10 Jahre Fukushima: Als die Welt zitterte
Einst war Fukushima stolz auf seine Früchte. Erdbeeren, Kirschen, Pflaumen und Pfirsiche – sie alle wuchsen prächtig in der grünen Hügellandschaft der Präfektur. Auch vom Reiswein schwärmten Kenner in ganz Japan. Wegen seines feinen Geschmacks, wegen seiner Süße.
Mal gibt die Natur, mal nimmt sie. In Fukushima nahm sie mehr als anderswo, viel mehr. Der Mensch half ihr dabei, auf tragische Weise, ungewollt. Mit Kraftwerken, in denen gespaltene Atomkerne selbst dann noch Wärme erzeugen, wenn die Reaktoren längst abgeschaltet sind.
Als am 11. März 2011 in Japan die Erde bebt, denkt zunächst niemand an Atomkraft. Die Seismografen schlagen so stark aus wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Der Herd des Bebens liegt 70 Kilometer vor der Ostküste der Insel, tief unter dem Meer. Die Pazifische Platte schiebt sich hier unter die Kontinentalplatte, auf der Japan ruht. Etwa einmal pro Jahrtausend entlädt sich an dieser Stelle die Spannung der Erdkruste mit voller Gewalt.
Erdbeben, Tsunami, Kernschmelze
So auch an diesem Freitag, Ortszeit 14.46 Uhr: Der Meeresgrund schnellt plötzlich ein paar Zentimeter nach oben und peitscht dadurch einen Tsunami auf. Eine halbe Stunde nach dem Erdbeben erreichen die Wellen den nächstgelegenen Punkt des Festlands. Laut offiziellen Angaben töten die Wassermassen 15 899 Menschen aus 22 Präfekturen, 2527 gelten auch zehn Jahre später noch als vermisst. Hunderttausende Küstenbewohner verlieren ihre Häuser. 4198 Straßen werden zerstört, 116 Brücken, 45 Deiche, 29 Zugstrecken.
Einen Tag lang schaut die Welt schockiert auf die Vernichtung, dann wandert der Fokus vieler Beobachter. Von Samstag, 12. März 2011, dominiert das Atomkraftwerk Fukushima-Daiichi die Nachrichtensendungen. Die Fernsehbilder zeigen vier verwaschene Quader vor dem Pazifik. In den Mittagsstunden explodiert einer von ihnen spektakulär – der Beginn der nach Tschernobyl größten Nuklearkatastrophe der Menschheitsgeschichte.
Zehn Jahre später wirkt das Erinnern an Fukushima seltsam deplatziert. Die Welt kämpft mit einer globalen Pandemie, die bisher 2,5 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Ein Reaktorunglück ohne vergleichbare Opferzahlen erscheint da wie ein Luxusproblem.
Doch manchmal ist es die Symbolik, die Ereignisse historisch macht. Fukushima war eine Katastrophe, die Gewissheiten erschütterte, die wie wenige andere den menschlichen Hochmut vorführte. Die Deutschland den Atomausstieg brachte. Und die auch die Art und Weise veränderte, wie Fachleute Nuklearkatastrophen beurteilen. Weg von einem rein technokratischen Blick auf die Strahlenfolgen. Hin zu einer Sichtweise, die ganze Schicksale im Blick behält, in diesem Fall die hunderttausender Menschen in der Präfektur Fukushima.
Noch am Morgen des 11. März sind die sechs Reaktorblöcke an der Pazifikküste ein vorbildliches japanisches Atomkraftwerk. In den Jahren 1971 bis 1979 nach Plänen des US-Unternehmens General Electric erbaut, enthalten die rechteckigen Gebäude jeweils einen 20 Meter hohen Druckbehälter, Wandstärke 16 Zentimeter. Im Inneren hängen zwischen 400 und 548 Brennstäbe, jeder etwa einen Zentimeter dick und gut dreieinhalb Meter lang. In ihnen stecken etliche bonbongroße Pellets aus Urandioxid. Insgesamt befinden sich in jedem der Siedewasserreaktoren mindestens 68 Tonnen dieses nuklearen Brennstoffs.
Im Vergleich zum Unglücksreaktor von Tschernobyl gilt die Anlage von Fukushima-Daiichi als fortschrittlich. Den Reaktordruckbehälter und seine Zuleitungen umgibt eine birnenförmige, vier Zentimeter dicke Stahlhülle. In Tschernobyl fehlte solch ein Sicherheitsbehälter. Die ukrainische Höllenmaschine konnte daher tagelang unter offenem Himmel brennen und Fallout über halb Europa verteilen.
Doch auch in Fukushima gibt es gravierende Mängel, wie die Stunden und Tage nach dem Erdbeben zeigen werden. Zwar sind am 11. März 2011 nur die ersten drei Blöcke in Betrieb, und sie fahren sofort herunter, als die Erde bebt. Die Erschütterungen kappen allerdings sämtliche Hochspannungsleitungen, die die Anlage mit dem Stromnetz verbinden.
In solch einem Fall springen automatisch Dieselgeneratoren an. Ihre Energie ist nötig, um die Atomreaktoren weiter zu kühlen. Wenige Sekunden nachdem Steuerstäbe zwischen die Brennstäbe gefahren sind – der Stopp für die nukleare Kettenreaktion –, erzeugt ein Reaktor nach wie vor 6,5 Prozent seiner ursprünglichen Leistung. Nach einer Stunde sind es noch 1,6 Prozent, nach einem Tag 0,8, schildert die deutsche Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit (GRS) in ihrem Abschlussbericht zur Katastrophe. Was sich nach wenig anhört, ist eine gigantische Wärmemenge: Eine Stunde nach dem Shutdown heizt Block 1 von Fukushima noch immer mit 22 Megawatt – die Leistung von 5000 Kaminöfen.
Ohne Strom keine Kühlung
Atomkraftwerke enthalten mehrere Systeme zur Abfuhr dieser »Nachzerfallswärme«, in Fukushima sind es gleich vier. Mal wird heißes Wasser aus dem Reaktorkern abgepumpt und gekühlt, mal frisches Kühlmittel in den Druckbehälter gepresst, mal Dampf in die torusförmige Kondensationskammer geleitet. Das Problem: Fast alle Notfallsysteme brauchen Strom, um zu funktionieren – Strom, der nach Eintreffen des Tsunamis plötzlich nicht mehr da ist.
Es ist ein Auslegungsfehler, den man im Nachhinein nur schwer nachvollziehen kann: Die meisten Dieselgeneratoren und Batterien der Anlage befinden sich in den Maschinenhäusern am Fuß der Reaktorgebäude, nur knapp über dem Meeresspiegel. Zwar schützt ein knapp sechs Meter hoher Deich die Wasserfront des Komplexes. Aber die Wellen des 11. März ragen bis zu 14 Meter empor.
Die Flutwelle umspült die Maschinenhäuser und dringt durch Türen ins Innere ein. Dort setzt sie die Notstromdiesel der Blöcke 1 bis 4 unter Wasser, genauso wie die allermeisten Notstrombatterien. Das Wasser beschädigt auch die Meerwasserpumpen in den Maschinenhäusern. Sie können normalerweise Wärme aus den Kondensationskammern der Reaktorblöcke abführen, eines der vier Kühlsysteme für den Notfall.
Ohne Strom geht das nicht mehr. Und schlimmer noch: Die Belegschaft in den Kontrollräumen tappt im Dunkeln, buchstäblich. Nicht mal die Deckenleuchten und die Armaturen funktionieren – somit weiß niemand, was in den Reaktoren vor sich geht. Hektisch, im Schein von Taschenlampen, beugen sich die Arbeiter über Notfallhandbücher, in denen die aktuelle Situation jedoch nirgendwo beschrieben ist.
Und somit beginnt gegen 15.35 Uhr Ortszeit ein Kampf gegen die Zeit: Die Nachwärme heizt die Reaktoren immer weiter auf. Gleichzeitig hat die Belegschaft kaum noch eine Möglichkeit, die Wärme aus den Druckbehältern abzuleiten.
Ein Notfall, der in keinem Handbuch steht
Am schnellsten spitzt sich die Lage in Block 1 zu, der etwas kleiner ist als die anderen Blöcke. Hier gibt es zwar ein passives Kühlsystem, das heißen Dampf aus dem Reaktorkern in Rohren durch zwei benachbarte Wasserbecken leitet. Eigentlich sollte dieser Isolation Condenser auch ohne Strom funktionieren. Aber dazu muss die Betriebsmannschaft eine Reihe von Ventilen offen halten.
Als der Tsunami die Anlage trifft, sind die Ableitungen allerdings gerade geschlossen. Der Grund: Laut Handbuch soll man den Isolation Condenser immer nur intervallweise betreiben, um ein zu schnelles Abkühlen des Reaktors und damit Materialschäden zu verhindern. Die überforderte Kontrollmannschaft entdeckt jedoch erst Stunden später, dass die Ventile geschlossen sind.
Einige der Arbeiter versuchen daraufhin, die Ventile per Hand zu öffnen, erfolglos. Nach Einbruch der Dunkelheit gelingt es schließlich, tragbare Stromgeneratoren anzuschließen. Kurz vor Mitternacht geben auch die Messinstrumente im Kontrollraum wieder Werte aus. Spätestens jetzt wird deutlich, dass der Reaktor auf eine Katastrophe zusteuert: Der Druck im Inneren liegt zu diesem Zeitpunkt bei 6 Bar und damit bereits ein gutes Stück über dem zulässigen Maximaldruck des Gefäßes.
In den nächsten Stunden steigt der Druck weiter. Anschließend fällt er wieder ab; vermutlich, weil Dichtungen des Sicherheitsbehälters nachgeben oder sich Lecks gebildet haben. Radioaktiver Dampf entweicht aus dem Reaktor. Gegen 4 Uhr morgens leiten die Einsatzkräfte dann erstmals seit 14 Stunden wieder Wasser in den überhitzten Kern ein. Möglich macht es die Pumpe eines Feuerlöschwagens.
Simulationen werden später zeigen, dass die Brennstäbe zu diesem Zeitpunkt längst geschmolzen sind und sich als strahlende Pampe auf dem Boden des Sicherheitsbehälters sammeln. Damit das passiert, ist eine Temperatur von mindestens 2700 Grad notwendig, dem Schmelzpunkt von Urandioxid.
Doch bereits viel früher, bei 1200 Grad, passiert etwas, was die Katastrophe gänzlich entgleisen lässt: Die Zirkoniumlegierung in den Hüllen der Brennstäbe reagiert mit Wasser und setzt reinen Wasserstoff frei. Durch die undichten Stellen entweicht er aus dem Sicherheitsbehälter und sammelt sich in den oberen Etagen des umgebenden Gebäudes. Dort vermischt sich das Gas mit Sauerstoff zu hochexplosivem Knallgas.
Um 9 Uhr morgens hat man eine erste Sperrzone um das Kernkraftwerk evakuiert. Ab dann beginnen die Einsatzkräfte damit, gezielt große Mengen radioaktiven Dampfs aus dem Reaktor abzulassen, was Druck und Temperatur im Inneren etwas senkt. Doch die Maßnahme kommt zu spät: Am Samstag, 15.36 Uhr, fast genau 24 Stunden nach Eintreffen des Tsunamis, entzündet ein Funke das Knallgas in den oberen Stockwerken – und das Reaktorgebäude 1 explodiert vor den Augen der Weltöffentlichkeit.
Die Explosion verletzt mehrere Arbeiter, kappt Wasserschläuche, schleudert Trümmer umher und erhöht die Strahlenbelastung im Umfeld deutlich. Dadurch spitzt sich auch die Lage in den beiden benachbarten Blöcken 2 und 3 zu. Dort kämpfen die Einsatzkräfte ebenfalls mit einem heiß laufenden Reaktorkern, wenn auch zunächst unter besseren Bedingungen: In Block 2 etwa war es der Kontrollmannschaft in den Augenblicken vor dem totalen Blackout noch gelungen, ein von Dampf angetriebenes Nachspeisesystem in Gang zu setzen.
Ein Drama in drei Akten
Doch die Maßnahme reicht nicht. Auch Reaktor 2 erwärmt sich immer weiter. Am zweiten Tag der Katastrophe muss er entlüftet werden. Zwei Tage später kommt es auch in seinem Inneren zu einer Kernschmelze: am 14. März, als auch die Lage in Block 3 eskaliert. Dort explodiert ebenfalls Knallgas, was die in der Zwischenzeit installierte Wasserzufuhr zu Block 2 für elf Stunden unterbricht.
Die Explosion von Block 3 ist eine schockierende Wendung, denn direkt nach dem Tsunami stand der dritte Reaktor eigentlich am besten da. Die Flut verschonte hier einige Notfallbatterien, ein Teil der Instrumente funktionierte also weiterhin, genauso wie eines der Kühlsysteme. Doch letztlich fiel das System aus, vermutlich, weil eine Abluftturbine dem Druck nicht standhalten konnte. So wiederholt sich das Drama aus drei Akten, das zwei Tage vorher schon Block 1 ereilt hat: Kernschmelze, Knallgas, Explosion.
Am Tag darauf, es ist Dienstag der 15. März, erschüttert eine weitere Explosion das Gelände. Diesmal ist es der eigentlich abgeschaltete Block 4, der sich schlagartig von einem grauen Quader in ein zerfetztes Gerippe verwandelt. Verantwortlich ist wahrscheinlich Knallgas aus Block 3, das über einen gemeinsamen Abluftkamin in das eigentlich abgeschaltete Reaktorgebäude herüberdriftet, werden Jahre später sowohl der Untersuchungsbericht der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA als auch eine Analyse des Öko-Instituts Darmstadt festhalten.
Sechs Tage nach dem Tsunami ist es mit einem Mal Block 4, der Experten große Sorge bereitet. In einem Wasserbecken im oberen Geschoss des Gebäudes lagern die aus dem Reaktor entfernten Brennstäbe, zu diesem Zeitpunkt sind es wegen der Wartungsarbeiten 6000 Stück. Und plötzlich liegt das Becken, in dem Kühlwasser verdampft, unter freiem Himmel. Hubschrauber versuchen, aus der Luft Nachschub in den Pool zu spritzen, müssen wegen der hohen Strahlenbelastung aber abdrehen.
Beobachter bangen, dass ein weiteres Erdbeben das Gebäude kollabieren lassen könnte. Doch in den Tagen und Wochen darauf stabilisiert sich die Lage. Das Abklingbecken von Block 4 hält. Und die Einsatzkräfte können mit herbeigeschafften Pumpen große Mengen Meerwasser in die havarierten Reaktoren einspeisen, ab Ende März steigen sie auf Süßwasser um. Nach und nach sinkt die Temperatur der zerstörten Kerne.
Ein »menschengemachtes« Desaster
Die Welt atmet auf und begibt sich auf Ursachenforschung. Wie konnte all das passieren? Im Dezember 2011 kommt eine von der japanischen Regierung eingesetzte Untersuchungskommission zu einem eindeutigen Ergebnis: Fukushima war ein »menschengemachtes« Desaster, urteilt das interdisziplinär besetzte Gremium, das für seinen Bericht mehr als 1100 Beteiligte interviewte.
Demnach hat eine zu große Nähe zwischen den Aufsichtsbehörden NISA und NRC, dem für Atomkraft zuständigen Wirtschaftsministerium METI und der Betreiberfirma TEPCO direkt ins Verderben geführt. So warnten Wissenschaftler immer wieder vor hohen Tsunamis, wie sie etwa bei einem heftigen Erdbeben im Jahr 869 auftraten. Doch die Verantwortlichen ignorierten die Empfehlungen.
Auch Nachrüstungen der Anlage selbst waren aus Sicht von Fachleuten überfällig. »Es gab wenige unterschiedliche Notfallsysteme, auch waren wichtige Sicherheitseinrichtungen nicht ausreichend räumlich voneinander getrennt«, sagt der Kerntechnikexperte Christoph Pistner vom Öko-Institut Darmstadt. So hätten alle Annahmen zu möglichen Unfallszenarien darauf basiert, dass entweder die Notstromdiesel oder die Batterien funktionieren. »Dass beides ausfällt, konnte man sich offenbar nicht vorstellen.«
Außerdem gab es weder Filter, die beim Entlüften radioaktive Partikel zurückhalten, noch so genannte Rekombinatoren, die austretenden Wasserstoff neutralisieren können, sagt Sven Dokter, Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln. Beides sei in deutschen Anlagen Standard. Auch die Notfallpläne waren aus seiner Sicht unzureichend: »Die Entscheidungswege und Zuständigkeiten waren für solch einen Krisenfall nicht klar genug geregelt, obwohl das schon 2011 international gefordert war.«
So kam es, dass der Katastrophenschutz, die Mannschaft vor Ort, das TEPCO-Hauptquartier, die Atomaufsichtsbehörde NISA und das Büro des Premierministers darüber stritten, wie und wann Block 1 entlüftet werden soll – was die nötige Druckentlastung unnötig verzögerte. »Hätte man hier früher gehandelt, wäre die Wasserstoffexplosion vielleicht ausgeblieben«, sagt Dokter.
Auch die Kommunikation während der ersten Tage und Wochen war desaströs: Tagelang mieden die japanischen Verantwortlichen das Wort »Kernschmelze« und verunsicherten so die Bewohner der umliegenden Gebiete. Sie mussten ihre Häuser am 12. März schnellstmöglich verlassen. Betroffen waren zunächst all jene, die in einem 20-Kilometer-Radius um das Atomkraftwerk lebten, später folgten Bewohner aus Gebieten im Nordwesten dieser Sperrzone. Insgesamt siedelten wegen der Reaktorkatastrophe 150 000 Menschen in Notunterkünfte um, in Folge des Tsunamis waren es etwa 340 000.
Radioaktives Jod, radioaktives Zäsium
Nach Einschätzung der allermeisten Wissenschaftler hat die zügige Evakuierung dazu beigetragen, dass die Bevölkerung Japans vergleichsweise wenig Strahlung aus der Reaktorkatastrophe abbekommen hat. Ein anderer Faktor war das Wetter: Ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich starker Westwind blies in den kritischen Tagen meist aufs Meer hinaus, in dem sich die radioaktiven Partikel rasch verteilten. Nur zwischen 20 und 30 Prozent des strahlenden Dampfs sank aufs Festland herab – rückblickend großes Glück im Unglück.
Am stärksten traf es dabei einen etwa 40 Kilometer langen Streifen in nordwestlicher Richtung. Hier gingen in erster Linie die Isotope Jod-131 und Zäsium-137 nieder. In den ersten Wochen stellte das Jod die größte Gefahr dar: Es zerfällt mit einer Halbwertszeit von acht Tagen, wird aber vom menschlichen Körper bereitwillig aufgesogen und reichert sich in der Schilddrüse an. Zäsium-137 dagegen hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren. In vielen betroffenen Gebieten erhöht es die Strahlenbelastung bis heute, trotz eines umfassenden Programms zur Dekontaminierung.
Rechnungen haben ergeben, dass aus den havarierten Reaktoren von Fukushima zwischen 10 und 20 Prozent der Menge an radioaktivem Jod und Zäsium des Tschernobyl-Unglücks entwichen sind. Anders als bei dem Reaktorunglück von 1986 gelangten in Japan hingegen keine schwergängigen Elemente wie Plutonium in die Luft. Damit sie sich in der Atmosphäre ausbreiten können, muss ein Reaktorkern unter offenem Himmel explodieren oder brennen, was in Fukushima die Sicherheitsbehälter verhinderten.
Atomkritiker gegen UN-Experten
Über diese Eckdaten herrscht in der Wissenschaft große Einigkeit. Über die strahlenbedingten Gesundheitsfolgen der Reaktorkatastrophe eher nicht. Schon bei Tschernobyl waren sie ein großer Zankapfel, insbesondere in Deutschland. Unter anderem das von den Vereinten Nationen beauftragte Gremium UNSCEAR (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation) kam damals zu deutlich niedrigeren Krebszahlen als atomkritische Gruppen wie die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, kurz IPPNW.
Zum zehnjährigen Jahrestag von Fukushima flammt dieser Konflikt erneut auf. Sowohl UNSCEAR als auch die IPPNW legten jüngst auf Online-Veranstaltungen dar, wie sie die Sache sehen. Die in das UN-Gremium entsandten Wissenschaftler argumentieren, dass es in der breiten Bevölkerung infolge der freigesetzten Radioaktivität zu keiner eindeutigen Zunahme an Krebsfällen gekommen sei. Lediglich 173 Arbeiter wurden demnach vor Ort so stark verstrahlt, dass sie ein leicht erhöhtes Risiko haben, infolge der Radioaktivität einen Tumor zu bekommen.
Die Mediziner des IPPNW widersprechen vehement. Sie werfen UNSCEAR vor, die Folgen der Reaktorkatastrophen zu beschönigen und verweisen auf die Tatsache, dass nur Staaten mit Atomindustrie Wissenschaftler in das UN-Gremium entsenden. Außerdem beruft sich der atomkritische Verein auf eigene Analysen. Demnach sollen rund 200 Verdachtsfälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern auf die Strahlung aus der Reaktorkatastrophe zurückgehen. Und langfristig würden bei den Betroffenen auch andere Krebsarten häufiger auftreten, heißt es beim IPPNW.
Es ist eine Debatte, in der die atomkritischen Ärzte die Sympathien all jener genießen, die der Atomindustrie misstrauen. Viele Epidemiologen und Strahlenbiologen schauen dagegen eher verwundert auf den ewigen Streit. Bei ihnen genießt UNSCEAR ein sehr hohes Ansehen: Die in das Gremium entsandten Strahlenschützer gelten auf ihrem Gebiet als international anerkannte Experten mit langen, viel zitierten Publikationslisten.
Sie sichten in mühsamer Kleinstarbeit die zu Fukushima erschienenen Studien und werten diese nach strengen wissenschaftlichen Maßstäben aus, ähnlich wie der Weltklimarat IPCC. »Ich habe daher ein sehr hohes Vertrauen in die UNSCEAR-Berichte«, sagt Markus Eidemüller vom Institut für Strahlenmedizin des Helmholtz-Zentrums München. Er gehört der Deutschen Strahlenschutzkommission an und forscht selbst nicht zu den Folgen von Fukushima.
Aus Tschernobyl weiß man, dass Strahlung nach einer Reaktorkatastrophe das Risiko für Schilddrüsenkrebs erhöht, vor allem bei Kindern. Bis zum Jahr 2005 tauchten in der Ukraine und in Weißrussland mehr als 6000 Fälle auf, die UNSCEAR zum Großteil auf radioaktives Jod zurückführt. Viele der Erkrankten waren 1986 Kinder und tranken vermutlich kontaminierte Milch. Von ihnen bekamen in den 1990er Jahren achtmal so viele Schilddrüsenkrebs wie es ohne das Reaktorunglück von Tschernobyl der Fall gewesen wäre.
Generell ist die Krebsart sehr selten, normalerweise erkranken im Lauf ihres Lebens nur 0,25 Prozent der Männer und 0,75 Prozent der Frauen daran. Früh erkannt sind die Tumore in der Schilddrüse in etwa 90 Prozent der Fälle heilbar. Für die Betroffenen ist es natürlich trotzdem ein Schicksalsschlag. Erst recht, wenn die Krankheit vermeidbar gewesen wäre.
Die Frage nach den Strahlenfolgen
Ob die Häufung der Schilddrüsenfälle in Fukushima mit der Strahlung aus den Reaktoren zusammenhängt, ist leider schwieriger zu beantworten als in Tschernobyl. Die Frage fällt in einen schwer greifbaren Graubereich, in dem unterschiedliche Grundannahmen leicht zu verschiedenen Ergebnissen führen können. So gibt es zwar etliche Hochrechnungen dazu, wie viel radioaktivem Jod die Bewohner der betroffenen Gebiete in den ersten Tagen ausgesetzt waren. Sicher war es deutlich weniger als in Tschernobyl, wo das Umland tagelang nicht evakuiert wurde. Aber was die genaue Belastung angeht, klaffen die Schätzungen auseinander.
Die meisten Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Gros der geflohenen Japaner weniger als 10 Millisievert abbekam (das Maß für die effektive Strahlendosis), so steht es auch im aktuellen UNSCEAR-Report. In Bereichen, in denen während der Evakuierung eine radioaktive Wolke niederging, könnten es vereinzelt einige Dutzend Millisievert gewesen sein. Zum Vergleich: Arbeiter, die in Deutschland in einem Atomkraftwerk oder einem Forschungsreaktor arbeiten, dürfen pro Jahr 20 Millisievert aufnehmen.
Damit aber bewegt sich die Strahlenbelastung in einem Dosisbereich, in dem die Gesundheitsfolgen von Radioaktivität statistisch nicht mehr eindeutig nachweisbar sind. Erst oberhalb von 100 Millisievert kommt es zu einer zweifelsfreien Zunahme von Krebsfällen, das haben Studien mit den Überlebenden der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki ergeben. Demnach entwickeln von 1000 Personen, die mit 100 Millisievert verstrahlt wurden, vier bis acht im Lauf ihres Lebens einen tödlichen Tumor, der auf die Radioaktivität zurückgeht. Hinzu kommen jene mehr als 420 Krebsfälle, die auf etablierte Faktoren zurückgehen, etwa genetische Vorbelastung, ein ungesunder Lebensstil oder natürliche Radioaktivität.
Das Schwierige an der Diskussion um Strahlenfolgen: Selbst eine geringere Dosis als 100 Millisievert kann Krebs verursachen. Aber entsprechende Fälle sind offenbar selten genug, dass sie in bisher durchgeführten Studien nicht aus der großen Grundzahl an normalen Tumorerkrankungen herausstechen. Diese Zahl schwankt von Jahr zu Jahr, erst recht nach Katastrophen wie in Tschernobyl und Fukushima: Viele Menschen sind traumatisiert, ernähren sich schlecht, rauchen oder trinken zu viel Alkohol – und kriegen auch aus diesen Gründen Jahrzehnte später vielleicht Krebs.
Experten hatten sich von Fukushima erhofft, Klarheit in die Debatte um die Strahlenfolgen im Niedrigdosisbereich zu bringen, auch weil die Datenbasis in Fukushima besser ist als in Tschernobyl. So hat die Medizinische Universität Fukushima gleich im Sommer 2011 ein langjähriges Schilddrüsenscreening von 300 000 Kindern aus den betroffenen Gebieten gestartet.
Screening mit Fragezeichen
Doch die Studie hatte von Anfang an mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Zum Beispiel gibt es aus den ersten, entscheidenden Wochen nach der Havarie nur wenige Messdaten. Bloß bei 1080 Kindern haben Ärzte damals die Strahlenbelastung der Schilddrüse gemessen. Die Exposition der breiten Masse müssen Forscher daher auf Basis von Fragebögen und mit Computermodellen zur Ausbreitung der radioaktiven Wolke abschätzen.
Unter Strahlenbiologen ist außerdem umstritten, wie belastbar die Ergebnisse des Schilddrüsenscreenings aus dem »Fukushima Health Management Survey« im Detail sind. »Man setzt dabei leider auf ein anderes Verfahren als in Tschernobyl, bei dem wichtige methodische Fragen nicht geklärt sind«, sagt Wolfgang Weiss, der bis zu seiner Pensionierung als Vertreter des Bundesamts für Strahlenschutz bei UNSCEAR mitwirkte.
Fest steht allerdings: Bei einer solch groß angelegten Untersuchung ist es völlig normal, dass die Zahl nachgewiesener Krebsverdachtsfälle steigt. Denn mit modernem Ultraschall lassen sich selbst kleine, an und für sich harmlose Veränderungen der Schilddrüse nachweisen, die ohne Detailuntersuchung unentdeckt geblieben wären – Fachleute sprechen von Überdiagnose. So haben Mediziner nach Einführung hochauflösender Geräte auch außerhalb von Fukushima mehr Fälle von Schilddrüsenkrebs nachgewiesen, etwa in Südkorea oder den nicht von der Reaktorkatastrophe betroffenen Präfekturen Aomori, Yamanashi und Nagasaki. Es sei daher unwahrscheinlich, dass die 200 Schilddrüsenkrebsfälle auf die Strahlung aus der Reaktorkatastrophe zurückgehen, urteilt der neueste UNSCEAR-Bericht.
Das heiße aber nicht, dass es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Strahlung und Schilddrüsenkrebs gebe, betont Wolfgang Weiss. »Wir behaupten nicht, dass wir das Strahlengeschehen in der Schilddrüse vollständig verstehen.« Der Effekt scheint in Fukushima jedoch so klein zu sein, dass man ihn mit den strengen Maßstäben der Epidemiologie nicht sauber nachweisen kann. Oder anders formuliert: Gut möglich, dass einige der 200 Schilddrüsenanomalien bei den 300 000 untersuchten Kindern auf Strahlung zurückgehen. Wahrscheinlich wird das aber nur bei einer Minderheit der Fall sein. Wie viele genau es sind, wird man vielleicht nie erfahren – allein schon deshalb, weil man einem Tumor nicht ansieht, wo er herkommt.
So beurteilt man die Sache auch beim Bundesamt für Strahlenschutz. Dessen Leiterin Inge Paulini bekennt sich offen zum Atomausstieg – weshalb die Behörde eigentlich nicht mehr unter dem Verdacht stehen sollte, ein verlängerter Arm der Atomlobby zu sein. »Insgesamt wird die Erhöhung der Fallzahlen wahrscheinlich so gering sein, dass sie nur schwer vor dem Hintergrund der sonst üblichen Krebserkrankungen erkennbar sein wird«, sagt BfS-Wissenschaftler Florian Gering, der am aktuellen UNSCEAR-Report mitgeschrieben hat.
Jenseits der Grabenkämpfe
Somit wirkt die Diskussion zum zehnten Jahrestag der Katastrophe zuweilen wie ein Scheingefecht. Schließlich taugt das Thema je nach Auslegung sowohl als Keule gegen die Kernenergie (»200 Krebsfälle!«) als auch als Munition für Atomkraftbefürworter (»Niemand gestorben!«) – und befeuert damit eine ideologisch festgefahrene Debatte. Nicht wenige Experten sind daher der Meinung, dass das ewige Gezanke um die Strahlenfolgen wichtigere Fragen überdeckt. »Die Diskussion um die Zahl der Todesopfer geht aus meiner Sicht am Kern der Sache vorbei«, sagt etwa Öko-Institut-Forscher Christoph Pistner.
Denn eigentlich sollte es schon reichen, auf das faktische, garantiert von der Katastrophe verursachte Leid zu schauen, um ihr Ausmaß zu begreifen. Da sind nicht nur die völlig entwurzelten Menschen aus dem Umfeld des Atomkraftwerks, die jahrelang nicht in ihre Häuser zurück konnten und außerhalb ihrer Heimat ein Leben lang stigmatisiert werden dürften. Studien aus Fukushima haben auch gezeigt, dass die Suizidrate in der Region zugenommen hat, genauso wie die Zahl psychischer Erkrankungen und die Fälle von Übergewicht.
Tragisch ist auch das Schicksal von jenen 50 Krankenhauspatienten, die man am 12. März 2011 in überfüllten Bussen in eine andere Kliniken verlegte und die den Transfer nicht überlebten. In den ersten Wochen nach der Katastrophe starben weitere 2000 Menschen aus der Präfektur Fukushima in Notunterkünften, ein Teil von ihnen wohl infolge der schlechten medizinischen Versorgung.
Bis heute sind Zehntausende der einstigen Bewohner nicht in die verstrahlten Gebiete zurückgekehrt. Die Sperrzone ist zwar von einst 1000 auf 360 Quadratkilometer geschrumpft, in etwa die Größe der Stadt München. Doch insbesondere junge Menschen haben der Region den Rücken gekehrt.
Schätzungen zufolge wird die Reaktorkatastrophe den japanischen Steuerzahler mindestens 170 Milliarden Euro kosten. Die Aufräumarbeiten der havarierten Anlage werden noch 30 Jahre andauern, kalkulieren die Verantwortlichen. Sie müssen unter anderem noch die Kernschmelzen aus den havarierten Reaktoren bergen. Und sie kämpfen mit dem radioaktiven Wasser, das sie seit zehn Jahren aus den Kellern der Maschinenhäuser pumpen, aufwändig filtern und in mittlerweile knapp 1000 Tanks lagern. 2022 wollen sie damit beginnen, die noch leicht mit Tritium belastete Brühe in den zu Pazifik leiten.
All das hat auch bei Strahlenschutzexperten Wirkung hinterlassen. Nach Tschernobyl zählten sie vor allem die Strahlentote und rechneten Krebsfälle aus. »Fukushima hat zumindest bei manchen zu einem Umdenken geführt«, sagt Wolfgang Weiss. Aus dem Ruhestand wirbt er für Evakuierungspläne, die mehr Kenngrößen als die Strahlenbelastung enthalten. Und für die Einsicht, dass eine Reaktorkatastrophe immer ein historisches Desaster ist. Auch dann, wenn die Menschen im Umland vergleichsweise wenig Radioaktivität ausgesetzt waren. So wie in Fukushima.
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