als Kulturgut zu schätzen, wenn die Kolumnen der seriösen Tageszeitungen (broadsheets) überquellen von den Aufsätzen Fünfzigjähriger, die darüber sinnieren, wie man Fünfzehnjährige dazu motivieren könne, in der Oberstufe naturwissenschaftliche Fächer zu belegen – dann ist dort ohne Zweifel die jährlich wiederkehrende "National Science Week" ausgebrochen.

Unter dem offiziellen Titel "SET 96" (für science, engineering, technology) fand dieses britische Spektakel vom 16. bis 24. März diesen Jahres zum dritten Mal statt. Aber auf den mitunter karnevalistisch anmutenden Überschwang folgte unweigerlich die Aschermittwochsstimmung: Spätestens als die Schüler in ihre Klassen zurückgekehrt, die Dias im Archiv verstaut und die Explosionsspuren beseitigt waren, mußte man sich fragen, ob zuviel Spaß bei der Sache nicht schädlich sei; denn die Botschaft "Wissenschaft ist eine Mordsgaudi" kann sich leicht in ein Eigentor verwandeln, sobald die so überredeten Jugendlichen herausfinden, daß auch geistige Anstrengung dazugehört.

All dies, der alljährliche Überschwang ebenso wie die nachfolgende Besinnung, gehört zu einem gesellschaftlichen Diskurs, der in Deutschland in vergleichbarer Art nicht existiert, sich in Großbritannien aber fest etabliert hat und sich historisch (mindestens) bis zum Erscheinen des klassischen Essays des Physikers, Staatsbeamten und Schriftstellers Sir Charles Percy Snow "Die zwei Kulturen" im Jahre 1959 zurückverfolgen läßt. Während Snows naiver Glaube an die Segenswirkung der westlichen Industriewirtschaft für die gesamte Welt spätestens seit dem ersten Bericht an den Club of Rome ("Die Grenzen des Wachstums", DVA, 1972) obsolet geworden ist, wird sein Diktum von den zwei Kulturen – Geisteswissenschaften und schöne Künste versus Naturwissenschaften und Ingenieurswesen – noch immer häufig zitiert und neu interpretiert.

Wie die "National Science Week" gehen viele der heutigen Aktivitäten zur Förderung des öffentlichen Ansehens der Naturwissenschaften – und damit auch des Dialogs zwischen den zwei Kulturen, dessen Fehlen Snow beklagte – auf Entwicklungen in den späten achtziger Jahren zurück. Wesentlichen Anteil daran hatte das "Committee on the Public Understanding of Science" (COPUS), das 1985 gemeinsam von den drei altehrwürdigen Wissenschaftsorganisationen des Königreichs, der Royal Society (1660 als erste naturwissenschaftliche Gesellschaft überhaupt gegründet), der Royal Institution (1799) und der British Association (1831), eingerichtet wurde.

Bei dem Versuch, den Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit herzustellen, geht COPUS auf beide Seiten zu. Forscher werden ermutigt, ihre Arbeit allgemeinverständlich darzustellen. Sie erhalten zum Beispiel über media fellowships die Gelegenheit, mehrere Wochen in einer Zeitungsredaktion oder bei einem Hörfunk- oder Fernsehsender mitzuarbeiten, um so ein Gespür für die Wissenschaftsvermittlung zu bekommen. Dem Laienpublikum erleichtert COPUS den Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen durch Mitwirken bei der Verleihung von Auszeichnungen für populärwissenschaftliche Bücher, durch Zusammenarbeit mit Museen sowie durch Vermitteln von Referenten für öffentliche Veranstaltungen.

Ein weiteres Ereignis, das die Diskussion der vergangenen Jahre geprägt hat, war die Veröffentlichung einer Studie über die wissenschaftlichen Kenntnisse und Interessen von Nichtwissenschaftlern, die im Sommer 1988 parallel in Großbritannien und den USA ausgeführt wurde ("Nature", Band 340, Seiten 11 bis 14, 1989). In beiden Ländern wurden jeweils mehr als 2000 repräsentativ ausgewählte Erwachsene befragt. (Alle im folgenden genannten Zahlen beziehen sich auf Großbritannien.)

Die 23 Fragen nach der Richtigkeit von Aussagen wie "Heiße Luft steigt auf" oder "Die ersten Menschen lebten zur selben Zeit wie die Dinosaurier" förderten in beiden Ländern teilweise überraschende Unkenntnis zutage. Einige der offenbar weit verbreiteten Wissenslücken waren insofern schockierend, als sie jahrhundertealte und leicht vermittelbare Erkenntnisse betrafen (30 Prozent votierten dafür, daß die Sonne sich um die Erde dreht) oder schwierigere, aber für aktuelle gesundheitspolitische Entscheidungen und Verhaltensregeln wichtige Zusammenhänge ansprachen (71 Prozent war unbekannt, daß Antibiotika nicht gegen Viren helfen).

Die Diskussion um diese Studie umfaßte verschiedene Aspekte. Politisch betrachtet ist es gewiß undenkbar, demokratische Entscheidungsfindung über Themen wie AIDS zu betreiben, wenn vier Fünftel des Wahlvolkes nicht einmal wissen, daß ein Virus sich grundlegend von einem Bakterium unterscheidet. Auch ist es schwierig, die Ausgabe immenser Geldmittel für Forschungsvorhaben zu rechtfertigen, von denen die Mehrheit der Steuerzahler kein Sterbenswörtchen versteht.

Der zweite, vielleicht noch überraschendere Befund (und Diskussionspunkt) der Studie war die Diskrepanz zwischen dem geringen Kenntnisstand einerseits und dem großen Interesse an wissenschaftlichen Themen andererseits. Wurden die Interviewten mit – erfundenen – Schlagzeilen konfrontiert und gefragt, ob sie den zugehörigen Artikel vermutlich lesen würden oder nicht, so zeigten sie ein erstaunlich großes Interesse für wissenschaftsnahe Themen; zum Beispiel gaben 63 Prozent von ihnen an, daß sie einen Artikel mit der Überschrift "New Clue in Hunt for AIDS Cure" ganz sicher lesen würden.

Diese Diskrepanz zwischen vorhandenem Interesse und fehlendem Wissen wies eindeutig auf ein Vermittlungsproblem hin, auf die unzureichende Befriedigung einer bestehenden Nachfrage. Verstärkte Bemühungen zur Wissenschaftskommunikation erschienen demnach nicht nur wünschenswert, sondern auch erfolgversprechend. Insbesondere in Großbritannien gab die Veröffentlichung dieser Studie Anlaß zu verstärkten Aktivitäten zur Förderung der Wissenschaftsvermittlung. (In den USA war die Wirkung offenbar nicht so groß.)

Eine der ersten Auswirkungen war die Aufstockung des "Science Book Prize" mittels einer auf zehn Jahre angelegten Förderung durch das Chemie-Unternehmen Rhone-Poulenc im Jahre 1990. Der "Rhone-Poulenc Science Book Prize" ist seitdem mit 20000 Pfund dotiert und entspricht damit dem angesehensten literarischen Preis in Großbritannien, dem "Booker Prize". Aus je einer Auswahl-liste werden jedes Jahr das beste Wissenschaftssachbuch für Erwachsene sowie das beste für Kinder unter 14 Jahren ausgewählt. (Für 1996 wurden kürzlich Arno Karlen für das Buch "Plague's Progress: A Social History of Man and Disease" sowie Chris Maynard für das Kinderbuch "The World of Weather" ausgezeichnet.)

Im Jahre 1991 folgte die Einrichtung eines Aufbaustudiengangs science communication am Imperial College in London. Diese Hochschule (die eine vollständige und hochangesehene Universität ist) profitierte dabei von einer bereits bestehenden Kooperation mit dem direkt benachbarten Science Museum, das in seiner Qualität etwa dem Deutschen Museum in München vergleichbar ist.

Studierende der Wissenschaftsvermittlung – die normalerweise bereits ein naturwissenschaftliches Studium abgeschlossen haben – müssen am Imperial College entweder ein Jahr in Voll- oder zwei Jahre in Teilzeit lernen, um den Grad eines Master (MSc) erwerben zu können. Zwölf verschiedene Fächer werden teils als Pflichtkurse verlangt, teils als Wahlmöglichkeit angeboten.

Im Jahre 1993 gab die Regierung ein Weißbuch zur Wissenschaft heraus ("White Paper on Science – Realizing Our Potential"), das unter anderem auch die Forschungsräte (research councils) dazu verpflichtet, public understanding in ihrer jeweiligen Disziplin so gut wie möglich zu fördern. Im übrigen ist das Verhältnis zwischen Regierung und Wissenschaftlern traditionell schlecht. Das Weißbuch, für das der damalige Wissenschaftsminister William Waldegrave verantwortlich zeichnete, wurde von Forschern vor allem wegen seiner Betonung der wirtschaftlich nützlichen Wissenschaft und Vernachlässigung der Grundlagenforschung kritisiert. Sein Ministerium ist bezeichnenderweise inzwischen aufgelöst worden – die Wissenschaft ist jetzt nur noch durch einen Staatssekretär im Handels- und Industrieministerium vertreten.

Im März 1994 fand erstmals die "National Science Week" statt, organisiert von einer kleinen Arbeitsgemeinschaft innerhalb der British Association in sechs Monaten Vorbereitungszeit und mit 100000 Pfund staatlichem Zuschuß. Ob es ein einmaliges oder ein regelmäßiges Ereignis werden sollte, war damals noch offen, doch der Erfolg machte SET zur jährlich wiederholten Institution.

Zwei Monate danach startete der "Guardian" als erste Tageszeitung eine Wissenschafts-Beilage, die sich unter dem Titel "OnLine" allerdings zu zwei Dritteln mit Computer- und Internet-Themen und nur zu einem Drittel mit Forschung befaßt. Die Diskussion um Wohl und Wehe der Wissenschaftsvermittlung findet in "OnLine" zwar meist auf der letzten oder vorletzten Seite direkt vor Beginn des Anzeigenteils statt, tobt dort aber (in der Rubrik "OffLine") um so heftiger. Hier erläutert zum Beispiel Ian Stewart (Spektrum-Lesern durch die "Mathematischen Unterhaltungen" bekannt), warum er einen wöchentlichen Fernsehauftritt abgelehnt hat (der Sender wollte ihn als Lotterie-Ratgeber anheuern); hier streiten sich die bekannten Buchautoren Paul Davies und Steven Rose darüber, ob Gott im naturwissenschaftlichen Weltbild Platz hat oder nicht, und hier debattieren diejenigen Fachleute, die im Science Museum, im Imperial College und in der National Science Week tätig sind, den Sinn und Unsinn dieser ganzen Bewegung.

Im vergangenen Jahr erhielt auch die Universität Oxford einen Lehrstuhl für Wissenschaftsvermittlung. Die mit Spenden des Microsoft-Managers Charles Simonyi eingerichtete Professur wurde zunächst – sozusagen ehrenhalber – an Richard Dawkins verliehen, der vor allem durch seine populärwissenschaftlichen Bücher zur Evolutionstheorie (wie zum Beispiel "Das egoistische Gen" und "Der blinde Uhrmacher") bekannt wurde. Wenn Dawkins an seine Stelle als reader (C3-Professor) im Institut für Zoologie zurückkehrt, soll der Lehrstuhl wie eine normale Professur weitergeführt werden.

Ob all diese neugegründeten Institutionen, die neu geflochtene Infrastruktur der Wissenschaftsvermittlung, etwas bewirken, läßt sich noch nicht beurteilen. Es wäre durchaus möglich, daß trotz aller Anstrengungen nur der sowieso schon besser informierte Teil der Bevölkerung erreicht wird, so daß zwar vielleicht die Kluft zwischen den "zwei Kulturen" schwindet, der Abstand zwischen modernem Denken einerseits und dem Aberglauben und religiösem Fundamentalismus einer Minderheit andererseits aber eher zunimmt. Eine Wiederholung der Studie von 1988 alle zehn Jahre wäre in jedem Fall aufschlußreich.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 115
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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