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Zu wenig Leben in den Lebenswissenschaften?

Das menschliche Erbgut wurde mit ungeheurem Aufwand entziffert. Doch sind damit die wirklich wichtigen Ziele der biologischen Forschung erreicht?


Die Insider wussten es, die interessierte Öffentlichkeit konnte es erahnen, aber ein Paukenschlag wurde es trotzdem, als "Nature" und "Science" zeitgleich Mitte Februar das Ergebnis veröffentlichten: Das Erbgut des Menschen ist kartiert! Basenpaar für Basenpaar, Chromosom für Chromosom kann nun jeder, der etwa das "Nature"-Heft Nummer 6822 für den Preis eines einfachen Mittagessens erworben hat, über mehr als dreieinhalb Meter ausgebreitet selbst sehen, wie das menschliche Erbgut aussieht. Was für ein Triumph der Biowissenschaften! Das Datum ist nun genau so gewiss Wissenschaftsgeschichte wie die Entdeckung der Doppelhelix-Struktur der DNA durch James Watson und Francis Crick im Jahre 1953. Jetzt kommt es "nur" noch darauf an, die Botschaft der Gene zu entschlüsseln.

Dass es damit noch nicht ganz so weit ist, geht aus einem "Nebenergebnis" hervor: Die Zahl der Gene im menschlichen Erbgut musste nämlich überraschenderweise von den vorher ziemlich sicher angenommenen 80000 bis 100000 auf lediglich etwa 30000 herunterkorrigiert werden! Was das Verstehen der Gene und ihrer Funktionen jedoch nicht gerade erleichtern wird – bedeutet es doch, dass diese weitaus geringere Zahl dafür umso komplexere Wechselwirkungen zwischen den Genen nach sich zieht. Die insbesondere bei Nicht-Genetikern verbreitete, in der Öffentlichkeit wohl auch so "verstandene" Annahme, dass man, wenn die Entschlüsselung vollends gelungen sein wird, jedem Gen auch eine bestimmte Eigenschaft oder Wirkung zuteilen kann, hat sich nach dieser Korrektur als höchst trügerisch, ja unwahrscheinlich erwiesen.

Aber diese Problematik wird die Genforschung schon meistern. Dafür sollen nicht zuletzt die massiven Finanzspritzen sorgen, mit deren Hilfe auch deutsche Genforscher international gut im Rennen bleiben können, wie die jüngst genehmigten 870 Millionen Mark der Bundesregierung. Warum eigentlich dieser Aufwand? Die Frage taucht unweigerlich immer dann auf, wenn es ums Geld geht – um viel Geld!

Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene


Mit "Life Science live", einer der Großveranstaltungen im diesjährigen "Jahr der Lebenswissenschaften", ist die moderne Genforschung daher angetreten, sich selbst, ihren Bedarf und ihre Vorgehensweise zu rechtfertigen. Das hat sie, diese scheinbar neue Version der Biologie, die sich plötzlich überall "auf Deutsch" präsentiert, auch bitter nötig. Ist sie doch in den Verruf gekommen, gerade dorthin bis ins letzte Detail vorzudringen, wo man sich am wenigsten hineinschauen lassen möchte: ins eigene Erbgut! Da fehlt bloß, dass "versicherungs" eingefügt wird zwischen "Lebens-" und "-wissenschaft". Denn an den Genen wird sich erkennen lassen, welche Zukunft man hat und mit welchem Ende man rechnen muss. Lebenswissenschaft zum besseren Verständnis des Sterbens also? Oder zur Diskriminierung?!

Vermutlich werden wir bald der Gen-Karte direkt entnehmen können, an welchen Sequenzen sich "der Mensch" von seinen nächsten Verwandten, den Schimpansen, unterscheidet. Dann wissen wir (endlich?), was uns zum Menschen macht! Oder zum "Weißen", weil auch das den Genen zu entnehmen sein wird. Oder zum Genie, zum Mittelmäßigen oder zum Untauglichen für die Welt des 21. Jahrhunderts! Sollen solche (Er-)Kenntnisse überhaupt angestrebt werden?

An derartigen Problemen formieren sich die Gegner der Genforschung zu massivem Widerstand. Je weniger sie darüber wissen, was Sache und Stand der Forschung ist, desto stärker wird ihr Schulterschluss mit anderen Nichtwissern. Und umso größer wird ihr politischer Druck werden, auch wenn er den Fortschritt der Wissenschaft nicht aufhalten kann und für die Gesellschaft zum Nachteil gerät. Auf die positiven Ergebnisse der Forschung werden die Gegner allerdings später sicherlich nicht verzichten wollen. Aber dieses "später" existiert jetzt noch nicht! Finanziert werden muss in der Gegenwart, um in der Zukunft Früchte ernten zu können. Warum ist das nur so schwer zu verstehen? Warum muss immer gleich das Schlimmste angenommen werden? Im wirklichen Leben bedienen wir uns doch höchst freimütig der Segnungen von Wissenschaft und Technik! Kaum jemand verzichtet aus Prinzip und Überzeugung darauf.

Müssen wir also das neue Wissen nur besser vermitteln? Über Aktionen wie "Life Science live" etwa? Dass sich bei Biologen, die nicht in der Genforschung tätig sind, die Begeisterung, hierbei mitzuwirken, sehr in Grenzen hält, erstaunt. Oder auch nicht. Sind die anderen Zweige der Biologie bloß neidisch auf das öffentliche Interesse und die Förderung, die der voll-quantitativen Erfassung des menschlichen Erbgutes zuteil werden?

Für die Öffentlichkeit wäre eine solche interne Konkurrenz belanglos oder lächerlich; für die Lebenswissenschaften selbst aber nur nachteilig. Deshalb kann und darf es auch darum nicht gehen! Es geht um anderes. Es geht um "das Leben" in den Lebenswissenschaften. Davon verspürt auch eine wohlgesonnene Öffentlichkeit in den Tiefen der Genforschung so gut wie nichts mehr.

Schraubig gewundene, durch Treppenstufen miteinander verbundene Moleküle lassen sich nur schwer mit dem Leben selbst identifizieren. Eher werden sie als bedrohlich empfunden, weil das, was darin festgeschrieben sein soll, kein Lebewesen, keine Pflanze, kein Tier, keinen Menschen aus Fleisch und Blut abbildet. Und schon gar nicht die großartige Vielfalt des Lebens. Was soll ein Nicht-Genetiker davon halten, dass sich Menschen und Schimpansen zu fast 99 Prozent in ihren Genen gleichen? Gelebt wird von und mit dem einem Prozent Unterschied, meint man! Oder mit dem Bruchteil eines Promilles, das jeden Menschen zum unwiederholbaren Einzelwesen, zum Individuum macht. Das Leben lebt anders als in Gensequenzen, wenn Schmetterlinge vorübergleiten, Vögel singen und Blumen erblühen.

Was ist von der Biodiversitäts-Konvention geblieben?


Dieses Leben in seiner ganzen Fülle zu erfassen, zu ordnen, zu verstehen und für die nachkommenden Generationen zu erschließen und zu erhalten, war die Biologie einstens angetreten. Vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten brach sie auf zum großen, damals schon globalen Unternehmen "Biodiversität". Biologen reisten in die fernsten Winkel der Erde, um unter schwierigsten Bedingungen nach den Schätzen des Lebens zu suchen. Damals konnte die Öffentlichkeit noch staunen über die Wunder der Natur! Was Charles Darwin mit seiner Entdeckung der Evolutionsmechanismen auf eine solide Basis gestellt hatte, wurde zum schlagenden Herz der Biowissenschaften. Und wuchs und gedieh, bis zwei Weltkriege die Blüte unterbrachen und weithin zum Verdorren brachten.

Erst die Umweltkrisen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zur Rückbesinnung auf die Notwendigkeit, das Leben und sein Wirken im Naturhaushalt besser zu verstehen. Das war auch die Zeit, in der Konrad Lorenz und die Vergleichende Verhaltensforschung das Staunen zurückholten und Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein für das Leben auf der Erde wieder wachsen ließen. Bis es im "Erdgipfel von Rio" 1992 den Höhepunkt erreichte. Von nun an galt es als vordringlichstes Ziel und als Verpflichtung für die Staatengemeinschaft der Erde, die Biodiversität zu erfassen und für die Zukunft nachhaltig zu sichern. Was ist davon, was ist von der "Biodiversitäts-Konvention" noch nicht einmal ein volles Jahrzehnt nach Rio übrig geblieben? Die großen Forschungsgelder fließen in ganz andere Bereiche: In die Bereiche der Nanowelten im Kleinsten und in die Datenfluten für die Welt- und Klimamodelle! Globaler Wandel wurde plötzlich so überaus wichtig, als ob Wandel etwas Neues und nicht die Natur der Natur wäre!

Auf der Strecke bleibt das, was einmal "Ökologie" war und als gute Wissenschaft und nicht als Ideologie hätte betrieben werden können. Zum Wohle der Menschheit. Auf der Strecke blieb auch die Biodiversitätsforschung, wohl weil sie sich zu sehr, zu konkret, mit dem Leben und seinem Überleben befassen wollte. Der Soziobiologe Edward O. Wilson hatte es in seinem großen Werk über die Vielfalt des Lebens 1992 so treffend formuliert: "Entzückt über das ständige Auftauchen neuer Technologien und durch die großzügige Bereitstellung von Mitteln für die medizinische Forschung unterstützt, haben die Biologen einen schmalen Sektor der Front eingehend untersucht. Jetzt ist es an der Zeit, das Blickfeld zu erweitern, das große Unternehmen Linnés fortzuführen und die Erfassung der Biosphäre zum Abschluss zu bringen. Die Erweiterung des Blickfeldes ist vor allem deshalb dringlich, weil dem Studium der Biodiversität im Unterschied zu den übrigen Wissenschaften eine zeitliche Grenze gesetzt ist."

Diese "zeitliche Grenze" gerät mehr und mehr zum Wettlauf mit der Zeit, weil wir, gerade auch wir in Deutschland, weit eher bereit waren, Milliardenbeträge für das Vollpumpen industriemaschinengleich "betriebener" Rinder mit Futtermitteln aus den Tropen aufzuwenden als für die Erfassung der Vielfalt des Lebens einzusetzen. Für dieses Futter wurde Biodiversität in beispiellosem Tempo vernichtet, bevor sie untersucht werden konnte. Und Tiermehl aus dieser so betriebenen Überflussproduktion hat man fast zum Perpetuum mobile des Recyclings gemacht, um eben diese Rinder mit neuen Milliarden wieder zu töten und zu "entsorgen"! Manches, vielleicht das meiste von der gegenwärtigen Agrarkrise, wäre uns erspart geblieben, hätten die biologische und die ökologische Forschung die Mittel bekommen, die in der Agrarwirtschaft lediglich vergeudet worden sind. Dann wäre auch die moderne Genforschung anders eingebunden in eine umfassende Lebenswissenschaft voller Leben.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2001, Seite 103
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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