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1,5-Grad-Ziel: Möglich, aber nicht plausibel

So, wie es jetzt läuft mit dem Klimaschutz, ist das 1,5-Grad-Ziel nicht zu erreichen. Das ist das Ergebnis einer Analyse. Doch das heißt nicht, dass es aufgegeben werden muss.
Luftaufnahme eines Autobahnkreuzes nahe Frankfurt. Irgendwo in Bild ist auch eine Bahnlinie versteckt-

1,5 Grad mehr – an der Marke soll die Erderwärmung gestoppt werden. Bei dieser Temperatur, so die Hoffnung, bleiben uns die meisten der katastrophalen Folgen des Klimawandels erspart. Und: Es ist möglich! Das zeigen Berechnungen und Modelle. Doch eine Gruppe von Klimafachleuten in Hamburg hat nun genauer hingeschaut. Und die Schlussfolgerungen des Teams sind nicht ganz so optimistisch. Dem Ansatz des Exzellenzclusters CLICCS (»Climate, Climatic Change, and Society«) zufolge müssen auch gesellschaftliche Voraussetzungen erfüllt werden. Werden sie aber bislang nicht.

»Derzeit nicht plausibel« sei ein Szenario, in dem die Menschheit die 1,5-Grad-Grenze der Erwärmung einhält und sich bis 2050 nachhaltig aus der Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle befreit. Das ist die Kernaussage des vor Kurzem vorgelegten, umfangreichen Reports von CLICCS. »Das liegt weniger an den technisch-naturwissenschaftlichen Faktoren; die sind weitestgehend da. Es fehlen vor allem die Voraussetzungen und nötigen Entwicklungen in der Gesellschaft«, sagt Anita Engels, Soziologieprofessorin an der Hamburger Universität und eine Sprecherin des Clusters. »Es ist zurzeit nicht realistisch zu erwarten, dass die gesellschaftlichen Bedingungen die nötigen Veränderungen tragen.«

Das Team will seinen »Hamburg Climate Futures Outlook« in Zukunft jährlich aktualisieren, um mögliche Veränderung nachzuzeichnen. Es spürt darin den gesellschaftlichen Bedingungen für eine umfassende – auch technische – Transformation nach. Diese Voraussetzungen entwickeln sich im sozialen Miteinander; dort müssen radikal neue Regeln, Verfahren und Geräte akzeptiert oder sogar gewollt werden.

Die guten und die schlechten Nachrichten

Zehn gesellschaftliche Faktoren hat das Team identifiziert, die die nötigen Veränderungen fördern oder behindern könnten. Sechs davon weisen immerhin in die richtige Richtung, sind aber noch nicht stark genug.

  • der internationale Klimaschutz durch Abkommen und Gipfeltreffen unter Ägide der Vereinten Nationen. Die Zusagen der Staaten unter dem Pariser Abkommen laufen nach der jüngsten Analyse der Organisation Climate Action Tracker auf bestenfalls 2,4 Grad Erderhitzung hinaus;
  • die Klimaklagen: Zwar haben vor Kurzem das Urteil in den Niederlanden gegen Shell sowie der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Aufsehen erregt, aber andere Rechtssysteme müssten nachziehen. Und besonders der US-amerikanische Supreme Court dürfte sich gegen Urteile stemmen;
  • die Gesetzgebung und Regelsetzung durch Staaten, ob nun national oder in Form des Green Deal der Europäischen Union: Hier ist immerhin positiv, dass die USA ins Pariser Abkommen zurückgekehrt sind;
  • Initiativen über nationale Grenzen hinweg wie der europäische Emissionshandel oder die Organisation SBTI, die Firmen dazu bringt, sich Klimaziele im Einklang mit wissenschaftlich verankerten Daten zu geben;
  • das Schaffen von Wissen über Ursachen, Folgen und Lösungen der Klimakrise, zum Beispiel durch den Weltklimarat IPCC;
  • die Divestment-Bewegung, die den Firmen im Fossile-Energien-Sektor die Finanzmittel entziehen will;

Zwei Faktoren hingegen weisen in die falsche Richtung: die Reaktion der Wirtschaftsbetriebe sowie die Konsumgewohnheiten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Und bei zwei weiteren Faktoren lasse sich zurzeit, so das Forschungsteam, die Wirkung anhand des Analyseschemas nicht klären: beim Journalismus sowie einer neuen sozialen Bewegung. Nicht nur die Covidpandemie hat ja zuletzt Massendemonstrationen verhindert. Viele Länder unterdrücken solche Proteste auch.

Eine »tiefe Dekarbonisierung« bis 2050, wie das zu erreichende Ziel im Fachjargon heißt, sei daher zur Zeit eher unrealistisch, so das CLICCS-Team. Der Name des Zukunftsszenarios erinnert daran, dass sowohl Energierohstoffe – chemisch: Kohlenwasserstoffe – wie ihr schädliches Verbrennungsprodukt Kohlendioxid aus dem Alltag verschwinden sollen. Dazu müssten die Emissionen jedes Jahr etwa so stark sinken wie zuletzt während der Coronapandemie – um sieben Prozent, aber ohne vergleichbare Beschränkungen.

Zwischen möglich und erwünscht

Dabei möchte sich das Hamburger Team nicht auf negative Emissionen verlassen: Das sind die in vielen IPCC-Szenarien intensiv genutzten Verfahren, CO2 aus der Atmosphäre zu entnehmen und unterirdisch zu speichern oder auf andere Weise langfristig zu binden. Diese Option möchten die Forscherinnen und Forscher höchstens als »Lückenfüller« zulassen.

Die zehn gesellschaftlichen Treiber auf »Plausibilität« zu untersuchen, ist eine Abkehr von bisherigen Analysen. Sie haben – wie etwa der IPCC oder zuletzt die Wissenschaftsakademie Leopoldina und der Nachhaltigkeitsrat – untersucht, ob und wie es möglich sein könnte, bis 2050 CO2-neutral zu werden und das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten. Der Gegenpol sind normative Forderungen, welche Welt die Bürgerinnen und Bürger verschiedener Staaten in Zukunft bewohnen sollen; Konzepte einer Postwachstumsökonomie zum Beispiel.

Im Spannungsfeld zwischen »möglich« und »erwünscht« landete die Hamburger Arbeitsgruppe beim Kriterium der Plausibilität. »Nicht plausibel« heißt für das Team: Es ist möglich, das Ziel Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, aber beim derzeitigen Stand nicht besonders realistisch. Das CLICCS-Team versteht seine Aussage auch als »Weckruf«, dass die zehn untersuchten gesellschaftlichen Faktoren wachsen und sich vernetzen müssen.

»Es gibt viele tausend Firmen, bei denen der Druck noch gar nicht angekommen ist«Anita Engels

Bei der Analyse nutzte das CLICCS-Team sozialwissenschaftliche Methoden. Es orientierte sich an bewährten Theorien des sozialen Wandels und an der veröffentlichten, begutachteten Fachliteratur über alle zehn gesellschaftlichen Faktoren. Allein das Quellenverzeichnis macht 37 der 157 Seiten der Studie aus.

Pfeile in die falsche Richtung

Das Bild der zehn sozialen Faktoren, das auch die Grafiken im Report spiegeln, stellt sie als Pfeile dar, die auf eine Zielscheibe namens »tiefe Dekarbonisierung« abgeschossen werden. Fünf Fragen stellen die jeweils zuständigen Arbeitsgruppen dann im Bewertungsprozess an die jeweils verfügbaren Informationen. Zum Beispiel, ob der Pfeil auf dem richtigen Kurs ist und ob der Faktor als Treiber des nötigen Wandels wirkt oder ob er die soziale Dynamik untergräbt. Und hat der Fortschritt eines Pfeils Richtung Ziel Effekte auf anderen Gebieten? Unter diesen Punkt fallen etwa Gerichtsurteile, weil sie weit über das Rechtssystem hinaus wirken und Argumentationshilfe für Parlamente, Firmen, Journalismus oder soziale Bewegungen bieten.

»Die Entscheidungen, wie wir die einzelnen Treiber bewerten, sind nach langen Gesprächen und vielen Runden in den zuständigen interdisziplinären Teams gefallen«, sagt Anita Engels. Sie selbst hat sich zum Beispiel mit dem Divestment beschäftigt. Ursprünglich erschienen ihr die Initiativen, den Firmen aus dem Sektor der fossilen Energien die Finanzmittel zu entziehen, durchaus aussichtsreich. Den Eindruck hat ihre eigene Arbeit widerlegt: »Es gibt neben den staatlichen Ölkonzernen, die nicht an der Börse sind, viele tausend Firmen, bei denen der Druck noch gar nicht angekommen ist.«

Bei diesem Faktor hat die Hamburger Analyse einen direkten Berührungspunkt zu einer Arbeit, die Ende 2019 soziale Kipppunkte hin zu einer angemessenen Reaktion auf die Klimakrise beschrieben hat. Unter Kipppunkten versteht die Klimaforschung den Beginn einer nicht zu stoppenden Entwicklung – so als rolle man eine Kugel über einen Bergpass. Bisher wurde das zum Beispiel beim Eis in Grönland diskutiert, das womöglich schon bald einen Punkt erreicht, ab dem es immer weiter abschmilzt, egal wie sich die Emissionen entwickeln. Dieses Konzept auf gesellschaftliche Faktoren anzuwenden, war das Werk von Ilona M. Otto, damals Potsdam-Institut, heute Universität Graz, und einem großen Team. Die Aussage der Kipppunkte-Studie erschien auf den ersten Blick deutlich optimistischer als die Kernbotschaft des »Hamburg Climate Futures Outlook«.

Wie man über Plausibilität schreiben sollte

Divestment war eines der sechs Beispiele sozialer Kipppunkte. Modellstudien zeigten: Weniger als ein Zehntel der Investoren könnten den Finanzmarkt über eine Schwelle treiben. Andere Geldgeber müssen dann mitmachen, um zu vermeiden, dass ihre Anteile wertlos werden. »Es gibt also solche Bereiche, wo disruptive Veränderungen möglich sind«, sagt Otto. »Um etwas zu erreichen, muss man aber gezielt eingreifen, darum steht unsere Studie nicht im Widerspruch zu der Hamburger Analyse. Auch die Forscherin aus Österreich ist überzeugt: »Wenn nichts passiert, ist es nicht plausibel, dass wir ausreichende Raten beim Abbau der Emissionen erreichen.«

Das Wort »plausibel« mit der Verneinung davor hatte vor einigen Jahren auch Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik benutzt. Er forderte in einem Kommentar in »Nature Geoscience«, die Klimaforschung solle ihre Aussagen so formulieren: »Nein, die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten, ist nicht mehr plausibel, solange nicht A, B und C passieren.« Das erlaube Politikern nicht mehr, sich mit dem vermeintlichen Erfolg zu schmücken, es sei »noch möglich«, die Ziele zu erreichen.

Geden ist daher sehr zufrieden mit der Studie aus Hamburg. Zudem habe das Hamburger Team sozusagen eine Tür zu einem Raum aufgestoßen, in den sich andere kaum trauen, weil ihnen jedes Sprechen über ein mögliches Scheitern des 1,5-Grad-Ziels defätistisch erscheint. »Darum war der Raum schlecht ausgeleuchtet und unaufgeräumt«, sagt Geden, »und die Hamburger haben jetzt ein paar Lampen installiert und fangen an, mal Ordnung reinzubringen.«

Für die Mitglieder des CLICCS-Teams selbst hat die eigene Arbeit jedenfalls bestätigt, was viele schon ahnten. »Wenn ich früher gefragt wurde, habe ich immer gesagt, dass ich das Einhalten der 1,5-Grad-Grenze für unrealistisch halte«, sagt Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut, ebenfalls Sprecher von CLICCS. »Aber es war eben ein Bauchgefühl. Jetzt haben wir eine solide wissenschaftliche Grundlage dafür, und darüber bin ich extrem zufrieden.«

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