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Thermodynamik: 150 Jahre alte Regel hat doch Ausnahmen

Die gibbssche Phasenregel galt bisher für alle Stoffe und Gemische. Nun finden Fachleute eine Ausnahme. Sie existiert bisher aber nur im Computer.
Eiswürfel auf blauem Hintergrund

Eine Mischung aus stabförmigen Molekülen widerspricht einer lange bestehenden Regel der Thermodynamik. Das geht aus einer Computersimulation hervor, die ein Team um den Chemiker Remco Tuinier von der Technischen Universität Eindhoven durchgeführt hat. Demnach können bei einer solchen Mischung fünf Phasen nebeneinander existieren statt der drei, die seit den 1870er Jahren als Maximum galten. Damals stellte der Physiker Josiah Willard Gibbs fest, dass ein Stoff im thermodynamischen Gleichgewicht in maximal drei chemisch und physikalisch einheitlichen Konfigurationen, den Phasen, gleichzeitig nebeneinander existieren kann.

Wasser zum Beispiel existiert am Tripelpunkt, einer bestimmten Kombination aus Temperatur und Druck, als Gas, Flüssigkeit und Festkörper gleichzeitig. Es gibt eine große Vielzahl solcher Tripelpunkte bei den unterschiedlichsten Stoffen und Gemischen, an denen etwa Feststoffe mit unterschiedlichen Kristallstrukturen stabil sind – allerdings gab es bisher kein System, in dem mehr als drei Phasen gleichzeitig existierten.

Das System, das die Arbeitsgruppe nun in den »Physical Review Letters« vorstellt, geht darüber hinaus. Es besteht jedoch nicht nur aus einem Einzelstoff, sondern aus drei Komponenten: zum einen den stäbchenförmigen Molekülen und zum anderen flexiblen Polymerkugeln, die gemeinsam in einer Flüssigkeit gelöst sind. Dank dieser Kombination kommen bei den Stäbchen die exotischen Eigenschaften von Flüssigkristallen zum Tragen; diese Stoffe können gleichzeitig flüssige und kristalline Eigenschaften haben. Sind genug der Stäbe in der Lösung, ordnen sie sich wegen ihrer Form parallel zueinander an, selbst wenn das Gemisch noch flüssig ist.

Deswegen können Flüssigkristalle verschiedene, komplexe flüssige Phasen nebeneinander bilden, je nach Anordnungsmöglichkeiten. Aber auch hier hatte man zuvor nie mehr als drei Phasen gleichzeitig beobachtet, obwohl Flüssigkristalle inzwischen viele technische Anwendungen haben. Das ändern jedoch die Polymerkugeln in der Mischung – und die Entropie. Steigt nämlich die Konzentration der Stäbchen in der Lösung, engen sie die flexiblen Polymere ein, so dass ihre Entropie sinken würde. Das aber geht in einem abgeschlossenen System nicht.

Deswegen entstehen, bezogen auf die Stäbchen, spontan zwei flüssige Phasen, die sich durch die Konzentration unterscheiden: eine, in der die Stäbchen nur gemeinsam ausgerichtet sind, und eine andere, in der sie sich zu Schichten anordnen. Daneben können, wie das Team um Tuinier zeigte, zwei unterschiedliche feste Kristalle aus den Stäbchen entstehen, sowie eine »gasförmige« Phase, in der die Stäbchen völlig ungeordnet umherschwimmen. Bisher existiert dieser »Quintupelpunkt« zwar nur in der Computersimulation. Die Arbeitsgruppe sagt jedoch, man könne das System im Labor nachbauen – und damit zeigen, dass ein zentraler Satz der Thermodynamik eben doch mehr Faustregel als ehernes Gesetz ist.

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