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Zweiter europäischer Mathematikkongreß

Nur mühsam breitet sich der europäische Gedanke in der Mathematikszene aus. Die offiziellen Institutionen sind dabei wenig hilfreich. Die prekäre Situation der osteuropäischen Wissenschaftler überschattete die zweite Tagung in einer auf vierjährigen Turnus angelegten Serie, die diesmal in Budapest stattfand.

Mathematik ist ihrem Wesen nach international; man muß nicht eigens begründen, warum sich die Zunft alle vier Jahre zum Weltkongreß trifft. Auch für die Existenz eines nationalen Verbandes, der Deutschen Mathematikervereinigung (DMV), und ihrer alljährlichen Tagung gibt es gute Gründe: Vor allem der Nachwuchs braucht ein Forum, dem er sich ohne großen Reiseaufwand und in seiner Muttersprache präsentieren kann. Aber wozu muß es noch eine Ebene dazwischen geben? Haben etwa die europäischen Mathematiker ein spezifisch europäisches Thema?

Bis vor wenigen Jahren schien das nicht so zu sein. Erst 1990 wurde nach zwölfjährigen Vorüberlegungen die European Mathematical Society (EMS) gegründet, der inzwischen alle mathematischen Gesellschaften des Kontinents sowie etwa 2000 Einzelpersonen angehören. Der European Mathematical Congress, der in der letzten Juliwoche dieses Jahres in Budapest stattfand, ist – nach einer Tagung in Paris 1992 – erst die zweite Veranstaltung dieser Art.

Es stellt sich heraus, daß es sehr wohl ein europäisches Thema der Mathematik gibt: die Situation des Fachs in Osteuropa. Die Folgen der jahrzehntelangen Absperrung gegenüber westlichen Zeitschriften und Diskussionspartnern sind noch lange nicht überwunden; die neue Reisefreiheit hatte als unmittelbare Folge, daß die Stars der Zunft, die man auch im Westen kannte, scharenweise – vor allem in die USA – abwanderten, und mit den kommunistischen Herrschern ist auch deren Respekt für die reine Wissenschaft verschwunden. Einem Wissenschaftler aus Bulgarien oder der ehemaligen Sowjetunion, der zu Hause geblieben ist, geht es also in wesentlichen Punkten schlechter als vor der Wende: Er hat immer noch keine Literatur zur Verfügung, seine großen Lehrer sind unerreichbar geworden, eine Reise in den Westen kann er nicht bezahlen und von seinem inflationsruinierten Gehalt in der Regel nicht leben.

In dieser Situation ist eine Tagung in einem günstig gelegenen und relativ billigen Land wie Ungarn das Äußerste an Internationalität, das ein osteuropäischer Wissenschaftler oder sein Institut finanzieren kann. So kamen etwa 80 Prozent der Teilnehmer aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks; Russisch als allgemeine Tagungssprache wäre der großen Mehrheit wahrscheinlich leichter gefallen als das allgemein übliche Englisch. Die Beteiligung Westeuropas war dagegen ausgesprochen kläglich. Offensichtlich ist Europa auch in dieser Beziehung noch lange nicht zusammengewachsen.

Unter den sieben Podiumsdiskussionen der Tagung war denn auch eine dem Thema "Mathematik und Osteuropa" gewidmet. Der russische Podiumsteilnehmer führte in seinem Eröffnungsbeitrag bewegte Klage über die geringe Kapazität der Datenleitungen zwischen Moskau und der Provinz und bat den reichen Westen dringend um Abhilfe. Auf den ersten Blick wirkte das so, als wollten die Neuankömmlinge unbedingt das allerneueste Spielzeug haben, über das der Rest der Welt auch erst seit wenigen Jahren verfügt. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich der Wunsch jedoch als geradezu bescheiden: Es wäre um ein Vielfaches teurer, wollte man auch nur wenige Bibliotheken mit dem Bestand an aktuellen Büchern und Zeitschriften auf Papier versorgen, der für eine westliche Institutsbibliothek selbstverständlich ist. Das Internet ist nicht nur zum Standard-Kommunikationsmedium der Mathematiker avanciert (Spektrum der Wissenschaft, März 1995, Seite 39), es hat sich auch fast unentbehrlich gemacht.

Ein von der dänischen Regierung finanziertes Projekt namens EmNET/NIS (Euromath Network and Services for the New Independent States) hat sich zum Ziel gesetzt, den Mathematikern in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion beim Aufbau von Computer- und Netzdiensten Anschubhilfe zu leisten. Das bezieht sich insbesondere auf die drei Hauptanwendungsgebiete Dokumenterstellung, Literaturbeschaffung und elektronische Post; denn die Computerfreaks, die im Westen ihren bleistiftgewohnten Kollegen bei deren ersten Versuchen hilfreich die Maus führten, gibt es in Osteuropa auch nicht. An dem Projekt, das zunächst bis Mitte 1998 geplant ist, wirken auch Gruppen aus Canterbury und Helsinki mit (nähere Informationen unter http://www.emc.dk/primer).

Ansonsten gibt es keine regierungsoffiziellen Programme zur Förderung der osteuropäischen Mathematik. Offensichtlich mangelt es auf der höheren Ebene beider Seiten an engagierten und hinreichend organisierten Ansprechpartnern. Die Wissenschaftler selbst sind sich dagegen durchaus im klaren, daß ihren osteuropäischen Kollegen durch die Abwanderung ihrer Spitzenkräfte der Abfall in die Mittelmäßigkeit droht. Gerade die Deutschen der Nachkriegsgeneration erinnern sich noch lebhaft daran, wie mühsam sie zu ihren von den Nazis verjagten Meistern nach Amerika pilgern mußten.

Deswegen kann die Lösung des Problems nicht in erster Linie darin bestehen, daß westliche Wissenschaftler ihre Ost-Kollegen zu gemeinsamen Forschungsprojekten einladen; es gilt, an deren Heimatorten der materiellen Not und der daraus resultierenden Resignation entgegenzuwirken: An der Mathematischen Fakultät der traditionsreichen Moskauer Lomonossow-Universität gibt es inzwischen weniger Studienanfänger als Professoren.

Nach Lage der Dinge haben Einzelinitiativen im Moment die größten Erfolgschancen. Die Euler-Stiftung der DMV zur Unterstützung osteuropäischer Nachwuchskräfte speist sich zur Gänze aus privaten Spenden. Ihr Initiator, der Heidelberger Mathematiker Willi Jäger, führte in der Podiumsdiskussion eine Fülle weiterer Möglichkeiten – zum Beispiel zur Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft – auf, erwähnte jedoch auch, daß man auf der Gegenseite vielfach mangelnde Kooperationsbereitschaft oder die Geheimniskrämerei aus den schlechten alten Zeiten antreffe; häufig verschweige ein Professor aus Moskau oder Charkow seinen Kollegen sorgfältig, wie er das Westgeld heranschafft. Die früher sehr intensiven Kontakte ostdeutscher Wissenschaftler zu ihren östlichen Kollegen hätten dagegen, so Jäger, erheblich nachgelassen: verständlich als eine Art Trotzreaktion – endlich nicht mehr auf den großen Bruder hören müssen –, aber wenig hilfreich.

Eigentlich wäre die geeignete Organisation, um derartige Aktivitäten zu koordinieren, die Europäische Union. Im Prinzip hat sie sich dazu auch bereit erklärt; im Detail gab sie auf der Tagung allerdings ein äußerst schwaches Bild ab. Mehrere Teilnehmer berichteten, die EU sei zwar bereit, Tagungen zu unterstützen, stelle jedoch Bedingungen an die Infrastruktur der Tagungsstätten, die de facto nur von sehr großen und entsprechend teuren westeuropäischen Städten zu erfüllen seien. Zu der Tagung in Budapest hat die Europäische Kommission den Veranstaltern zwar ihre volle Unterstützung zugesichert, aber noch einen Monat nach Ende der Tagung nicht über einen – Jahre zuvor beantragten – Zuschuß entschieden. Die nächste Tagung dieser Art wird in vier Jahren in Barcelona stattfinden.

Dem offiziellen Vertreter der EU in Ungarn, dem Deutschen Hans Beck, fiel bei seinem Grußwort zur Eröffnung nichts Besseres ein als der – mit unverhohlenem Stolz verkündete – dumme Standardspruch, er habe bereits in der Schule die ihm verhaßte Mathematik abgewählt und sei ihr in seiner weiteren Karriere erfolgreich aus dem Wege gegangen. Das ist um so peinlicher, als diese Geringschätzung der Mathematik außerhalb Deutschlands nicht üblich ist, im Gegenteil: Die Förderung der Mathematik in der Schule, insbesondere durch Mathematik-Olympiaden und ähnliche Veranstaltungen, ist Anlaß zu berechtigtem Stolz für die osteuropäischen Länder und wesentlicher Grund dafür, daß sie trotz Isolation und Mangel an modernem Rechengerät im internationalen Vergleich eine starke Stellung behaupten konnten.

Die bis vor kurzem eher betuliche EMS ist im wesentlichen durch die Initiative eines einzigen Menschen zu neuer Aktivität erweckt worden: Jean-Pierre Bourguignon vom französischen Institut des Hautes Études Scientifiques (IHES). Auf der Tagung verlieh er namens der EMS 10 Forschungspreise an herausragende europäische Jungmathematiker. Es gibt Sommerschulen, Datenbanken zur Literaturrecherche, eine elektronische Bibliothek und eine neue Form der Konferenz, die nach dem französischen Enzyklopädisten Denis Diderot (1713 bis 1784) benannt ist: Wenn dieses Heft ausgeliefert wird, hat am 24. und 25. September eine Konferenz über die Mathematik des Finanzwesens in London, Moskau und Zürich zugleich stattgefunden (Näheres unter http://www.emis.de) und dabei schließt moderne Breitbandkommunikation die drei Tagungsorte virtuell zu einem zusammen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1996, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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