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Quantenparadoxien: Zeno und der Quanten-Schnellkochtopf

Einer Paradoxie der Quantenmechanik zufolge sollte sich der Zerfall eines Systems durch bloßes Beobachten aufhalten lassen. Experimente haben dies nun bestätigt - aber auch den umgekehrten Effekt nachgewiesen.


Niemand versteht die Quantenmechanik", hat der berühmte theoretische Physiker Richard Feynman (Nobelpreis 1965) einmal gesagt. Nicht wenige Studenten dürften sich mit diesem Ausspruch des großen Meisters getröstet haben, wenn sie sich mit Folgerungen der Quantentheorie herumschlagen mussten, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen. Zum Glück gibt es einige griffige Merksätze, die bestimmte Paradoxa der Quantenwelt prägnant umreißen. Einer davon lautet: "Ein Kochtopf, den man anschaut, kann nie kochen" (im englischen Original "a watched pot never boils").

Der Ursprung dieses Aperçus liegt in den 1970er Jahren. Damals leiteten Physiker an der Universität von Texas in Austin theoretisch ab, dass ein instabiles Quantensystem – beispielsweise ein radioaktiver Atomkern – am Zerfallen gehindert würde, wenn man nur oft genug hinsähe. Dass die Beobachtung ein Quantensystem beeinflusst, ist freilich eine der Grundaussagen der Anfang des 20. Jahrhunderts von Max Planck, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger begründeten Theorie. Warum sollte also wiederholtes Beobachten nicht auch das Zerfallsverhalten ändern? Die theoretische Vermutung schien so einleuchtend, dass sie mit dem Spruch vom nicht kochenden Wassertopf flugs Eingang in das physikalische Gedankengut fand und auch gleich einen passenden Namen bekam: Quanten-Zeno-Effekt. Pate stand dabei der griechische Philosoph Zeno von Elea, dessen Lehre, dass Bewegung unmöglich sei, weil sich ein Körper zu jedem (hinreichend kurzen) Beobachtungszeitpunkt in Ruhe befände, nicht weniger paradox anmutet.

Nun haben wiederum Physiker an der Universität von Texas die theoretischen Schlussfolgerungen ihrer Vorgänger dem Praxistest unterzogen – und sind zu einem durchaus gemischten Ergebnis gekommen. Einerseits konnten sie erstmals experimentell nachweisen, dass es den Zeno-Effekt tatsächlich gibt. Andererseits jedoch machten die Versuche deutlich, dass auch das Gegenteil zutrifft: Häufige Beobachtung kann den Zerfall genauso gut beschleunigen – und das geschieht sogar viel häufiger als die Verlangsamung.

"Türmende" Atome

Für sein Experiment verwendete das Team um Mark Raizen ultrakalte Atome mit Temperaturen von nur wenigen millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt, die sie in einem so genannten optischen Gitter gefangen hatten. Ein solches Gitter entsteht, wenn man zwei gegenläufige Laserstrahlen so überlagert, dass sich eine stehende Welle bildet. Gibt man kalte Atome in das Gitter, so sammeln sich diese in den Mulden des an ein Wellblech erinnernden Potenzials und bleiben, wenn die Mulden tief genug sind, darin gefangen. Nach den Gesetzen der Quantenmechanik kann ein solches Atom dennoch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus dem Potenzialtrog entkommen, indem es dessen Wand "durchtunnelt".

Beschleunigt man nun die Stehwelle – was aus der Sicht der Atome dem Kippen des "Wellblechpotenzials" gleichkommt –, so erniedrigt sich die Potenzialbarriere auf einer Seite, und das Tunneln in diese Richtung wird erleichtert. Da jedes Atom mit derselben Wahrscheinlichkeit aus seinem Gefängnis entfliehen kann, sollten umso weniger Atome durch die Potenzialbarrieren tunneln, je weniger sich noch in den Mulden befinden. Das bedeutet, dass die Abnahme an noch gefangenen Atomen einer (inversen) Exponentialfunktion gehorcht. Ein solcher exponentieller Zerfall tritt in vielen physikalischen und biologischen Systemen auf.

Schon 1997 hatten Raizen und seine Mitarbeiter allerdings nachgewiesen, dass ganz am Anfang der Beschleunigungsphase die Zahl der gefangenen Atome weniger stark abnimmt, als das Exponentialgesetz erwarten lässt. Dies liegt daran, dass in der Quantenwelt die Hei-senberg?sche Unbestimmtheitsrelation gilt, wonach Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens nie gleichzeitig mit beliebiger Genauigkeit messbar sind. Demnach "weiß" ein soeben beschleunigtes Atom für kurze Zeit nicht, ob es sich noch in der Potenzialmulde befindet oder sie durch Tunneln bereits verlassen hat. Beobachtet man nun das Atom innerhalb dieser "unschlüssigen" Phase, indem man beispielsweise seine Position bestimmt, so beginnt das Spiel von vorne, da eine Messung nach den Gesetzen der Quantenmechanik gleichsam die Karten neu mischt. Das Teilchen wird also bei weiterer Beschleunigung erneut zögern, dem exponentiellen Zerfallsgesetz zu folgen.

Wiederholt man nun die Positionsbestimmung des Atoms in regelmäßigen Abständen, so kommt dieses nie dazu, die Potenzialbarriere "normal" zu durchtunneln: Der Zerfall ist durch die Messungen verlangsamt worden. Genau dies beobachteten die Physiker aus Austin, und bis hierher stimmt ihr Befund mit dem Kochtopf-Merksatz überein.

Doch das änderte sich, als die Forscher die Abstände zwischen den Messungen etwas verlängerten: Anstatt das Tunneln der Atome zu verlangsamen, schienen sie es nun zu beschleunigen – die Abnahme der gefangenen Atome überholte sogar die Exponentialkurve! Aus dem Kochtopf, der nie kocht, war ein Quanten-Schnellkochtopf geworden. Genau dies hatten allerdings bereits letztes Jahr Forscher des Weizmann-Instituts in Rehovot (Israel) vorhergesagt.

Tatsächlich ist dieser "Quanten-Anti-Zeno-Effekt" im Grunde nicht überraschend, hängt er doch gleichfalls mit Abweichungen vom exponentiellen Zerfall zusammen. Auf die anfängliche Phase verlangsamten Tunnelns folgt nämlich zum Ausgleich eine kurzfristige jähe Abnahme der Zahl der noch gefangenen Atome. Beobachtet man die Teilchen gegen Ende dieser Phase und wiederholt den Vorgang, so zwingt man sie, immer wieder den beschleunigten Zerfall zu durchlaufen, anstatt letztendlich in den normalen exponentiellen Abschnitt überzugehen. Deshalb entweichen im Mittel mehr gefangene Atome als ohne Messung. Nun ist der Zerfallsabschnitt, der zum Anti-Zeno-Effekt führt, länger als der für den Zeno-Effekt verantwortliche. Darum sollte der Anti-Zeno-Effekt häufiger auftreten.

Warum wurden die beiden Phänomene nicht schon früher beobachtet – beispielsweise beim radioaktiven Zerfall? Das hat einen einfachen Grund: Der nichtexponentielle Abschnitt der Zerfallskurve beträgt in solchen Systemen weniger als den millionstel Teil einer milliardstel Sekunde und ist damit viel zu kurz für eine vernünftige Messung. In den optischen Gittern der amerikanischen Forscher dagegen dauerte diese Phase knapp eine Mikrosekunde – also eine Milliarde Mal so lang – und war damit problemlos beobachtbar.

Die Studenten der Quantenphysik sind jetzt also um einen Merksatz ärmer. Dafür können sie in der nächsten Prüfung auf die Frage: "Wird der Zerfall eines Quantensystems durch Beobachtung verlangsamt oder beschleunigt?" mit einem klaren "Je nachdem!" antworten. Bei der Begründung werden sie sich allerdings etwas mehr anstrengen müssen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2002, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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