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Mathematik: Zwilling der Unendlichkeit.

Eine Biographie der Zahl Null. Berlin Verlag, Berlin 2000. 272 Seiten, DM 39,80.


Vor ungefähr 5000 Jahren ritzte ein unbekannter sumerischer Schreiber zur Unterscheidung von Zahlen wie 12 und 102 zwei schräge Pfeile in seine Tontafel. Aus diesem Zeichen für das Nichts hat sich in den folgenden drei Jahrtausenden unsere Zahl Null entwickelt.

Zwei Neuerscheinungen beschäftigen sich mit dieser Geschichte. Eine verfasste Robert Kaplan, Mathematikprofessor an der Harvard-Universität, die andere stammt aus der Feder des studierten Mathematikers und Journalisten Charles Seife, USA-Korrespondent des "New Scientist".

Die beiden Bücher ähneln sich – wenig verwunderlich, denn das Thema ist nicht sehr umfangreich. Die Autoren berichten, dass der sumerische Doppelpfeil noch keine Zahl war, sondern nur ein mathematisches Zeichen, vergleichbar dem heutigen Komma in Dezimalbrüchen. Der Doppelpfeil erleichterte den sumerischen und später den babylonischen Schreibern das Lesen der Zahlen. Rechnen konnten sie nicht mit ihm. Zur kalkulierbaren Zahl wurde die Null erst im Indien des 7. Jahrhundert unserer Zeit. Dort diskutierten Mathematiker schon in den ersten schriftlichen Erwähnungen die Frage, ob durch null geteilt werden könne – und wenn ja, mit welchem Ergebnis.

Mit dem arabischen Islam gelangte die Null um die Jahrtausendwende nach Spanien und verbreitete sich mit dem aufstrebenden Bankwesen Italiens über das restliche Europa. An der Schwelle zur Neuzeit entwickelten Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz die Methode zur Berechnung von Bewegungen und Veränderungen, die als Differenzialrechnung zum zentralen Element der modernen Mathematik geworden ist, und klärten bei dieser Gelegenheit nachhaltig, wie man sich der Division durch null annähern darf.

Robert Kaplan beschreibt alle wichtigen Stationen dieser Geschichte, von dem mathematischen Ausdruck für das Nichts bis zum Ursprung aller Zahlen. Ihm gelingt mehr als nur die Geschichte der Null. Durch einfache Beispielrechnungen und geradlinige Problembeschreibungen zeichnet er gleichzeitig die Entwicklung der Mathematik nach, bis sie ihre heutige Form als Sprache der Naturgesetze erreicht. Einen Schlusspunkt setzt er im Jahr 1923, in dem John von Neumann zeigte, wie sich alle natürlichen Zahlen nacheinander – und damit alle Zahlen überhaupt – aus der Null erzeugen lassen.

Ein Manko hat diese Herangehensweise. Aus der Mathematik kommend und in der Mathematik bleibend wendet sich der Autor ausschließlich an Leser, die nicht unbedingt über reichliche Vorkenntnisse verfügen, aber schon von sich aus neugierig auf das Thema sind. Der Text selbst erzeugt nämlich kaum zusätzliche Spannung, und die ausführlichen Schilderungen wirken manchmal etwas zu langatmig.

Interessant sind eher die Abschweifungen des Autors, etwa wenn er in einer Grafik die Geschichte der Bezeichnungen für das mathematische Nichts, Null und Zero, darstellt. Erstere ist die verkürzte Form des lateinischen nulla figura, was so viel heißt wie: Hier steht nichts. Die Bezeichnung Zero stammt aus dem arabischen Wort .sifr für "leer", das sich im Deutschen zu den unterschiedlichen Begriffen Ziffer und Chiffre entwickelte.

Charles Seife schlägt einen anderen Weg ein: den der Kulturwissenschaft. Er erzählt viele kleine, spannende Anekdoten aus der jeweils beschriebenen Epoche. Die theologischen, politischen und wissenschaftlichen Wirren der Renaissance des 16. Jahrhunderts, die Schicksale Giordano Brunos und Galileo Galileis sind zwar nicht gerade unbekannt. Aber der Autor hält sich mit diesen Geschichten nicht übermäßig auf, sondern nutzt sie als Anknüpfungspunkte für seine Themen.

Die Früchte dieses Vorgehens erntet er gegen Ende seines Buches, als er problemlos tiefer in Mathematik und Physik vorstoßen kann als Robert Kaplan. Die Einführung in die projektive Geometrie gelingt ihm ebenso wie eine allgemein verständliche und spannend lesbare Beschreibung der Riemannschen Zahlen-kugel. Der Leser merkt kaum, dass er sich im Bereich der höheren Mathematik bewegt.

Auch für den Laien kann die Mathematik unterhaltsam und spannend sein.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2000, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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