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Rekordkulisse vor mehr als 100 Jahren: Der vergessene Höhenflug des Frauenfußballs

Anfang der 1920er Jahre zogen britische Frauenfußballteams zehntausende Zuschauer in die Stadien. Dann aber setzte der männerdominierte Fußballverband zur Blutgrätsche an.
Eine Gruppe von Frauen in gestreiften Fußballtrikots und Mützen steht in einer Reihe auf einem Fußballfeld. Sie haben die Arme verschränkt und lächeln in die Kamera. Eine Frau hält einen Fußball. Im Hintergrund sind Zuschauer zu sehen. Die Szene vermittelt den historischen Kontext eines Frauenfußballteams.
Der 1917 gegründete Verein mit dem vollen Namen »Dick, Kerr Ladies FC« trat zu seinen Spielen in schwarz gestreiften Trikots und blauen Hosen an, so auch hier bei seiner USA-Reise im Jahr 1922.

Die Plätze im Goodison Park, einem Stadion in Liverpool, waren bis unters Dach gefüllt. Die Zuschauer standen bereits dicht an dicht, da schoben sich über die Zugänge noch weitere Besucher auf die Tribünen. Rund 53 000 Menschen schafften es hinein, mehr als 10 000 mussten wegen Überfüllung abgewiesen werden.

Es war der zweite Weihnachtsfeiertag 1920, der »Boxing Day«. Das Publikum interessierte sich an diesem Nachmittag aber nicht für die Fußballer des FC Everton, die hier üblicherweise ihre Heimspiele bestritten. Es wollte stattdessen die besten Frauenteams Englands sehen. Dick, Kerr Ladies gegen St. Helens Ladies.

53 000 Zuschauer, eine Rekordkulisse beim Vereinsfußball zwischen Frauen. Und es mussten fast 100 Jahre vergehen, bis dieser Rekord gebrochen wurde. Erst 2019 verfolgten fast 61 000 Menschen in Spanien das Aufeinandertreffen der Spielerinnen von Atlético Madrid und dem FC Barcelona.

Der Fußball der Frauen gilt auch heute, 2025, als junge Sportart im Wachstum. Die Ticketverkäufe, Einschaltquoten und Werbeerlöse steigen in vielen Ligen Europas. Auch bei der Europameisterschaft, die am 2. Juli in der Schweiz beginnt, könnten fast alle Spiele ausverkauft sein.

Den Eindruck einer jungen Sportart kann man in der Tat bekommen, betrachtet man, wann die jeweils ersten offiziellen Länderspiele wichtiger Frauennationalteams stattfanden: das der Schweiz im Jahr 1972, das von Deutschland erst 1982.

Kicken an der Heimatfront

Doch es hatte schon viel früher einen Boom gegeben. Einen Boom, der in Vergessenheit geriet – nicht zuletzt deshalb, weil der Frauenfußball in etlichen Ländern von einflussreichen Männern in mächtigen Verbänden verboten worden war.

Erste Spiele zwischen Frauenteams sind für England bereits in den 1880er Jahren dokumentiert. Doch seinen eigentlichen Anfang nahm der Sport im England des Ersten Weltkriegs. Zehntausende Männer mussten ihre Arbeit in Fabriken niederlegen, um in Übersee an der Front zu kämpfen. »Mehr und mehr Frauen übernahmen diese Jobs, und in ihrer Mittagspause spielten sie gern Fußball«, sagt die Schweizer Historikerin Marianne Meier, die gerade mit der Geschlechterforscherin Monika Hofmann ein Buch über die Geschichte des Frauenfußballs veröffentlicht hat. Der Titel: »Das Recht zu kicken«.

Marianne Meier und Monika Hofmann beschreiben darin auch das ambitionierte Fußballnetzwerk englischer Arbeiterinnen, mit Spielen zwischen Werkteams und schon bald mit tausenden Zuschauern. Der britische Premierminister David Lloyd George (1863–1945) unterstützte die Fußballerinnen. »Dadurch sollte die Akzeptanz für die Arbeit von Frauen während des Kriegs gestärkt werden«, sagt Marianne Meier.

In der Männerrolle | Spielerinnen laufen zu einem Match im Jahr 1919 auf. Wahrscheinlich handelt es sich um die Werksmannschaften des Flugzeughersteller Handley Page und der Sterling Telephone & Electric Company.

Besonders schnell verlief der Aufstieg des Frauenfußballs in Preston, einer mittelgroßen Stadt im Nordwesten Englands. Zu den wichtigsten Arbeitgebern dieser Region gehörte »Dick, Kerr and Company«, ein Hersteller von Lokomotiven und Tramwagen, der während des Krieges aber auch Granaten und Patronenkisten produzierte. Einige Arbeiterinnen trafen sich in den Pausen fürs gemeinsame Kicken in den Innenhöfen. Hin und wieder übten sie mit den Lederbällen Zielschießen auf die kleinen Fenster ihrer Umkleideräume.

Die Arbeiterin Grace Sibbert setzte sich besonders für den Aufbau des Fabrikteams ein, offenbar auch, um sich abzulenken. Ihr Ehemann war seit 1916 in deutscher Kriegsgefangenschaft. Sibbert warb bei Führungskräften von Dick, Kerr and Company um Unterstützung. Sie kam mit Alfred Frankland ins Gespräch. Der Büroangestellte erklärte sich bereit, das Team zu trainieren.

10 000 Besucher beim ersten Spiel

Alfred Frankland nutzte seine Kontakte und mietete das Deepdale-Stadion in Preston. In Anlehnung an ihre Fabrik bezeichneten sich die Fußballerinnen als Dick, Kerr Ladies. Gleich ihr erstes großes Spiel 1917 lockte rund 10 000 Zuschauer an. »Von Anfang an sammelten die Spielerinnen Spenden für Krankenhäuser und verwundete Soldaten. Jahrelang verknüpften sie ihre Spiele mit wohltätigen Zwecken«, sagt die Autorin Gail Newsham.

Newsham ist in den 1960er Jahren in Preston aufgewachsen und hat dort noch einige der Spielerinnen von Dick, Kerr Ladies persönlich kennen gelernt. Seit den 1990er Jahren erforscht sie nun die Geschichte dieses besonderen Teams. Sie hat Zeitzeugeninterviews geführt, Archive besucht, Filme ausgewertet. Und sie hat ihre Erkenntnisse über den historischen Kontext und die Anfänge der Teams in einem Buch zusammengetragen: »In A League Of Their Own!« (Eine Klasse für sich).

Wegen des Krieges, erklärt Newsham, hatten die obersten Ligen der Männer pausieren müssen. Auch deshalb besuchten Zehntausende die Benefizspiele der Dick, Kerr Ladies. Vor ihrem Auftritt in Blackburn etwa legten die Spielerinnen einen Kranz zum Gedenken an Edwin Latheron nieder. Der englische Nationalstürmer war als Soldat in Belgien gefallen.

Die Dick, Kerr Ladies lieferten unterhaltende Bilder in den Wochenschauen. Fotos zeigen sie in schwarz-weiß gestreiften Trikots und mit Hüten, die ihre Haare bedecken. Verschränkte Arme, Lächeln, selbstbewusste Blicke. Auf einigen Bildern ist Trainer Alfred Frankland mit Fliege und dreiteiligem Anzug zu sehen. Gegenüber Spielerinnen hob er zur Begrüßung stets den Hut. Dass einige von ihnen auch außerhalb des Fußballplatzes Hosen trugen, behagte ihm hingegen nicht.

Alfred Frankland trieb die Professionalisierung voran. Die Dick, Kerr Ladies waren in ganz England unterwegs und reisten für einige Spiele sogar bis nach Frankreich. Ihre Zuschauerzahlen und Spendeneinnahmen stiegen. Um noch mehr Publikum anzulocken, wurden einige Spiele in den Abend verlegt. Für das Flutlicht genehmigte Kriegsminister Winston Churchill zwei Scheinwerfer der Royal Air Force, Stromaggregate und Fackeln.

England vs. Frankreich | Die Spielführerinnen der französischen und der englischen Mannschaft, Carmen Pomies (links) und Florrie Redford, beim Münzwurf vor Spielbeginn. Beim Anpfiff des Benefiz-Länderspiels im Jahr 1925 sorgt der englische Unterhaltungskünstler George Robey (2. von rechts) für zusätzliche Prominenz.

Nach Feierabend auf dem Platz

»Die Spielerinnen gingen weiterhin ihrer Arbeit in der Fabrik nach«, sagt Gail Newsham, »sie waren keine Profis.« Allein 1921, auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, bestritten sie 67 Spiele vor insgesamt 900 000 Zuschauern. In jenem Jahr musste Alfred Frankland weitere 120 Einladungen ablehnen. »Ein solcher Erfolg war im Frauenfußball einmalig«, sagt Newsham. »Doch dieser Erfolg wurde ihnen zum Verhängnis.«

Zu jener Zeit, nach dem Ersten Weltkrieg, waren tausende Soldaten nach England zurückgekehrt. Der Fußballspielbetrieb der Männer lief wieder an, es wurden neue Vereine und Wettbewerbe gegründet. Vor diesem Hintergrund wollte der englische Fußballverband FA offenbar möglichst viel Aufmerksamkeit auf die Männerspiele lenken und die Konkurrenz der Frauen zurückdrängen.

Und so startete die FA eine Kampagne gegen den Frauenfußball. Zum einen verbreitete sie den Vorwurf, dass einige Spendengelder zweckentfremdet worden seien, wofür sie keine Belege hatte. Zum anderen gab sie Medizinerinnen wie Elizabeth Chesser eine Bühne, die sagte: »Es ist immer ein raues Spiel, aber für Frauen ist es viel schädlicher als für Männer. Sie können Verletzungen davontragen, von denen sie sich möglicherweise nie wieder erholen.«

Die britische Journalistin Barbara Jacobs verweist in ihrem Buch »The Dick, Kerr's Ladies« von 2004 noch auf eine politische Ebene. Denn in der Nachkriegszeit brachte eine Rezession die britische Industrie in Bedrängnis. In Wales und Schottland mussten tausende Bergbauarbeiter mit massiven Lohnkürzungen klarkommen. Die Dick, Kerr Ladies spielten auch in jenen Regionen vor einem großen Publikum und solidarisierten sich mit den Arbeitern.

Barbara Jacobs schlussfolgert: »Nun wurde Frauenfußball als Instrument zur Unterstützung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften eingesetzt. Man könnte sagen, dass er zu einem politisch gefährlichen Sport geworden war – zumindest für diejenigen, die die Gewerkschaften als ihre Feinde betrachteten.« Der Fußballverband, schreibt Jacobs, sei über die »Einmischung von Frauen in die Politik« entsetzt gewesen.

Die Football Association würgt den Frauenfußball ab

Am 5. Dezember 1921, fast ein Jahr nach der Rekordkulisse im Goodison-Park von Liverpool, verbot die FA die Nutzung ihrer Stadien und Fußballplätze für Frauen. Zudem war es Verbandsmitgliedern untersagt, als Schiedsrichter und Linienrichter im Frauenfußball aktiv zu sein. Alice Kell, eine der Spielerinnen, kommentierte die Entscheidung so: »Wir konnten es nur auf Neid schieben, denn wir waren beliebter als die Männer.«

© British Pathé
Duell zweier unbekannter Mannschaften
Auch die beliebte Stummfilm-Wochenschau »Pathé News« berichtete immer wieder über die Spiele zwischen Frauenteams. Dieser Film zeigt Ausschnitte eines Matchs zur Zeit des Ersten Weltkriegs.

Die Dick, Kerr Ladies mussten in England auf kleinere, schlechtere Plätze ausweichen. 1922 reisten sie für eine Tour durch Nordamerika zunächst nach Kanada, wo ihnen der dortige Fußballverband, unter dem Einfluss der Briten, jedoch jegliche Spiele gegen kanadische Teams untersagte. Daraufhin reisten sie in die USA, wo sie mehrfach gegen Männerteams antraten, und bei neun Spielen drei Siege und drei Unentschieden herausholten.

»Es war ein Tabu, dass Frauen im Sport gegen Männer antreten«, sagt die Journalistin und Autorin Alina Schwermer, die sich mit Gleichstellungsfragen im Sport befasst. »Spätestens zu diesem Zeitpunkt kam bei den Dick, Kerr Ladies eine frauenkämpferische Dimension hinzu.«

Die Fußballerinnen aus Preston blieben in den 1930er Jahren und später nach dem Zweiten Weltkrieg populär, aber sie sollten nie wieder die Zuschauerzahlen aus ihrer Anfangszeit erreichen. Der Verein existierte bis 1965. Von den 755 dokumentierten Spielen gingen nur 34 verloren.

Erst 1971 zog der Fußballverband FA sein Verbot wieder zurück, fast 50 Jahre nach der Einführung. Es begann eine Zeit, in der etliche Verbände Europas den Frauenfußball wieder zuließen. Sie duldeten ihn zumindest, aber eine angemessene Förderung begann erst Jahrzehnte später.

Ein knappes Jahrhundert später …

Einen weiteren Boom erlebt der Frauenfußball in Großbritannien seit den 2010er Jahren, ausgelöst durch die Olympischen Sommerspiele von London im Jahr 2012 und durch die Europameisterschaft, die die Engländerinnen 2022 im eigenen Land gewannen.

»Im Zuge dieser Professionalisierung suchen Wissenschaft und Medien stärker nach den Ursprüngen«, sagt Alina Schwermer. So entstanden Dokumentationen, Ausstellungen und Theaterstücke über die Dick, Kerr Ladies, durchaus mit kreativen Titeln: »Our Girls Our Game«. »No Man's Land«. »Famous and Forgotten«.

2019 wurde im Nationalen Fußballmuseum von Manchester eine Bronzestatue eingeweiht, die an Lilly Parr erinnert, an die talentierteste Stürmerin der Dick, Kerr Ladies. Laut FA hatte es bis zu diesem Zeitpunkt 110 Statuen für männliche Spieler gegeben. Nun erinnert eine erste Statue an eine Frau, mehr als 100 Jahre nach dem historischen Spiel im Goodison Park. Als die Zuschauer dicht an dicht standen, bis unters Dach.

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