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Zweidimensionale Gleichgewichtsformen durch Ionenbeschuß

Die Zerstäubung von Oberflächen durch Bombardement mit Ionen ist ein technisch wichtiges Verfahren, dessen atomare Mechanismen aber noch weitgehend ungeklärt sind. Untersuchungen an Platinkristallen mit dem Rastertunnelmikroskop zeigen, warum die Ionen je nach Temperatur tiefe Krater in der Oberfläche erzeugen oder sie sauber Schicht um Schicht abtragen.

Der Beschuß mit Ionen ruft vielfältige Effekte an Festkörpern hervor. Der wohl bekannteste ist die Abtragung oder Erosion der Oberfläche, der als Zerstäubung (englisch sputtering) bezeichnet wird und seit langem ein wichtiges Standardverfahren der Technik ist. Anwendungsgebiete sind:

- die Reinigung von Oberflächen,

- die chemische Analyse von Oberflächen durch Massenspektroskopie der zerstäubten Teilchen (Sekundärionen-Massenspektroskopie oder SIMS),

- das Aufrauhen medizinischer Implantate, damit sie sich besser mit menschlichem Gewebe verbinden,

- die gezielte Strukturierung von Oberflächen (etwa zur Herstellung von optischen Gittern oder von Mikrostrukturen für die Halbleitertechnologie) und

- die Verbesserung der Filmqualität beim Wachstum dünner Schichten.

Trotz dieser beachtlichen Vielfalt wichtiger Anwendungen sind die zugrundeliegenden atomaren Prozesse noch weitgehend unbekannt. Offen ist insbesondere, wie aus den primär erzeugten atomaren Fehlstellen größere Defektstrukturen entstehen, durch die sich die Oberflächengestalt verändert. Deshalb haben wir am Institut für Grenzflächenforschung und Vakuumphysik (IGV) des Forschungszentrums Jülich mit dem Rastertunnelmikroskop untersucht, wie der Beschuß mit Argon-Ionen dicht gepackte Oberflächen von Platin-Einkristallen verändert.


Adatom- und Leerstelleninseln

Ein auf den Festkörper treffendes Edelgas-Ion gibt seine Energie von mehreren 100 Elektronenvolt durch Stöße mit Offenflächenatomen schnell ab. Einige erhalten dabei so viel kinetische Energie, daß sie davonfliegen und einzelne Leerstellen in der obersten Atomlage des Kristalls zurücklassen. Andere werden zwar aus ihrer Schicht herausgeschubst, können sich aber nicht gänzlich vom Festkörper lösen, sondern bleiben au-ßen auf der Oberfläche haften: Sie werden zu sogenannten Adatomen, die mit dem hinterlassenen Loch ein Paar bilden (Bild 1).

Bei einer Serie von Zerstäubungs-Experimenten hielten wir Intensität und Dauer des Ionenbeschusses konstant und variierten lediglich die Temperatur. Wie wir feststellten, sind schon bei verhältnismäßig niedrigen Temperaturen (350 Kelvin oder 77 Grad Celsius) sowohl Adatome als auch Leerstellen in der Oberflächenlage so beweglich, daß sie unabhängig voneinander von Gitterplatz zu Gitterplatz diffundieren können. Treffen sich dabei zwei Leerstellen oder Adatome, so haften sie aneinander. An diese Keime lagern sich dann weitere Defekte des jeweils gleichen Typs an und bilden regelrechte Inseln, die auf der rastertunnelmikroskopischen Aufnahme als dunkle, verzweigte Strukturen (Leerstellen) oder helle Flecken (Adatome) erscheinen (Bild 2 links).

Durch die Beobachtung von Adatominseln auf der ursprünglich glatten Oberfläche konnten wir erstmals experimentell beweisen, daß bei dem Beschuß tatsächlich nicht nur Leerstellen, sondern auch Adatome erzeugt werden. Der Befund zeigt zudem, daß aus der Oberfläche herausgestoßene Atome nur mit geringer Wahrscheinlichkeit wieder in eines der Löcher fallen. Für diese Rekombination gibt es offensichtlich eine energetische Barriere, die bei 350 Kelvin noch nicht überwunden werden kann.

Wieso aber haben die Leerstelleninseln eine so seltsam krakenartige Form mit in Zufallsrichtungen wuchernden Armen? Computersimulationen zeigen, daß solche Strukturen immer dann entstehen, wenn sich Leerstellen zwar an eine vorhandene Insel anlagern, aber nicht an deren Rand entlangwandern können.

Bei einer Zerstäubungstemperatur von 550 Kelvin (277 Grad Celsius) ergibt sich bereits eine deutlich andere Oberflächengestalt (Bild 2 Mitte). Weil die Adatome nun über genügend thermische Energie verfügen, um die Rekombinationsbarriere zu überwinden, vereinigen sie sich mit Leerstellen, bevor sie aufeinandertreffen und Keime bilden können. Unter diesen Umständen lagern sich nur noch die von weggeschleuderten Atomen hinterlassenen Leerstellen zu Inseln zusammen.

Diese Inseln sind außerdem nicht mehr verzweigt, sondern vieleckig. Die Randstufen bestehen aus dicht gepackten Kanten, die jeweils im Winkel von 60 Grad zueinander stehen (Bild 2 Mitte). Die an zufälligen Orten angelagerten Leerstellen können nun nämlich am Inselrand entlangwandern, bis sie einen günstigen Einbauplatz gefunden haben, so daß ähnlich wie beim Wachstum eines Kristalls eine charakteristische Facettierung entsteht. Allerdings sind die Längen der einzelnen Seiten nicht gleich, sondern variieren mehr oder weniger zufällig.

Noch wesentlich regelmäßigere Inseln liefert schließlich der Ionenbeschuß bei 700 Kelvin (Bild 2 rechts). Die Polygone sind nun Sechsecke mit jeweils um 120 Grad gegeneinander geneigten kurzen und langen Seiten, die wir als A- und B-Kanten bezeichnet haben. Bemerkenswerterweise ist diese Form für alle Inseln nahezu identisch und insbesondere unabhängig von deren Größe und Entstehungsgeschichte. Zudem ändert sie sich nicht mehr, wenn man die Probe nach dem Beschuß längere Zeit auf 760 Kelvin erwärmt, ist also zeitunabhängig. Andererseits entsteht die Form auch, wenn man eine bei 350 Kelvin zerstäubte Oberfläche anschließend zum sogenannten Ausheilen für mindestens zwei Minuten auf 760 Kelvin aufheizt.

Aufgrund dessen kann die hexagonale Inselform nicht durch Prozesse beim Wachstum bestimmt sein; vielmehr muß sie einen lokalen thermodynamischen Gleichgewichtszustand minimaler Energie repräsentieren. Ungünstig für die Energiebilanz sind vor allem die relativ schlecht gebundenen Atome an den Randstufen. Die Insel nimmt deshalb diejenige Form an, in der die gesamte freie Stufenenergie am geringsten ist. Offenbar ist diese Bedingung bei hexagonal dicht gepackten Stufenkanten erfüllt. Aus der größeren Länge der B-Kanten kann man zugleich schließen, daß diese gegenüber den A-Kanten energetisch etwas im Vorteil sein müssen.

Da die Leerstellen- und Adatominseln nur eine Atomlage tief beziehungsweise hoch sind, handelt es sich – soweit dies bei einem Festkörper überhaupt möglich ist – um zweidimensionale Gebilde. Für zweidimensionale Gleichgewichtsformen hat aber der deutsche Kristallograph G. Wulff schon 1901 postuliert, daß das Verhältnis der Abstände von den Stufen zum Mittelpunkt der Insel gleich dem der freien Stufenkantenenergien sei. Somit ergibt sich für die A- und B-Stu-fen ein Energieverhältnis von 0,87. Damit konnten wir die freien Energien der Stufenkanten erstmals experimentell bestimmen.

Bei Adatominseln ist aus Strukturgründen die Lage der A- und B-Kanten gerade vertauscht, so daß ihre Form genau spiegelbildlich zu der von Leerstelleninseln sein sollte (Bild 3 oben). Auch dies ließ sich mit dem Rastertunnelmikroskop dokumentieren (Bild 3 unten).


Ein zweidimensionales Adatomgas

Als nächstes fragten wir uns, über welchen atomaren Mechanismus sich die Gleichgewichtsform oberhalb von 700 Kelvin so schnell einstellt. Die Antwort lieferte ein weiterer Effekt, den wir bei derart hohen Temperaturen auf der dichtgepackten Platinoberfläche feststellten. Er tritt dann auf, wenn der Ionenbeschuß so lange fortgesetzt wird, daß nicht nur Atome aus der obersten Schicht geschlagen, sondern viele Atomlagen abgetragen werden.

Bei 625 Kelvin entstehen dabei tiefe Krater (Bild 4 links). Hat eine Leerstelleninsel nämlich eine gewisse Größe erreicht, werden auch auf ihrem Boden Leerstellen erzeugt, die sich ihrerseits zu einer Insel zusammenlagern, allerdings eine Atomlage tiefer (dieser Effekt kann bereits in Bild 2 Mitte beobachtet werden). Weil auf deren Boden nun erneut Leerstellen entstehen und so weiter, bildet sich eine ineinandergestapelte Fol-ge von jeweils tiefergelegenen Inseln – eben ein Krater.

Bei Temperaturen oberhalb von 700 Kelvin besteht die Oberfläche dagegen immer aus höchstens zwei Atomlagen, und die Leerstelleninseln sind nur ei-ne Atomlage tief (Bild 4 rechts). Offensichtlich wird die Bildung solcher Inseln auf dem Boden bereits bestehender effektiv unterdrückt, so daß sie nur in die Breite wachsen können, bis schließlich eine komplette Lage entfernt ist; erst dann setzt sich der ganze Prozeß eine Atomlage tiefer fort.

Daß diese Schicht-für-Schicht-Abtragung genau bei der gleichen Temperatur einsetzt, bei der die Inseln ihre Gleichgewichtsform annehmen, läßt auf einen gemeinsamen Mechanismus schließen. Von den in Frage kommenden atomaren Vorgängen kann jedoch nur einer beide Effekte erklären: die Bildung eines zweidimensionalen Adatomgases im Inneren der Leerstelleninseln durch Verdampfen von Stufenatomen. Deren thermische Energie wird ab etwa 700 Kelvin offenbar so groß, daß sie sich leicht vom Inselrand ablösen, als Adatome innerhalb der Leerstelleninsel ziellos umherwandern und gegebenenfalls an einer anderen Stelle des Inselrandes wieder andocken. Dabei bilden sie praktisch ein zweidimensionales Gas.

Dieses Gas ermöglicht einen schnellen und effizienten Stofftransport, der die Einstellung der energetisch günstigsten Form erlaubt. Zugleich füllen die umherschwirrenden Adatome die beim Beschuß entstehenden Leerstellen auf dem Inselboden, bevor diese sich ihrerseits zu Inseln zusammenlagern können.

Unsere Forschungen haben so wichtige Mosaiksteine zu einem neuen, präziseren Bild der Mikrostrukturierung von Oberflächen durch Ionenbeschuß geliefert. Als nächstes gilt es herauszufinden, inwieweit sich diese Erkenntnisse auch dazu nutzen lassen, die anfangs genannten technischen Verfahren zu verbessern.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1994, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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