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Zurück zur Natur

S-Schichten, Komponenten lebender Zellen, bieten Nanotechnologen ein weites Spielfeld, zweidimensionale, funktionale Strukturen zu schaffen.


Die Natur nötigte dem Menschen zu allen Zeiten Respekt ab, und das nicht nur im Großen: Zellen, die kleinsten Einheiten aller Lebensformen, produzieren strukturbildende und lebenserhaltende Stoffe, Energie und vieles mehr in einem Maße, wie es keine Fabrik vermag. Deshalb versuchen Wissenschaftler der neuen Forschungsrichtung "Molekulare Nanotechnologie", natürliche Elemente des Zellgeschehens in technische Zusammenhänge zu übertragen.

Vor allem der selbstorganisierte Aufbau von Systemen aus häufig einfachen Grundeinheiten weckt das Interesse. Eine solche bottom-up-Strategie bildet das Gegenstück zu den top-down-Strukturierungsverfahren etwa in der Mikroelektronik. Als Werkzeuge stehen die durch Evolution optimierten biologischen Moleküle oder deren chemisch oder gentechnisch erzeugten Varianten zur Verfügung.

Mit einem Paradebeispiel beschäftigen wir uns bereits seit einigen Jahren: den S-Schichten. Diese zählen zu den häufigsten Oberflächenstrukturen der Zellhüllen von Bakterien und Archaea (früher Archaebakterien), den beiden zellkernlosen Reichen der Organismen. Die im Englischen surface layer genannten Membranen sind nur ein Molekül dick und bestehen aus regelmäßig angeordneten Struktureinheiten, bilden also praktisch ein zweidimensionales Kristallgitter aus (nicht zu verwechseln mit der Cytoplasmamembran, die unmittelbar das Zellplasma umschließt).

Derzeit kennen Biologen kein einfacheres Prinzip als das der S-Schichten, um ein Lebewesen von seiner Umgebung abzugrenzen. Jeweils nur eine Sorte von Proteinen oder Glykoproteinen (Eiweißmolekülen mit gebundenen Kohlenhydratketten) kommen in einer solchen Membran vor. Mit einer relativen Molekülmasse von 40000 bis 200000 sind diese Bausteine in ihrer Größe bereits Enzymen oder Komponenten des Blutplasmas vergleichbar. Ungefähr 500000 davon bilden die S-Schicht bei einer ausgewachsenen Bakterienzelle.

Weil sich diese etwa alle halbe Stunde durch Teilung vermehrt, läßt sich leicht überschlagen, daß ungefähr 500 Proteine beziehungsweise Glykoproteine pro Sekunde in der wachsenden Zelle synthetisiert, an die Oberfläche befördert und in das vorhandene Gitter eingebaut werden müssen, um Lücken zu schließen. Zum Abschluß ordnet sich die Schicht in vielen Bereichen noch einmal um, bis ein Zustand minimaler freier Energie erreicht ist. Diese Rekristallisation erfolgt selbstorganisiert, also anhand innerer Prinzipien, nicht aufgrund zusätzlicher Informationen oder Hilfsstrukturen.

Hochauflösende Elektronenmikroskopie in Verbindung mit digitaler Bildverarbeitung offenbart verschiedene Grundtypen von S-Schicht-Gittern: schräge, quadratische und hexagonale. Eine Elementarzelle, also die Grundeinheit des Gitters, die sich periodisch im Abstand weniger Nanometer (millionstel Millimeter) wiederholt, besteht je nach Typ aus einer, zwei, drei, vier oder sechs identischen Untereinheiten. Trotz dieser Beschränkungen ergibt sich eine Vielfalt an Möglichkeiten, den morphologischen Aufbau wie auch die chemische Zusammensetzung zu variieren.

In der Natur überleben nur jene Organismen, die an die jeweiligen Umweltbedingungen am besten angepaßt sind. Welchen Vorteil also bietet ein die Zelle lückenlos bedeckendes Gitter, das auch noch etwa 10 bis 15 Prozent des gesamten Zellproteins in Anspruch nimmt?

Antworten gibt es viele, noch ist das meiste Theorie. Manche S-Schichten bilden Siebe mit zwei bis acht Nanometer großen, sehr einheitlich geformten Poren – maximal drei verschiedene Porentypen kommen in einem Gitter vor. Es gibt Hinweise, daß diese Strukturen als Molekülsiebe am kontrollierten Stoffaustausch der Zellen beteiligt sind und vielleicht auch als Ionenfallen fungieren. Des weiteren könnten sich funktionelle Moleküle wie Enzyme an die Protein- oder Glykoprotein-Matrix anlagern, etwa um bestimmte Substanzen aus der Umgebung zu erkennen. S-Schichten vermitteln möglicherweise auch das Anhaften von Zellen an Oberflächen, beispielsweise von Milchsäurebakterien an das Darmepithel.

Fest steht, daß S-Schichten bei den Archaea die Zellform bestimmen und den Teilungsprozeß unterstützen. Einigen krankheitserregenden Bakterien helfen diese Zellwandkomponenten, sich im Wirtsorganismus zu erhalten und zu vermehren.

Dieses so erfolgreiche Beispiel von Selbstorganisation inspirierte unser Team, die gewonnenen Kenntnisse in technische Zusammenhänge zu übertragen. In den letzten Jahren entstanden drei Anwendungen von S-Schichten: Ultrafiltrationsmembranen, molekulare Steckbretter und Stabilisatoren für Lipidfilme und Liposomen. Im folgenden nennen wir dafür jeweils ein Beispiel, das für eine Vielzahl von Varianten steht, deren Aufzählung den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.

Derzeit übliche Ultrafiltrationsmembranen, normalerweise aus Polymerlösungen hergestellt, sind von schwammartiger Struktur, dementsprechend unterscheiden sich die Poren weit stärker nach Größe und Gestalt als die der S-Schichten. Es lag also nahe, als erstes eine Anwendung in der Filtrationstechnik zu erproben. Um die durchschnittlich einige Quadratmikrometer großen Zellgitter auf eine technisch nutzbare Größe zu bringen, haben wir ein Verfahren entwickelt, das bereits vollautomatisch abläuft. Als Träger dienen Mikrofiltrationsmembranen mit 0,5 bis 0,2 Mikrometern (Tausendstel Millimetern) Porengröße. Darauf werden S-Schicht-Fragmente unter Druck aus einer Suspension abgeschieden (siehe auch den Kasten auf Seite 95). Sie binden sich aufgrund chemischer Reaktionen an die Oberfläche oder haften, indem sie teilweise in die rauhe Membranoberfläche eindringen. Anschließend vernetzen wir die Fragmente untereinander; die Resultate sind hinsichtlich ihrer mechanischen Festigkeit und chemischen Widerstandsfähigkeit Nylonmembranen vergleichbar.

Mit solchen Prototypen gelang es sogar, Mischungen von Molekülen zu fraktionieren, die sich hinsichtlich Größe und Gestalt kaum unterscheiden. Erste kommerzielle Anwendungen gibt es seit 1995: Reinigung und Aufarbeitung pharmazeutischer Produkte. Das Potential dieser Technik ist kaum überschaubar, denn durch chemische Modifikation der Moleküle des S-Schicht-Gitters, genauer gesagt der räumlich genau positionierten reaktiven Gruppen der Moleküle auf der Oberfläche und im Porenbereich, lassen sich beispielsweise hydrophile (wasseranziehende) Membranen herstellen, die elektrisch geladene Substanzen abtrennen, oder hydrophobe (wasserabstoßende) für fettlösliche Moleküle.

Ein Schritt weiter in Richtung molekularer Nanotechnik geht der Versuch, diese Zellwandkomponenten sozusagen als molekulare Steckbretter zu nutzen: Funktionelle Moleküle wie Enzyme oder Antikörper lassen sich auf der kristallinen Matrix präziser als auf konventionellen Trägerstrukturen aus synthetischen Polymeren fixieren.

Eine typische Anwendung sind Biosensoren etwa zum Nachweis von Glukose im Blut. Geeignete Enzyme, in vorbestimmter Weise an die S-Schicht gebunden, reagieren mit dem Zucker und setzen dabei Elektronen frei. Eine Metallschicht dient als Elektrode und leitet die Ladungsträger zu einem Amperometer ab. Störende Bestandteile des Blutserums – um im Beispiel zu bleiben – lassen sich mit den beschriebenen Ultrafiltrationsmembranen fernhalten.

Auf denen haben wir auch schon monoklonale Antikörper fixiert, die ein ganz bestimmtes Molekül erkennen und binden, und damit Teststreifen zur Schnelldiagnostik von Allergien und zur Konzentrationsbestimmung thrombolytischer Substanzen realisiert und klinisch erprobt. Der Vorteil dieser Technik: An den bislang verwendeten porösen Polymerstrukturen werden Erkennungsmoleküle wie die Antikörper nur locker, beispielsweise durch elektrostatische Anziehung, gebunden und lösen sich leicht ab; bei der von uns entwickelten Technik ist die Bindung kovalent, also deutlich stärker; die Fähigkeit zur spezifischen Erkennung ist dementsprechend größer.

Dieses Prinzip des molekularen Steckbretts ermöglicht sogar den Brückenschlag zur Nanoelektronik: Vor kurzem gelang es uns, S-Schicht-Gitter auf Siliciumwafern zu rekristallisieren und dann als Matrizen für die Abscheidung metallischer oder halbleitender Punktgitter zu nutzen. Derartige Raster könnten interessante physikalische Eigenschaften haben, die sie beispielsweise für Speicherzellen und Schalter im Nanometermaßstab oder für Komponenten der Nichtlinearen Optik auszeichnen. Der Vorteil einer solchen Ehe von Organik und Anorganik liegt in den damit erreichbaren Dimensionen: Gegenwärtig lassen sich derartige Raster nur auf sehr kleinen Flächen von etwa hundert Nanometern Kantenlänge abscheiden, mit S-Schichten kommen schließlich auch makroskopische Dimensionen in Reichweite.

Das dritte Anwendungsgebiet für S-Schichten ergab sich bei der Erforschung der Zellhüllen von Archaea. Sie bestehen vielfach nur aus einer S-Schicht und einer darunterliegenden Lipidmembran. Auch diese entsteht durch spontane Selbstorganisation von Einzelmolekülen, zum Beispiel Phospholipiden oder Etherlipiden: Weil diese Stoffe einen hydrophilen und hydrophoben Teil aufweisen, haben sie im wässrigen Milieu das Bestreben, sich mit den wasserabstoßenden Enden zusammenzulagern und Membranen zu formen. Dieses in der Natur universell verbreitete Organisationsprinzip wird durch Einlagerung funktioneller Moleküle ergänzt, die beispielsweise Nährstoffe in die Zelle und Stoffwechselprodukte hinausschleusen, die Signale befördern oder Photosynthese ermöglichen – die Bandbreite ist schier unerschöpflich.

Versuche, diese hochspezialisierten Funktionen zu nutzen, scheiterten vielfach daran, daß Lipidmembranen nicht stabil genug sind, um sich großflächig über poröse Träger spannen zu lassen. Vor kurzem ist unserem Team aber der "Nachbau" der Archaea-Zellhüllen gelungen: S-Schichten rekristallisierten auf Phospholipid-Doppel- und Tetraetherlipid-Monoschichten und förderten damit deren mechanische und thermische Stabilität. Fluidität und lokale Ordnung des Lipidfilmes paßten sich mosaikartig der Periodizität des porösen S-Schicht-Gitters an; wir sprechen deshalb von semifluiden Membranen.

Diese Technik ist auch insofern bemerkenswert, als membran-gebundene funktionelle Moleküle letztlich die theoretische Grenze molekularer Maschinen darstellen. S-Schichten bieten unseres Erachtens einige Optionen für künftige Technologien und dürften noch mancherlei Überraschung bereithalten


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1999, Seite 95
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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