Langlands-Programm: 1000 Seiten Beweis für eine mathematische Weltformel

Die Auswüchse seiner Theorie schienen Robert Langlands zu überfordern. »Wenn jemand meinen Namen aus diesem Teil entfernen und ihm einen anderen Namen geben könnte, wäre ich sehr dankbar.« So begann der kanadische Mathematiker seinen Vortrag an der Universität Oslo im Februar 2020. Im Hörsaal waren Menschen versammelt, um in den kommenden Tagen einer Veranstaltungsreihe zu lauschen, die Langlands zu Ehren stattfand. Er hatte zwei Jahre zuvor den Abelpreis erhalten, eine der höchsten Auszeichnungen der Mathematik. Den Ausschlag dafür hatte eine Reihe von nach ihm benannten Vermutungen gegeben, die verschiedene mathematische Bereiche miteinander verknüpfen. Wie ein Wörterbuch sollen sie es Fachleuten ermöglichen, zwischen den verschiedenen Gebieten hin und her zu übersetzen.
Als die Zuhörer Langlands' Aussage hörten, mussten sie kichern. Wahrscheinlich, weil sie ahnten, an wen sich diese Kritik richtete: Edward Frenkel, ein Kollege Langlands', der ebenfalls im Hörsaal saß. In der folgenden Dreiviertelstunde legte Langlands dar, wie man den Arbeitsbereich des geometrischen Langlands-Programms – von dem er gerne seinen Namen streichen wollte – auf eine neue Grundlage stellen könnte. Denn das, was seine Kollegen daraus gemacht haben, gefiel ihm nicht. »Während eines gemeinsamen Projekts zwischen 2007 und 2010 habe ich viel Zeit damit verbracht, mit Langlands zu sprechen«, erinnert sich der russischstämmige US-Mathematiker Frenkel, der an der University of California in Berkeley arbeitet. »Er war sehr unglücklich mit dieser Version der nach ihm benannten Vermutungen.«
Doch wenige Jahre später nahm die Geschichte eine erstaunliche Wendung. Im Mai 2024 veröffentlichten neun Mathematiker fünf Arbeiten auf dem Server des Max-Planck-Instituts für Mathematik in Bonn. Auf knapp 1000 Seiten präsentieren sie einen Beweis für die geometrischen Vermutungen, die Langlands ein Dorn im Auge waren. Damit vollendeten sie nicht nur eines der ehrgeizigsten mathematischen Forschungsprojekte. Ihre Arbeit eröffnete auch eine Möglichkeit, Langlands' Lebenswerk zu vervollständigen – und den Weg für ein universelles Wörterbuch zu ebnen, das zwischen vielen verschiedenen Bereichen der Mathematik übersetzt.
Zwei unterschiedliche Charaktere
In den Medien liest man nur selten vom Langlands-Programm. Aus gutem Grund. Das Thema ist extrem abstrakt und schwer zu vermitteln: Es umfasst verschiedene lebensferne Gebiete der Mathematik und verbindet sie miteinander. Wenn man doch einmal auf einen populärwissenschaftlichen Artikel zu dem Thema stößt, dann begegnen einem meist zwei Namen: Robert Langlands, Namensgeber und Begründer des Bereichs, und Edward Frenkel.
Die beiden Personen könnten nach außen hin kaum unterschiedlicher sein. Frenkel setzt sich stark in der Wissenschaftskommunikation ein, veröffentlicht Videos, nimmt Podcasts auf, schreibt Bücher und schreckt nicht davor zurück, auch die komplexesten Inhalte für eine breite Masse verständlich aufzuarbeiten. Er hält nicht damit hinter dem Berg, wie viel Anerkennung er seinem älteren Kollegen entgegenbringt, etwa wenn er Langlands mit Albert Einstein vergleicht. Die Analogie ist noch zutreffender, wenn man weiß, dass Langlands' Büro im Institute for Advanced Study in Princeton tatsächlich jenes ist, in dem auch der legendäre Physiker seinen Sitz hatte. Anders als Einstein ist Langlands jedoch Personen außerhalb der Mathematik völlig unbekannt.
»Welcher normale Mensch interessiert sich schon dafür, ob die Quadratwurzel von zwei eine rationale Zahl ist?«Robert Langlands, Mathematiker
Langlands vertritt hingegen die Ansicht, dass manche Dinge einfach nicht von öffentlichem Interesse seien und nicht alles eine Anschauung brauche. »Welcher normale Mensch interessiert sich schon dafür, ob die Quadratwurzel von zwei eine rationale Zahl ist?«, sagte Langlands in einem Artikel des kanadischen »Toronto Star«. Das Langlands-Programm handelt von deutlich lebensferneren Konzepten als die Frage, ob ein Wert als Bruchzahl darstellbar ist oder nicht; daher finden sich kaum niedrigschwellige Vorträge von Langlands. Einem Reporter gab er vor einem Interview einmal die Aufgabe, mehrere mathematische Arbeiten durchzulesen und sich mit seinen Fachkollegen zu unterhalten, um angemessen vorbereitet zu sein – das Verhalten schreckt wohl viele Journalisten ab.
Ein Rosetta-Stein für die Mathematik
Das Langlands-Programm verknüpft Gebiete der Mathematik, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Es bietet damit eine Lösung für eines der großen aktuellen Probleme in der Wissenschaft: die übermäßige Spezialisierung. Experten eines mathematischen Fachgebiets können häufig nichts mit einem anderen Bereich anfangen. Jede Disziplin scheint eine andere Sprache zu sprechen.
Bereits im Jahr 1940 träumte André Weil von einem Wörterbuch, das zwischen unterschiedlichen Gebieten vermittelt. Damals saß der französische Mathematiker eine mehrmonatige Haftstrafe in einem Gefängnis in Rouen ab, weil er den Kriegsdienst verweigert hatte. In seiner Zelle verfasste er einen 14-seitigen Brief an seine Schwester, in dem er seine Idee eines Rosetta-Steins für die Mathematik schilderte: Wie bei dem antiken Text, der in drei verschiedenen Sprachen in Stein gemeißelt wurde, wollte Weil eine Methode finden, um zwischen drei Bereichen der Mathematik zu übersetzen: Zahlentheorie, Algebra und Geometrie.
Vor allem die Zahlentheorie und die Geometrie scheinen auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben. Während sich Erstere um die Arithmetik von Zahlen dreht, insbesondere Primzahlen, handelt Letztere von unterschiedlich geformten Figuren. »Man wäre völlig blockiert, wenn es nicht eine Brücke zwischen den beiden Gebieten gäbe«, schrieb Weil in dem Brief an seine Schwester. »So wie Gott den Teufel besiegt: Diese Brücke existiert«, davon war er überzeugt. Und er hatte auch schon eine Idee, wie diese Konstruktion aussehen könnte.
Dass Geometrie und Algebra miteinander zusammenhängen, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Tatsächlich begegnet man dieser Verknüpfung bereits in der Schule. In welchem Punkt sich beispielsweise zwei Geraden schneiden, lässt sich entweder geometrisch ermitteln (durch das Zeichnen der Geraden) – oder man kann die Aufgabe algebraisch angehen, indem man die beiden Geradengleichungen gleichsetzt und löst. Ebenso hat die Zahlentheorie einen Bezug zur Algebra. Deshalb wollte Weil mit der Algebra als Bindeglied zwischen Zahlentheorie und Geometrie hin- und herwandern. »Der Rosetta-Stein ist keine richtig konkrete Vermutung, die man beweisen kann«, sagt Frenkel. »Es ist eher eine Art Vision oder ein Traum.«
Wie Primzahlen und Algebra zusammenhängen
Bis heute werfen selbst die einfachsten Zahlen noch viele Fragen auf – allen voran Primzahlen. Dabei handelt es sich um Werte, die nur durch eins und sich selbst teilbar sind. Jede andere Zahl lässt sich eindeutig als Produkt von Primzahlen schreiben, wie 15 = 5 · 3. Wie die Primzahlen unter den natürlichen Zahlen verteilt sind, zählt zu den größten Rätseln der Mathematik.
Doch im 16. Jahrhundert erkannten Fachleute ein erstaunliches Muster: Wenn eine Primzahl p gleich der Summe zweier Quadratzahlen ist (sprich: p = x2 + y2), dann ergibt p geteilt durch 4 immer einen Rest von 1. Zum Beispiel: 13 = 22 + 32 und 13 geteilt durch 4 ist 3 mit Rest 1. Diese Tatsache bringt eine algebraische Gleichung also mit der Struktur von Primzahlen in Zusammenhang.
In den folgenden Jahrzehnten inspirierte diese Vision eines mathematischen Rosetta-Steins viele Fachleute, die versuchten, die Zusammenhänge zu konkretisieren. Und auch Langlands wurde von Weils Traum beeinflusst.
Zu schade für die Mülltonne
Dass Langlands überhaupt eine mathematische Karriere verfolgte, verdankt er einem aufmerksamen Lehrer. Langlands wuchs in den 1950er Jahren einem kleinen kanadischen Dorf auf. Da er sich in der Schule langweilte, wollte er diese mit 17 Jahren abbrechen, um in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und Zimmermann zu werden. Einer seiner Lehrer sah das allerdings als schweren Fehler an. Vor der versammelten Klasse bezeichnete er es als riesige Verschwendung, wenn Langlands nicht die Universität besuchte.
Das bestärkte den Schüler, seinen Abschluss zu machen und sich an der University of British Columbia einzuschreiben. Neben seinen Kommilitonen, die renommierte Schulen besucht hatten und deutlich mehr Wissen mitzubringen schienen als er, fühlte sich Langlands anfangs fehl am Platz. Doch das änderte sich schnell. Neben einem offensichtlichen Talent in Mathematik zeigte er eine außerordentliche Sprachbegabung: Er beherrschte bald fließend Französisch, Russisch, Türkisch und Deutsch. Übersetzungen schienen Langlands zu liegen.
1967 erhielt Langlands eine Anstellung als Professor an der Yale University in den USA. Dort fiel ihm auf, dass manche Objekte aus der Zahlentheorie offenbar mit periodischen Funktionen zusammenhängen. Und auch Strukturen aus der Algebra waren mit bestimmten Funktionen verbunden. »Das war weit mehr als eine Analogie, wie sie Weil geäußert hatte«, erklärt Frenkel. »Langlands vermutete eine Eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen konkreten Objekten.« Ähnlich wie in den Spalten eines Wörterbuchs sollten die Vokabeln von der zahlentheoretischen Seite eine Entsprechung auf derjenigen der Funktionen haben.
Beweisen konnte Langlands das allerdings nicht. In der Mathematik geht es aber nicht nur darum, komplexe Berechnungen zu meistern oder beeindruckende Beweise zu führen. Auch eine gute Intuition, die zu viel versprechenden Vermutungen führt, ist äußerst wertvoll. Dafür schien Langlands ebenfalls ein Talent zu haben.
»Wenn Sie bereit sind, dies als reine Spekulation zu lesen, würde ich das schätzen. Wenn nicht – ich bin sicher, dass Sie einen Papierkorb zur Hand haben«Robert Langlands, Mathematiker
Daher nahm er im Jahr 1967 seinen Mut zusammen und schickte seine Beobachtungen an André Weil, der inzwischen ein weltweit renommierter Mathematiker war. »Nachdem ich den Brief geschrieben habe, realisiere ich, dass es darin kaum eine Bemerkung gibt, der ich mir sicher bin«, schrieb Langlands damals demütig im Deckblatt des Briefs. »Wenn Sie bereit sind, dies als reine Spekulation zu lesen, würde ich das schätzen. Wenn nicht – ich bin sicher, dass Sie einen Papierkorb zur Hand haben.«
Glücklicherweise landete der Brief nicht im Müll – im Gegenteil. Weil ließ den Inhalt abtippen und verteilte ihn unter seinen Kollegen weltweit. »Was folgte, war der Beginn einer bahnbrechenden Theorie, welche die Art und Weise, wie wir über Mathematik denken, für immer veränderte«, schrieb Frenkel in seinem Buch »Love and Math«.
Damit war das Langlands-Programm entstanden. Fortan versuchten Mathematikerinnen und Mathematiker, die weit reichenden Vermutungen zu beweisen. Denn ein Wörterbuch, wie Langlands es in Aussicht stellte, wäre insbesondere im Bereich der Zahlentheorie äußerst hilfreich. »Mathematiker träumen davon, eine Möglichkeit zu finden, Primzahlen wie Funktionen zu behandeln«, sagt Frenkel. »Das würde völlig neue Möglichkeiten eröffnen.« Denn Primzahlen sind starr und einzigartig; weiß man etwas über die Sieben, lässt sich das nicht auf die Elf verallgemeinern. Funktionen sind hingegen viel flexibler, zudem gibt es einen ganzen Werkzeugkasten aus der Algebra und der Analysis, um sie zu untersuchen.
In den weiteren Jahren kamen Fachleute beim Langlands-Programm immer mehr voran. Für bestimmte Vokabeln ließ sich eine Übersetzung konstruieren. Doch ob das von Langlands vermutete umfassende Wörterbuch wirklich existiert, muss noch gezeigt werden.
Selbst die winzigen Fortschritte zeigten große Wirkung. So bewies der Brite Andrew Wiles zwar nur einen kleinen Teil des Langlands-Programms, aber dadurch löste er das bis dahin anspruchsvollste Rätsel der Mathematik: den großen Satz von Fermat. Daran hatten sich Fachleute mehr als 350 Jahre lang die Zähne ausgebissen. Und es deutet einiges darauf hin, dass das Langlands-Programm zu weiteren beeindruckenden Ergebnissen führen könnte – etwa bei den Millennium-Problemen. Diese hat das Clay Institute of Mathematics im Jahr 2000 ausgerufen, und es belohnt deren Lösung jeweils mit einem Preisgeld von einer Million US-Dollar. »Die sechs noch offenen Millennium-Probleme handeln zwar nicht direkt von den Langlands-Vermutungen«, erklärt der Mathematiker Peter Scholze von der Universität Bonn. »Aber der Fortschritt, der bei diesen Fragen gemacht wird, rührt sehr häufig aus Fortschritten im Langlands-Programm her.«
Kampf gegen Diskriminierung
Kurz nach Bekanntwerden von Langlands visionärer Idee vermuteten manche Fachleute, dass sich diese Korrespondenz nicht bloß auf das Gebiet der Zahlentheorie und der Algebra beschränken sollte. Nimmt man Weils Idee eines Rosetta-Steins ernst, dann könnten sich die von Langlands beobachteten Zusammenhänge auch auf weitere Bereiche beziehen – es müsste demnach eine Übersetzung zwischen Geometrie und periodischen Funktionen geben. Allerdings ist dieser Zusammenhang deutlich komplizierter. Erst Mitte der 1980er Jahre gelang es Vladimir Drinfeld, erste Ideen auszuarbeiten, die zum geometrischen Langlands-Programm führen sollten.
Zu dieser Zeit wuchs Edward Frenkel in einer Kleinstadt in der Nähe von Moskau auf. So wie Langlands wäre auch ihm eine Karriere als Mathematiker beinahe verwehrt geblieben. Als Junge träumte er davon, an der Universität in Moskau zu studieren, die nur die allerbesten Schülerinnen und Schüler des Landes in reiner Mathematik ausbildete. Frenkel meisterte die Aufnahmeprüfung mit Bravour – doch der damals herrschende Antisemitismus ließ seinen Lebenstraum platzen. Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde Frenkel nicht an der Universität zugelassen und musste stattdessen am Institut für Öl und Gas anderen Studien nachgehen.
Davon ließ er sich nicht entmutigen. Gemeinsam mit anderen Kommilitonen schlich er sich in die Moskauer Universität, um heimlich an den Mathematikvorlesungen teilzunehmen. Und er hatte Glück: Ein renommierter Mathematiker erkannte sein Talent und nahm ihn unter seine Fittiche. So konnte Frenkel bereits früh ersten Forschungsprojekten nachgehen, bei denen er auf ungeahnte Zusammenhänge zwischen Physik, Zahlentheorie und Algebra stieß.
»Ich konnte es nicht glauben: Meine Arbeit konnte nützlich für das Langlands-Programm sein?«Edward Frenkel, Mathematiker
Seine Erkenntnisse machten in Fachkreisen die Runde, und Forschende in den USA wurden auf Frenkel aufmerksam. Mit nur 21 Jahren wurde ihm 1990 – trotz fehlenden Doktortitels – eine Professur an der Harvard University angeboten, die Frenkel dankbar annahm. Dort lernte er Vladimir Drinfeld kennen. Dieser steckte damals mitten in der Ausarbeitung des geometrischen Langlands-Programms; heute arbeitet er an der University of Chicago. Als Drinfeld von Frenkels Forschung hörte, ahnte er, dass die Erkenntnisse bei seinem ehrgeizigen Vorhaben weiterhelfen könnten. »Ich konnte es nicht glauben: Meine Arbeit konnte nützlich für das Langlands-Programm sein?«, schrieb Frenkel in seinem Buch. Er begann, alles zu lesen, was er zu dem Thema in die Finger bekam.
Das Langlands-Programm
Die Vermutungen von Langlands sind sehr vielfältig und betreffen weite Teile der Zahlentheorie und Algebra. Um sie zu verstehen, hilft es, sich ein bestimmtes Beispiel der Korrespondenz herauszupicken: die Taniyama-Shimura-Weil-Vermutung. Sie ist seit ihrem Beweis als Modularitätssatz bekannt und verbindet Objekte der Zahlentheorie mit symmetrischen Funktionen.
Auf der zahlentheoretischen Seite finden sich Polynomgleichungen mit zwei Variablen x und y, die höchstens eine drei als Exponent haben, zum Beispiel: y2 + y = x3 − x2. Anstatt solche kubischen Gleichungen für alle reellen Zahlen x und y auszuwerten, begrenzt man den möglichen Lösungsraum. Was passiert zum Beispiel, wenn man nur an ganzzahligen Lösungen interessiert ist?
Gleichungen sind wichtiger als ihre Lösungen
Gleichungen sind in der Mathematik weitaus wichtiger als ihre Lösungen. Auch wenn das in der Schule nicht immer vermittelt wird, ist das Fachleuten seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Auslöser für diese Erkenntnis war ein hastig niedergeschriebener Brief, den der damals 20-jährige Évariste Galois am Vorabend seines Todes an einen Freund verfasste. Am nächsten Tag sollte er zu einem Duell aufbrechen, und deshalb wollte er all seine mathematischen Erkenntnisse für die Nachwelt festhalten.
Galois hat unter anderem bewiesen, dass es für Polynomgleichungen fünften Grades oder höher (also Gleichungen wie x5 + 3x4 + 5x = 0) keine allgemeine Lösungsformel gibt. Das bedeutet: Es gibt keine verallgemeinerte p-q-Formel für Gleichungen, die Terme mit x hoch 5 enthalten.
Aber Galois hinterließ nicht nur dieses niederschmetternde Ergebnis, sondern auch Methoden, um solchen Polynomgleichungen dennoch Geheimnisse zu entlocken. Der Schlüssel besteht darin, die Menge der zulässigen Lösungen zu begrenzen.
Wenn man in der Schule Gleichungen löst, wird meist angenommen, dass die Variable x eine reelle Zahl ist. Tatsächlich ergeben sich aber deutlich spannendere Einsichten, wenn man die möglichen Werte der Variablen beschränkt. Zum Beispiel könnte man untersuchen, wie viele ganzzahlige Lösungen eine Gleichung hat.
Angenommen, man wollte die ganzzahligen Lösungen x und y für eine Kreisgleichung berechnen. Hierfür kann man zwei verschiedene Ansätze wählen: einen algebraischen, bei dem man mit der Gleichung selbst arbeitet, und einen geometrischen, bei dem man eine Zeichnung anfertigt. In beiden Fällen kommen dieselben vier Lösungen heraus: (1,0), (-1,0), (0,1), (0,-1). Sie scheinen einer gewissen Symmetrie zu folgen – sie lassen sich durch Spiegelungen ineinander überführen. Das erkannte auch Galois. Diese Symmetrie hängt mit den Werten von x und y zusammen, die man als Lösungen zulässt. Damit lässt sich eine Brücke schlagen: Von der Zahlentheorie, welche die Werte von x und y begrenzt, hin zum Gebiet der Algebra, nämlich den Lösungen von Gleichungen.
Évariste Galois behielt auch mit einer anderen Vorahnung Recht: Er überlebte das Duell nicht.
In der Zahlentheorie spielen insbesondere endliche Zahlensysteme eine Rolle, die sich durch eine so genannte Uhrzeitarithmetik auszeichnen. Dabei schränkt man x und y so ein, dass sie nur endlich viele ganzzahlige Werte annehmen können. Zum Beispiel könnten x und y – wie die Stundenzeiger einer Uhr – bloß Werte von 1 bis 12 annehmen und dann wieder bei 1 starten. Wie wir es von Ziffernblättern aus dem Alltag kennen, entspricht 16 in dieser Arithmetik einer 4. Mathematiker untersuchen allerdings vor allem spezielle »Uhren«, die nicht von 1 bis 12, sondern von 1 bis zu einer Primzahl p laufen.
Für die Gleichung y2 + y = x3 − x2 lässt sich beispielsweise untersuchen, welche Lösungen für unterschiedliche Zahlensysteme existieren. Wie viele Lösungen hat die Gleichung, wenn x und y nur die binären Werte 0 und 1 annehmen dürfen? Und wie viele gibt es, wenn x und y die Werte 0, 1 und 2 haben? Wie sieht es für Werte zwischen 0 und 5 aus? Die Anzahl der Lösungen für die verschiedenen Zahlensysteme (1, 2, ..., p) hängen mit Eigenschaften der Primzahlen p zusammen – und diese Lösungsanzahl entspricht den Vokabeln in der einen Spalte des Langlands-Wörterbuchs.
In der anderen Spalte des Wörterbuchs stehen periodische Funktionen, so genannte Modulformen, die ähnlich wie Sinus und Kosinus viele Symmetrien besitzen. Die Modulformen lassen sich durch eine unendlich lange Summe ausdrücken: f(x) = ax + bx2 + cx3 + dx4 + ... Und wie sich herausstellt, entsprechen die Vorfaktoren b, c, e, und so weiter den Einträgen in der anderen Wörterbuch-Spalte, also der Anzahl an Lösungen kubischer Polynomgleichungen! Das heißt: Möchte man wissen, wie viele Lösungen eine Gleichung für ein endliches Zahlensystem von 1 bis 17 hat, muss man sich den Vorfaktor zu x17 in der dazugehörigen Modulform ansehen.
Das ist ungemein praktisch: Anstatt unendlich viele verschiedene Zahlensysteme mit unterschiedlichen Primzahlen untersuchen zu müssen, enthält eine einzelne Gleichung die volle Information – nämlich die Anzahl an Lösungen. Der Modularitätssatz besagt, dass es für jede kubische Gleichung eine entsprechende Modulform gibt und umgekehrt. Damit sind kubische Gleichungen und Modulformen die Wörter zweier Sprachen, die einen Teil des Langlands-Wörterbuchs füllen.
Möchte man also etwas über kubische Gleichungen beweisen und steckt fest, kann man Modulformen heranziehen, um weiterzuarbeiten. Mit diesem Ansatz löste Andrew Wiles in den 1990er Jahren das bis dahin größte offene Problem der Mathematik, den großen Satz von Fermat.
Mit dem Langlands-Programm zum größten Rätsel der Mathematik
Der große Satz von Fermat klingt erstaunlich harmlos. Er besagt, dass die Gleichung xn + yn = zn keine ganzzahligen Lösungen x, y und z hat, wenn n größer ist als zwei. Man kann sich das Ganze als eine Art Verallgemeinerung des Satzes von Pythagoras vorstellen. Der französische Gelehrte Pierre Fermat schrieb im 17. Jahrhundert diese Vermutung am Rande eines Buchs auf und ergänzte: »Ich habe hierfür einen wahrhaft wunderbaren Beweis entdeckt, doch ist dieser Rand hier zu schmal, um ihn zu fassen.« Ob sich Fermat irrte oder ob er sich einen Scherz erlaubte – wir werden es nie wissen. Fest steht, dass 350 Jahre lang alle Beweisversuche scheiterten.
Erst als Andrew Wiles Mitte der 1990er Jahre die Taniyama-Shimura-Weil-Vermutung (kurz: TSW-Vermutung) bewies, löste er damit gleichzeitig das Rätsel um Fermats großen Satz. Denn Ken Ribet hatte 1986 bewiesen, dass man aus den Lösungen x, y, und z der Gleichung xn + yn = zn für n > 2 je eine bestimmte kubische Gleichung konstruieren könnte – allerdings nur eine solche, für die es keine dazugehörige Modulform gibt. Nun besagt aber die TSW-Vermutung, dass es zu jeder kubischen Gleichung eine Modulform gibt. Damit war Wiles klar: Wenn die TSW-Vermutung wahr ist, dann folgt daraus, dass xn + yn = zn für n > 2 keine Lösungen hat – damit wäre der große Satz von Fermat bewiesen.
Die Langlands-Vermutung geht weit über den Modularitätssatz hinaus: Sie handelt nicht nur von elliptischen Kurven und Modulformen, sondern von viel allgemeineren zahlentheoretischen Objekten auf der einen und periodischen Funktionen auf der anderen Seite. Langlands fand auch eine ähnliche Übereinstimmung zwischen Objekten aus der Algebra und entsprechenden Funktionen. »Tatsächlich gibt es unendlich viele solcher Korrespondenzen«, sagt Frenkel.
Seit mehr als 50 Jahren versuchen Fachleute, diese zu beweisen. Doch sie kommen nur schleppend voran. Hauptgrund dafür sind die beschränkten Möglichkeiten in der Zahlentheorie. Dieser mathematische Bereich ist bis heute am geheimnisvollsten, weil es wenige Werkzeuge gibt, um Objekte wie Primzahlen zu untersuchen.
Glücklicherweise könnte ein drittes Wörterbuch Abhilfe schaffen, das zwischen Geometrie und periodischen Funktionen übersetzt. Mit einer solchen Verbindung ließen sich eventuell Rückschlüsse auf das Reich der Zahlen ziehen, so zumindest die Hoffnung.
Geometrische Langlands-Korrespondenz
Schon zu Beginn des Langlands-Programms überlegten einige Fachleute, wie sich die Vermutungen auf den dritten Bereich des Rosetta-Steins übertragen lassen. Ihnen war klar, welche geometrischen Größen in der einen Spalte des Wörterbuchs auftauchen müssten. Doch welchen symmetrischen Funktionen sollten sie entsprechen? Das blieb lange Zeit ein Rätsel.
Es dauerte 20 Jahre, bis Vladimir Drinfeld in den 1980er Jahren das fehlende Puzzleteil fand. Er konstruierte neue mathematische Objekte, die das Langlands-Programm auf die geometrische Seite des Rosetta-Steins verfrachteten. In den folgenden Jahren arbeitete er mit Frenkel und anderen Kollegen zusammen, um die Theorie auf eine solide Grundlage zu stellen. »Die Kunst besteht darin, aus einer vagen Idee eine konkrete Vermutung zu machen«, sagt Frenkel.
Die geometrische Langlands-Vermutung dreht sich um so genannte riemannsche Flächen. Dabei handelt es sich um Formen wie eine Kugeloberfläche oder einen Donut, die auch in höheren Dimensionen auftreten können. Solche Gebilde lassen sich durch Polynomgleichungen beschreiben. Das ist übrigens einer der Gründe, warum Weil eine Verbindung von riemannschen Flächen zur Algebra und zur Zahlentheorie vermutet hatte.
Auch auf dem geometrischen Teil des Rosetta-Steins geht es darum, gewisse Objekte zu zählen. In diesem Fall sind es aber nicht die Lösungen von Gleichungen, sondern Kurven auf den Oberflächen. Dafür kann man sich ein Gummiseil vorstellen, das man um die geometrische Form wickelt und dessen Enden man dann zusammenklebt. Bei einer Kugel lässt sich die Schleife immer mühelos zusammenziehen. Bei einem Donut ist das hingegen anders: Weil die Oberfläche ein Loch besitzt, lassen sich manche Schleifen – wenn man sie etwa durch das Loch gewickelt hat – nicht mehr zusammenziehen, ohne sie zu zerschneiden. Die Anzahlen solcher nicht zusammenziehbarer Schleifen füllen die geometrische Spalte des Wörterbuchs.
In der anderen Spalte finden sich so genannte Garben, welche die Rolle der periodischen Funktionen übernehmen. »Funktionen waren, wenn man so will, die Konzepte der alten Mathematik, und Garben sind die Konzepte der modernen Mathematik«, schreibt Frenkel in seinem Buch. »Garben sind in vielerlei Hinsicht grundlegender; sie sind viel lebendiger und haben mehr Struktur.« Im Gegensatz zu Funktionen ordnen Garben einem Eingabewert keine Zahl zu, sondern einen ganzen Raum – zum Beispiel eine Ebene. Eine große Herausforderung bestand darin, die passenden Garben für das geometrische Langlands-Programm zu finden.
Das geometrische Langlands-Programm besagt, dass die nicht zusammenziehbaren Schleifen auf riemannschen Flächen mit Garben zusammenhängen: Wie in einem Wörterbuch lässt sich von einem Objekt in einer Spalte auf die entsprechende Struktur in der anderen Spalte schließen. »Das Faszinierende ist, dass es gewisse Eigenschaften gibt, welche die unterschiedlichen Objekte teilen», sagt Frenkel. Ist man an diesen Merkmalen interessiert, kann man die rechte oder die linke Spalte des Wörterbuchs heranziehen, um sie zu berechnen. Das zeigte sich auch beim Modularitätssatz: Um die Anzahl der Lösungen einer Polynomgleichung zu ermitteln, kann man entweder die Gleichung selbst nutzen oder aber die zugehörige Modulform untersuchen.
Frenkel erkannte schnell, dass das geometrische Langlands-Programm mit bestimmten Bereichen aus der Physik zusammenhängt. Denn gerade im Bereich der Quantenphysik spielen riemannsche Flächen eine wichtige Rolle. Langlands zeigte sich da skeptisch: »Wenn ein Mathematiker behauptet, ein Projekt wie das Langlands-Programm habe irgendeine physikalische Bedeutung«, erklärte er in einem Artikel von »The Walrus«, »wird er die Leute zwangsläufig enttäuschen.«
»Ich denke, dass uns das Langlands-Programm einiges über Quantentheorien beibringen kann«Edward Frenkel, Mathematiker
Tatsächlich ließ sich das Langlands-Programm bisher nur auf physikalische Theorien übertragen, die über Symmetrien verfügen, die wir in unserer Welt nicht vorfinden. Aber Frenkel ist optimistisch: »Ich denke, dass uns das Langlands-Programm einiges über Quantentheorien beibringen kann.«
Die Überschneidung mit der Physik ließ sich aber bereits in umgekehrter Richtung nutzen. »Frenkels Arbeit spielte in den 1990er Jahren eine entscheidende Rolle zur Entwicklung des geometrischen Langlands-Programms, als er Werkzeuge der mathematischen Physik einbrachte«, sagt der Mathematiker Dennis Gaitsgory vom Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn, der diese Ideen zusammen mit Frenkel in den 2000er Jahren weiter ausarbeitete.
Das ist auch einer der Gründe, warum das geometrische Langlands-Programm trotz holprigen Starts deutlich schneller Fortschritte machte als die zahlentheoretische oder algebraische Version. »Die Werkzeuge der Zahlentheorie sind eingeschränkter«, erklärt Gaitsgory. »Man kann mit Garben viel mehr machen als mit Funktionen – technisch gesehen können Garben miteinander reden, während Funktionen taub sind.«
Konflikt mit dem Urheber der Theorie
Doch nicht alle waren von den Fortschritten begeistert. »Langlands mochte die Garben-Version nie«, sagt Frenkel. Grund für seine Abneigung ist Frenkel zufolge die mathematische Kultur, aus der Langlands stammt. In den 1960er und 1970er Jahren spaltete sich die Mathewelt in zwei Lager. Auf der einen Seite waren Menschen wie Alexander Grothendieck, welche das Fach durch eine übergeordnete Perspektive voranbrachten, die dazu abstrakte Konzepte wie Garben einführten. Anhänger des anderen Lagers, zu dem Langlands zählt, warfen ihnen manchmal vor, die Bodenhaftung zu verlieren – die hervorgebrachten Strukturen sind so abstrakt, dass sich nur selten konkrete Berechnungen damit durchführen lassen. Frenkels Einschätzung teilt der Mathematiker Sam Raskin von der Yale University, der am Beweis des geometrischen Langlands-Programms beteiligt war: »Ich habe den Eindruck, dass Langlands diese Art des Denkens nicht mag, was teilweise auf eine Abneigung gegen Garben zurückzuführen ist.«
Kurz vor seiner Auszeichnung mit dem Abelpreis im Jahr 2018 veröffentlichte Langlands deshalb im Alleingang einen Gegenentwurf, um die geometrische Langlands-Vermutung von Grund auf neu aufzubauen. Statt Garben sollten Funktionen eine Rolle spielen, wie bei den anderen Korrespondenzen auch. Allerdings verfasste er die Arbeit auf Russisch. »Ich wollte schon immer mal eine Arbeit auf Russisch veröffentlichen«, sagte Langlands in einem Video, das bei der Abelpreis-Zeremonie ausgestrahlt wurde. Schnell mutmaßten Fachleute, dies sei ein Seitenhieb auf seinen russischstämmigen Kollegen Frenkel, was Langlands aber dementierte.
Der mathematischen Community fiel es schwer, die neuen Ideen von Langlands nachzuvollziehen. Das lag nicht nur an der Sprache. Auch der Inhalt der Arbeit schien nicht ganz stimmig. Bei einer Konferenz, die Langlands zu Ehren veranstaltet wurde, stellte ausgerechnet Frenkel die neuen Ideen seines Idols vor. Aber auch ihn überzeugte die Arbeit nicht ganz. Sie sei »weit weniger rigoros als das, was die geometrische Theorie in den letzten 30 Jahren hervorgebracht hat«, sagte Frenkel in einem Artikel von »The Walrus«. Damit behielt er Recht.
Der lang ersehnte 1000-seitige Beweis
Von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt luden im Mai 2024 neun Mathematiker (Gaitsgory, Raskin, Nick Rozenblyum von der University of Toronto, Joakim Faergeman von der Yale University, Dima Arinkin von der University of Wisconsin, Dario Beraldo vom University College London, Lin Chen von der Tsinghua University in Peking, Justin Campbell und Kevin Lin von der University of Chicago) fünf Arbeiten auf einer Website des Max-Planck-Instituts für Mathematik in Bonn hoch: Fast 1000 Seiten voller komplizierter Argumentationen, die das geometrische Langlands-Programm beweisen. Damit steht fest: Das Wörterbuch, von dem Langlands vor knapp 60 Jahren geträumt hatte, existiert. Bisher allerdings nur auf der geometrischen Seite – einem Bereich, in dem es Langlands nicht vermutet hatte.
Der Weg zu diesem monumentalen Ergebnis begann elf Jahre zuvor, als Gaitsgory einen groben Fahrplan veröffentlichte. Darin erklärte er, welche Schritte nötig wären, um das geometrische Langlands-Programm zu beweisen. Er hatte viele verschiedene Aussagen gesammelt, die noch belegt werden mussten. 2017 verfasste er zusammen mit Rozenblyum zwei Bücher über Garben. In diesen erwähnten sie das Langlands-Programm kaum, doch sie legten damit einige Grundlagen für die kommenden Schritte.
»Das war auf jeden Fall überraschend. Ich hatte ein paar unerwartete Einfälle, die gut funktioniert haben«Sam Raskin, Mathematiker
Dabei ergaben sich immer wieder allerlei technische Schwierigkeiten, erklärt Raskin. Als 2020 die Coronapandemie ausbrach, nutzten er und Gaitsgory die freie Zeit, um vermehrt über die noch offenen Probleme nachzudenken und sich mit ihren Kollegen auszutauschen. Und schließlich kam es zum Durchbruch. »Das war auf jeden Fall überraschend«, sagt Raskin. »Ich hatte ein paar unerwartete Einfälle, die gut funktioniert haben.« Nach den Fortschritten durch Raskin sei klar gewesen, dass der Beweis kurz bevorstand, sagt Gaitsgory. Und tatsächlich – ein paar Monate später hatten sie alles Nötige beisammen, um nichtzusammenziehbare Schleifen auf riemannschen Flächen mit Garben zu verbinden.
Ob die Arbeiten korrekt sind, wird sich in den kommenden Monaten zeigen – aktuell arbeiten sich zahlreiche hochrangige Mathematiker durch die Argumentationen. Das nimmt viel Zeit in Anspruch, zumal es nur etwa 100 Menschen auf der Welt gibt, die sich in diesem hochkomplexen Gebiet auskennen. »Das ist definitiv ein Problem«, sagt Raskin. »Wir veranstalten Kurse, um anderen unsere Ideen näherzubringen und auch Studierenden die technischen Details zu erklären.«
Große Zweifel an der Richtigkeit hegt die Fachwelt allerdings nicht. »Sie haben bereits etablierte mathematische Methoden benutzt«, sagt Frenkel. »Selbst wenn es Unstimmigkeiten gibt, sind sie wahrscheinlich nicht allzu schwerwiegend und lassen sich schnell beheben.«. Dem stimmt auch Peter Scholze zu, der selbst Teile des Beweises untersucht: »Soweit mir bekannt ist, gibt es keine ernsthaften Bedenken zur Beweisstrategie. Es wird jetzt einfach eine Weile dauern, bis der Beweis von der Community verdaut wurde. Das ist ein lebendiger Prozess ohne klaren Anfang und Ende.«
Scholze will die Beweisideen auf die zahlentheoretische Seite des Langlands-Programms übertragen. Denn 2021 hatte er gemeinsam mit seinem Kollegen Laurent Fargues vom Institut de Mathématiques de Jussieu in Paris die Gebiete der Geometrie und Zahlentheorie näher zusammengebracht: Sie konstruierten die so genannte Fontaine-Fargues-Kurve, die Inhalte der zahlentheoretischen Seite auf die geometrische Seite verfrachten kann und umgekehrt. Diese Kurve könnte nun die Beweismethoden von der einen Seite des Rosetta-Steins zur anderen bringen. »Für viele Ideen scheint dies zu funktionieren, aber an mancher Stelle muss man anders argumentieren«, sagt Scholze.
Zahlreiche Forscherinnen und Forscher halten Scholzes Bemühungen für viel versprechend. »Ich bin sehr angetan von Scholzes Vision, die neue geometrische Ideen in die tiefsten Bereiche der Arithmetik einführen könnte«, sagt Raskin. »Jeglicher Fortschritt hätte dabei nicht nur große Auswirkungen auf das Langlands-Programm, sondern auf große Teile der gesamten Mathematik.«
Ein viertes Wörterbuch
Langlands hat sich bisher nicht öffentlich zu dem Beweis geäußert. Doch auch seine 2018 vorgebrachten Ideen, das geometrische Programm von Grund auf umzuformulieren, tragen inzwischen Früchte. Frenkel nahm mit weiteren Kollegen den Gedanken auf und hat eine neue Korrespondenz auf der geometrischen Seite aufgebaut, die ganz ohne Garben auskommt. »Langlands hatte Recht mit seiner Meinung, dass es auch ohne Garben funktionieren müsse«, sagt Frenkel. »Und tatsächlich wird die Korrespondenz dadurch viel präziser, mit greifbareren mathematischen Objekten.« Er sieht hier ebenfalls Anwendungspotenzial in der Physik.
So ist Ende der 2010er Jahre nun ein viertes, »analytisches« Langlands-Programm entstanden. Und damit gibt es die Aussicht auf ein weiteres mathematisches Wörterbuch. Wer weiß, wie viele andere noch ihrer Entdeckung harren? Je genauer die Fachleute hinsehen, desto mehr Verbindungen zwischen scheinbar weit entfernten Gebieten offenbaren sich.
Weils ursprüngliche Vision eines Rosetta-Steins, der zwischen drei Sprachen übersetzt, entwickelt sich immer mehr zu einem polyglotten Babelfisch
Diese Verbindungen ermöglichen es den verschiedenen Bereichen, miteinander zu sprechen. Damit entwickelt sich Weils ursprüngliche Vision eines Rosetta-Steins, der zwischen drei Sprachen übersetzt, immer mehr zu einem polyglotten Babelfisch, wie ihn der Schriftsteller Douglas Adams in seinem beliebten Sciencefiction-Roman »Per Anhalter durch die Galaxis« beschrieb: ein Lebewesen, das in das Ohr einer Person kriecht und dort simultan jegliche Sprache übersetzt.
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