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Interview: Zwischen Big Brother und dem Marktplatz von Athen

Interview mit Siegmar Mosdorf, dem Vorsitzenden der Enquete-Kommission "Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ des Deutschen Bundestages

Herr Mosdorf, im Januar dieses Jahres hat der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission "Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" eingesetzt, deren Vorsitz Sie nun innehaben. Warum betrachtet das Parlament die neuen Medien als so bedeutsam, daß es ihnen eine eigene Kommission widmet? Welche Aufgaben hat sie? Die neuen Medien bewirken einen grundlegenden Veränderungsprozeß, der Wirtschaft, Arbeitswelt, Kultur, Politik und Gesellschaft gleichermaßen tangiert und uns alle ins Informationszeitalter führt. Vielen von uns ist das noch gar nicht bewußt, und viele von uns sind von der raschen Entwicklung einfach überfordert. Die Politik hat die Aufgabe, diesen Prozeß aktiv mitzugestalten, und die Enquete-Kommission wird eben jene politischen Konsequenzen, die sich aus den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ergeben, analysieren und Vorschläge für parlamentarische Initiativen erarbeiten. Die Kommission besteht aus elf Abgeordneten und elf Sachverständigen. Wir haben es geschafft, daß darunter Mitglieder aus vier Bereichen vertreten sind: aus der Wirtschaft, aus den Gewerkschaften, aus der Wissenschaft und aus dem Bereich des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es fließt in der Kommission also sehr viel Sachverstand aus unterschiedlichen Blickrichtungen zusammen. Nun befinden wir uns allerdings schon längst in diesem Wandlungsprozeß. Kommt die Kommission nicht ein wenig zu spät? Und kann sie denn überhaupt angesichts des rasanten Tempos, mit dem die neuen Medien in unser Leben eingreifen, etwas bewirken? Politische Entscheidungsprozesse vollziehen sich aller Erfahrung nach eher schwerfällig. Wird die Kommission dabei nicht zu einem bloßen Begleitprogramm? Eben weil wir schon mitten in der Entwicklung zur Informations- und Kommunikationsgesellschaft sind, haben wir die Initiative relativ früh angeregt, nämlich zu Beginn des letzten Jahres. Weil die Diskussion im Parlament dann etwas mühsam verlief, ist es erst in diesem Jahr zur Einrichtung der Kommission gekommen. Damit uns jedoch die Entwicklung nicht tatsächlich davonläuft, unterscheidet sich die Vorgehensweise dieses Mal von der einer klassischen Enquete-Kommission. Diese tagt in der Regel zwei bis drei Jahre inkognito und legt zum Abschluß einen Bericht vor, der nur Experten erreicht und dann im Bücherregal landet. Diese Kommission dagegen will eine doppelte Aufgabe erfüllen. Zum einen beschäftigen wir uns mit langfristigen Projekten, die wir die "Projekte 21" genannt haben: Wie wird im 21. Jahrhundert die Wirtschaft der Informationsgesellschaft aussehen, wie die Technik, wie Parlament, Staat und Verwaltung, wie die Arbeit, die Gesellschaft, die Bildung? Diese ganz grundsätzlichen Fragen sollen in langfristigen Forschungsaufträgen untersucht werden. Zum anderen wollen wir jedoch gleichzeitig aktuell Stellung nehmen und Zwischenberichte erarbeiten. Denn schließlich müssen ja schon jetzt und laufend Entscheidungen getroffen werden. Derzeit beteiligt sich die Enquete-Kommission an der Diskussion um eine Definition dessen, was Rundfunk ist. Der Hintergrund dafür ist die Frage, ob die neuen Medien noch unter dem Begriff Rundfunk – also der Massenkommunikation – zu fassen sind, denn dann lägen sie in der Zuständigkeit der Bundesländer, oder ob sie der Individualkommunikation zuzuordnen sind. Ist das Interesse von Nordrhein-Westfalen an den elektronischen Medien anders als etwa das Brandenburgs? Soll deshalb jedes Land seine eigenen Rahmenbedingungen schaffen? Macht eine solche regionale Bürokratie auf dem Wege zum "globalen Dorf" überhaupt Sinn? Ich persönlich bin der Meinung, daß der klassische Rundfunk eine Angelegenheit der Länder ist, denn im Rundfunk spiegeln sich Werte wie Kultur und Identität. Und das muß so bleiben. Die entscheidende Aufgabe aber ist nun zu definieren, was nicht mehr Rundfunk ist. Ich bin absolut dagegen, daß Online-Dienste, das elektronische Kaufhaus oder Telebanking durch das Nadelöhr der Länderstrukturen gezogen werden, weil solche Abstimmungsprozesse zu mühselig wären. Die Folge davon wäre, daß wir Arbeitsplätze verlieren beziehungsweise daß neue Arbeitsplätze nicht bei uns, sondern in anderen Staaten entstehen. Als private Rundfunk- und Fernsehsender entstanden, hat man auch darüber diskutiert, was wünschenswert sei. Hier ging es zunächst nur um nationale Regelungen. Inzwischen sind die Privaten längst etabliert. Mit dem Internet nun haben wir neue, weltweite Kommunikationswege. Wir können uns lange darüber unterhalten, was wir für politisch wünschenswert halten, aber nun werden die Möglichkeiten einzugreifen doch ungleich stärker behindert, weil die Dienste weit über nationalstaatliche Kompetenzen hinausgehen. Sind die Entwicklungen, die sich mit Multimedia abzeichnen, überhaupt noch steuerbar? Deshalb müssen wir internationale Regelungen finden. Dennoch ist vorerst ein nationales Medienordnungsrecht notwendig, um überhaupt eine Plattform zu haben, auf der man international verhandeln kann, um zum Beispiel eine internationale Medienrechtskonvention zu vereinbaren. Probleme wie mit dem Urheberrecht und globalen Netzen sind nicht mehr allein nationalstaatlich zu lösen. Wie läßt sich Mißbrauch verhindern? Wenn ein Autor einen Text verfaßt hat, über den dann Millionen von Menschen über das Internet verfügen können, ohne daß der Verfasser honoriert würde, sind Copyright-Fragen berührt. Das gilt ebenso für Bilder, Musik oder Videos. Seit zwei Jahren arbeitet das Justizministerium an einer Novelle zum Urheberrecht, denn dies ist ein ganz entscheidender Wettbewerbsfaktor, der schließlich über die rein individuellen Interessen hinausgeht. Denken wir nur an die Auseinandersetzung zwischen den USA und China über die Nutzung geistigen Eigentums. Zwar ist ein Handelskrieg wegen chinesischer Raubkopien von Software und CDs vorerst abgewendet, aber der Fall macht deutlich, daß das Urheberrecht heute ökonomisch so wichtig ist wie komparative Kostenvorteile. Diese Fragen müssen international abgeklärt werden. Die einzige Organisation, die dafür zuständig wäre, nämlich die World Intellectual Property Organization der UN (WIPO) in Genf, hat noch keine Instrumente für klare Regelungen. Es gibt keine international abgeschlossenen Verträge. Auch sind bisher nur 67 Staaten Mitglied der WIPO. Daß hier elementare ökonomische Interessen im Vordergrund stehen, erschwert die Basis für Gespräche erheblich. Es müßten einfach alle Staaten bereit sein, Standards zu vereinbaren und auch Sanktionsmechanismen, wie sie in der World Trade Organization verhandelt sind. Recht und Gesetz sind ebenfalls betroffen, wenn, wie wir gesehen haben, etwa Kinderpornographie oder rechtsextremistische Propaganda über das Internet verbreitet werden. Wird nicht besonders hier die Ohnmacht der Politik deutlich? Wie lassen sich in einem so dynamischen und komplexen System die Angebote von Inhalten überschauen oder gar kontrollieren? Wäre eine freiwillige Selbstkontrolle der Anbieter, von der häufig die Rede ist, funktionsfähig? Sicherlich kann man in diesen neuen, komplexen Informations- und Kommunikationssystemen bei rechtlichen oder moralischen Verstößen nicht mit alten staatsanwaltlichen Methoden eingreifen. Das wäre anachronistisch. Wir brauchen in all diesen Fällen nationale und internationale Regelungen. Auf nationaler Ebene müßte man eine Instanz schaffen, die so etwas wie eine Sorgfaltspflicht wahrnimmt. Analog zum Presserat, der ja eine freiwillige Selbstkontrolle ausübt, müßte es auch einen Medienrat geben. Wichtig ist, daß der Verbraucher vor Desinformation und Manipulation geschützt wird und daß zugleich Meinungsvielfalt gewährleistet ist. Technisch sollte dabei eine intelligente Filtersoftware helfen. Die Meinungsvielfalt ist allerdings gefährdet, wenn Medienkonzentration den Mißbrauch durch einseitige Informationsangebote ermöglicht. Der Fall des Unternehmers und zeitweiligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi in Italien ist das prominenteste Beispiel für eine fatale Verflechtung von Macht und Medien. Und längst haben schon multinationale Konzerne ihre Netze um den Globus geschlungen. Wie kann die Unabhängigkeit der Medien garantiert werden? Es finden tatsächlich Fusionen statt, die man sich sehr genau anschauen muß. Schließlich sind Medien keine Ware wie eine Waschmaschine oder ein Auto, sondern eine sehr sensible Dienstleistung. Die Unternehmen, die sich dort engagieren, haben selbstverständlich einen Anspruch auf eine Kapitalrendite, keinesfalls jedoch auf eine Meinungsrendite. Um das Problem der Marktbeherrschung in den Griff zu bekommen, arbeiten wir an einer Regulierungsstruktur. Kartellrechtlich müssen wir in der Lage sein, gegen Konzentrationen vorzugehen. Für die Sender haben wir ein Modell im Kopf, das die Marktanteile als Grenze festsetzt: Wenn ein Sender mehr als 10 Prozent oder ein Medienhaus mehr als 30 Prozent Marktanteil hält, ist diese Grenze erreicht. Das andere Regulativ ist eine selbstbewußte, aufgeklärte und medienkompetente Gesellschaft: Ein kritischer Verbraucher sollte auch selbst einordnen können, ob ein Programm von Bertelsmann, Kirch, ARD oder ZDF stammt. Dabei haben wir in Deutschland noch erhebliche Defizite; aber ich glaube, wir können mit Elan an die Realisierung der Informationsgesellschaft gehen. Im Grunde bin ich optimistisch. Das nationale Kartellrecht und die internationale Medienkonzentration sind aber doch verschiedene Problemebenen, die auch nur entsprechend unterschiedlich zu lösen sind. In Deutschland gibt es das Bundeskartellamt mit zweistufigem Verfahren. Auf europäischer Ebene existiert eine solche Instanz noch nicht. Im Moment diskutieren wir intensiv mit Brüssel, ob wir in Europa nicht ein ähnliches System brauchen. Die Brüsseler wollen das eigentlich nicht, sondern die Entscheidungen der Kommission überlassen. Und dies ist nur das Feld Europa. Weltweit muß die World Trade Organization Spielregeln verabreden. Hier ist noch vieles offen. Die Tatsache, daß die ganze Welt vernetzt ist, hat doch auch Auswirkungen auf die Kulturen der Länder. Und in den Ländern selbst verändern sich Arbeit, Kommunikationsverhalten, Mobilität. Wird sich die Enquete-Kommission auch mit gesellschaftlichen Veränderungen befassen? Die Kommission wird sich auch mit den Fragen des Teleworkings beschäftigen: Was ändert sich an den Siedlungsstrukturen, wenn die Trennung von Arbeit und Wohnen aufgehoben ist? Welche Bedeutung hat dies für die Verkehrssysteme, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Wie entwickeln sich die Gewerkschaften, wie entwickelt sich Interessenvertretung, wie das Management? Und wir betrachten durchaus auch das Problem, wie ein Mensch, der künftig allein zu Hause arbeitet, am Gemeinwohl und an der Gemeinschaft beteiligt wird und teilhaben kann. All dies sind spannende offene Fragen. Der größte Handlungsdruck besteht aber vorerst in den Bereichen Rundfunkbegriff, Medienfusionskontrolle, Datensicherheit, Datenschutz, Urheberrecht sowie Verbraucher- und Jugendschutz. Was die Globalisierung der Kommunikation betrifft, so glaube ich, daß sie eine Kehrseite hat, nämlich die Regionalisierung. Das Bedürfnis der Menschen, eine Verankerung zu haben, eine bodenständige Verwurzelung, wird wachsen. Im negativen Falle begünstigt diese Tendenz Nationalismus, im positiven Fall eine Identität auf regionaler Ebene. Die Globalisierung durch die Medien hat ja schon bewirkt, daß der Systemwettlauf zwischen Ost und West durch einen Wissenswettlauf abgelöst wurde. Wir hatten den Westen, den Ostblock und die Dritte Welt; heute haben wir eine viel transparentere Situation, auch unter dem Aspekt der Demokratie, denn die Perestroika wäre doch ohne Informations- und Kommunikationstechnologien gar nicht möglich gewesen. Ähnliches erleben wir nun in Diktaturen, wo die Menschen zu Tausenden auf die Straßen gehen, weil sie besser informiert sind. Die Bedeutung der neuen Medien für die Demokratie ist, wie jetzt schon das Internet zeigt, immens. Wir befinden uns an einer Weggabelung zwischen einer berlusconischen Telekratie und einer der französischen Aufkärung entsprechenden Informationsgesellschaft, zwischen einem "Big Brother", dem Inbegriff der totalen Kontrolle aus George Orwells Roman "1984", und etwas wie dem antiken Athener Marktplatz, dem Forum für die griechische Volksversammlung mit Redefreiheit und Stimmrecht, gewissermaßen der Wiege der Demokratie. Wer den Weg, in den uns Multimedia führt, beeinflussen will, darf nicht strukturkonservativ sein. Wer jetzt nur kulturpessimistisch ist, verliert letztlich den Einfluß auf die Gestaltung der Zukunft und unterliegt der Macht der technologischen Entwicklung. Globale Effekte berühren besonders Wirtschafts- und Arbeitsstrukturen. Durch die Datennetze läßt sich Arbeit heute schon weltweit und rund um die Uhr verteilen. Wird die Güterproduktion künftig nur noch dort stattfinden, wo die Arbeit billig ist, und dann von einer Zentrale aus multimedial koordiniert? In einer grenzenlosen Weltwirtschaft wird es keine nationalen Technologien, keine nationalen Industrien, nicht einmal nationale Volkswirtschaften mehr geben. Der globale Markt ist im kommenden Informationszeitalter eine ganz reale Utopie. Viele haben dies noch gar nicht erkannt. In Deutschland haben wir zwar immer noch die höchsten Exportraten, aber unser Erfolg besteht jetzt vor allem darin, daß wir Investitionsgüter und Infrastrukturen für den industriellen Aufbau in Schwellenländern anbieten; genau dort jedoch entstehen zur Zeit die Fabriken und Infrastrukturen von morgen. Wir sind auf dem Weg zu völlig neuen Unternehmensstrukturen und -kulturen. Der legendäre Sony-Chef Akio Morita nannte es die globale Lokalisierung, und er meinte, daß es künftig keine Megafabriken wie hier bei uns in Wolfsburg oder Ludwigshafen mehr geben werde, sondern transnationale Unternehmen mit einer dezentralen Fertigung und einer zentralen Steuerung. Es macht ökologisch wie auch gesellschaftspolitisch Sinn, dort zu produzieren, wo die Märkte sind, daß das Kapital zur Arbeit und damit zu den Menschen geht und nicht umgekehrt. Diese Veränderungen sind Realität. Die Arbeitsplätze aus dem Produktionssektor, die dadurch in Deutschland gefährdet sind, müssen daher durch neue Produkte und neue Verfahren kompensiert werden. Außerdem muß die internationale Zusammenarbeit intensiviert werden. Besteht nicht die Gefahr, daß die Menschen in Deutschland künftig nur noch Dienstleister sein werden? Es ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten eine reine Dienstleistungsgesellschaft sein. Wir brauchen immer auch eine reale Fertigungsbasis, und deshalb müssen wir die neuen Wettbewerbsbedingungen in unseren Köpfen bewegen und auch um den Faktor Arbeitskosten kämpfen. Wir haben nun allerdings nicht nur eine Kostenkrise, sondern auch eine Innovationskrise. Deutschland braucht mehr kreative Unternehmer. Wenn wir die "Buddenbrooks", den Roman von Thomas Mann über den Niedergang einer Familie, bildhaft zu Rate ziehen wollten, so würden wir feststellen, daß heute eher die Buddenbrooks der dritten Generation bei uns am Werke sind: Die erste Generation waren die Pioniere, die zweite hat das Unternehmen aufgebaut, und die dritte hat das Erreichte verlebt. Wir brauchen aber neue Pioniere. Wenn heute zu den leeren Kassen der öffentlichen Haushalte wie auch der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Unternehmen noch leere Köpfe kämen, hätten wir keine Zukunftschance mehr. Ist es nicht so, daß Pioniergeist derzeit eher in den Schwellenländern herrscht? Dort gehen die Menschen offenbar hellwach an die neuen Aufgaben heran. Haben sie außer den für Unternehmen günstigeren Arbeitskosten inzwischen nicht auch den Vorteil einer offensiveren Haltung gegenüber zu erwartenden Marktaussichten, während wir die Zukunft eher defensiv betrachten? Ich nenne dieses Phänomen in Deutschland gerne das "Gesetz des bremsenden Vorsprungs". Damit meine ich folgendes: Wir waren ökonomisch und technologisch lange vorn, und genau aus diesem Grund haben wir Vorsprünge verloren. Wir sind nicht mehr neugierig genug und kämpfen nicht mehr genug um Arbeitsplätze und Investitionen. In Asien dagegen zeigen die Menschen Selbstbehauptungswillen, wollen nicht mehr von Entwicklungshilfe abhängig sein, sondern aus eigener Kraft den Durchbruch schaffen. Hier vollzieht sich ein Übergang direkt von der Mechanik zur Elektronik. Selbstverständlich gibt es in diesen Ländern immer noch krasse soziale Gegensätze, herrscht zum Beispiel in Indien große Armut. Dennoch haben sich dort Inseln der Innovation entwickelt wie etwa die Stadt Bangalore, wo mehr Software-Ingenieure ausgebildet werden als in Westeuropa. Diese Tendenz läßt sich sehr gut mit dem englischen Begriff leapfrogging, Bockspringen, beschreiben: Wenn die Industrieländer nicht achtgeben, werden die Schwellenländer schnell über sie hinwegspringen. Halten wir uns diese Verlagerung der Weltwirtschaft vor Augen: Die Querschnittstechnologien der Zukunft sind nun einmal die Informations- und Kommunikationstechniken. Eine Einteilung in Klassen neuer Art ist auch in der deutschen Gesellschaft festzustellen: Wer mit den neuen Technologien umzugehen weiß, gewinnt. Was geschieht mit den vielen Menschen, die bei uns Angst vor dem Bildschirm, Angst um ihren Arbeitsplatz haben? Die Spaltung der Gesellschaft in User und Loser ist eines der dringendsten Probleme. Damit nicht nur eine kleine Schicht die Vorteile der elektronischen Systeme nutzen kann, muß breite Medienkompetenz Abhilfe schaffen. Selbst wenn wir zum Beispiel in der beruflichen Qualifikation gut dastehen, gibt es inhaltlich hier doch inzwischen Defizite; teilweise qualifizieren Berufsschullehrer noch für Welten, die es gar nicht mehr gibt. Bezogen auf das gesamte deutsche Bildungssystem ist die Forderung "Schulen ans Netz" mehr als ein Schlagwort. In Kanada verfügen 98 Prozent der Schulen über Computer und einen Internet-Zugang, in Deutschland sind es gegenwärtig zwei Prozent. Auf das im April begonnene Projekt "Schulen ans Netz", das von der Telekom, von Verlagen und dem Bildungs- und Forschungsministerium getragen wird, haben sich bisher immerhin 5700 Schulen beworben. Insgesamt hat Deutschland etwa 40000 Schulen. Wenn allerdings, wie aus Umfragen hervorgeht, nur ein Bruchteil aller Lehrer bereit oder imstande ist, mit Computern umzugehen, dürfte ein enormer Erziehungsauftrag zu erfüllen sein. Also müssen wir den Spieß umdrehen: Die Schüler sollten die Lehrer ausbilden. Ich trete dafür ein, daß Schüler, die mit den neuen Medien sehr viel intensiveren Kontakt haben, die Lehrer qualifizieren; auf beiden Seiten könnte sich auf diese Weise ein angstfreierer Lernprozeß entwickeln. Und nicht nur die Schulen sollen ans Netz. In Deutschland muß eine Grundversorgung für Informations- und Kommunikationsdienstleistungen durch die Telekommunikationswirtschaft, einschließlich der Content Provider, also der Anbieter von Inhalten wie Verlage und Medienhäuser, sichergestellt werden. Schulen, Hochschulen, Museen, Bibliotheken, Krankenhäuser, Rathäuser und zum Beispiel auch Jugendzentren sollten einen Internet-Zugang und Rabatte für die Nutzung bekommen. Das wäre mein Ziel. Was ist in diesem Zusammenhang die Aufgabe der Enquete-Kommission? Wird sie mit einem solchen Anliegen an die Politik, an die Öffentlichkeit herantreten? Ja, genau das ist ihre Aufgabe. Sie soll anregen, Diskussionen anstoßen. Es ist wichtig, einen Bewußtseinswandel in Gang zu setzen, denn wir leben und arbeiten ja heute schon unter anderen Bedingungen als noch vor fünf Jahren. Und die Veränderungen geschehen rasend schnell. Wir durchleben eine technologische und kulturelle Revolution.

Das Gespräch führten Dieter Beste und Marion Kälke.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 42
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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