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Klimawandel: 2036 überschreitet die Erde eine gefährliche Klimaschwelle

Momentan stagniert die Erderwärmung angeblich auf hohem Niveau. Doch damit sind die Gefahren des Klimawandels noch nicht gebannt, mahnt der US-Klimaforscher Michael Mann. Schon in 20 Jahren könnte eine kritische Grenzlinie durchbrochen werden.
Erde im Klimawandel

"Seit 15 Jahren verläuft die Temperaturkurve flach – und niemand kann dies sauber erklären", schreibt das "Wall Street Journal". "Die Erwärmungspause könnte noch weitere 20 Jahre andauern. Und das arktische Eis beginnt sich bereits zu erholen", posaunt die "Daily Mail". Derart beruhigende Behauptungen häufen sich in den Massenmedien, doch sind sie bestenfalls irreführend. Denn die globale Erderwärmung schreitet unvermindert voran und bleibt ein drängendes Problem.

Die Missverständnisse rühren von Daten aus dem letzten Jahrzehnt her: Sie zeigen eine Verlangsamung des durchschnittlichen Temperaturanstiegs auf der Erde – ein Prozess, der im Allgemeinen als "die Pause" tituliert wird. Doch der Begriff ist falsch gewählt: Die Temperaturen sind weiter nach oben gegangen, nur eben langsamer als ein Jahrzehnt davor. Die entscheidende Frage lautet, worauf diese kurzfristige Tempodrosselung für die zukünftige Erderwärmung hindeutet.

Hockeyschlägerkurve | An dieser Grafik scheiden sich die Geister: Vielen Klimaforschern gilt sie als Beleg für die starke Erderwärmung der letzten Jahrzehnte. Das so genannte Hockeyschläger-Diagramm stammt aus einer 1999 veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchung von Michael Mann von der Pennsylvania State University. Die Grafik zeigt die rekonstruierte und seit dem 19. Jahrhundert gemessene Entwicklung der globalen Durchschnittstemperatur während der letzten 1000 Jahre: Unverkennbar ist die starke Erwärmung seit dem Zweiten Weltkrieg. Kritiker monieren, dass die Kurve auf Grund von statistischen und rechnerischen Fehlern ein Artefakt sei. Zahlreiche weitere Rekonstruktionen, die die vorherigen Kritikpunkte berücksichtigen, zeigen jedoch den gleichen Trend.

Der Weltklimarat IPCC ist verantwortlich dafür, Antworten auf diese Frage zu finden. Im Einklang mit den neuen Daten senkte der IPCC in seinem Bericht vom September 2013 einen Teil seiner Prognosen der zukünftigen Erderwärmung. Seine Prognosen, die alle fünf bis sieben Jahre herauskommen, bestimmen die weltweite Klimaschutzpolitik. Deshalb sorgte sogar die kleine Änderung im letzten Report für Debatten, wie schnell sich die Erde erwärme und wie viel Zeit uns noch bliebe, um die Entwicklung aufzuhalten. Der IPCC hat erst jetzt begonnen – in den Monatsberichten von März und April  –, sich zu den Folgen des Klimawandels zu äußern und darüber, wie man diese abmildern könnte. Ich habe daher einige Berechnungen durchgeführt, die zeigen, was passieren könnte: Sollte die Weltgemeinschaft weiterhin so viele fossile Energieträger verfeuern wie gegenwärtig, überschreiten wir im Jahr 2036 eine kritische Schwelle, die in den ökologischen Zusammenbruch führt. Die "gekünstelte Pause" beschert dem Planeten vielleicht ein paar zusätzliche Jahre, die wir für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen nutzen könnten, um den Zusammenbruch zu verhindern – doch viele werden es nicht sein.

Heikle Debatte

Die Dramatik des Klimawandels erregte 2001 die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, als der IPCC eine von mir und Kollegen erstellte Grafik veröffentlichte, die als Hockeyschlägerkurve berühmt wurde. Der "Stiel" des Schlägers zeigte nur geringe Temperaturveränderungen auf der Nordhalbkugel während der letzten 1000 Jahre – des Zeitraums, den unsere Daten umfassten. Das steil aufrecht ragende "Schlagblatt" am rechten Ende der Linie deutete hingegen einen plötzlichen und beispiellosen Anstieg seit Mitte des 19. Jahrhunderts an. Dieses Diagramm wurde zum Blitzableiter der Klimawandeldebatte, und ich wurde gegen meinen Willen zur öffentlichen Person. Im Bericht aus dem letzten September verlängerte der IPCC die Kurve in die Vergangenheit – und kam zum Schluss, dass die gegenwärtige Erwärmung mindestens für die letzten 1400 Jahre einmalig ist.

Die Erde hat sich also während des letzten Jahrhunderts außergewöhnlich stark aufgeheizt. Um abzuschätzen, wie weit die Temperaturen zukünftig noch steigen, müssen wir wissen, wie das Klima auf die weitere Zufuhr an anthropogenen Treibhausgasen – allen voran das Kohlendioxid – reagiert. Wissenschaftler bezeichnen dies als die so genannte Klimasensitivität (ECS, equilibrium climate sensitivity): Sie ist eine gängige Messgröße, um den aufheizenden Effekt der Treibhausgase zu ermitteln. Sie gibt die Erwärmung an der Erdoberfläche wieder, nachdem sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre verdoppelt und sich das Klima wieder relativ stabilisiert hat – das heißt ein neues Gleichgewicht erreicht hat.

Der vorindustrielle CO2-Gehalt lag bei rund 280 Teilchen pro Million Teilchen (parts per million, ppm), die doppelte Menge liegt also bei 560 ppm. Viele Klimaforscher gehen davon aus, dass wir diesen Wert in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts erreichen, wenn wir weiterhin ungebremst fossile Brennstoffe verheizen, anstatt den Verbrauch einzuschränken – ein Szenario, das als "business as usual" tituliert wird. Je empfindlicher die Atmosphäre auf den CO2-Anstieg reagiert, desto höher liegt die ECS und desto schneller steigt die Temperatur. Kurz: ECS umschreibt das Ausmaß der erwarteten Erwärmung, wenn man ein bestimmtes Emissionsszenario zu Grunde legt.

Welche Rückkopplungen wirken?

Erschwert wird eine exakte Bewertung der ECS durch verschiedene Rückkopplungsmechanismen, die die Erderwärmung beeinflussen, darunter die Bewölkung, Eisbedeckungen und andere Faktoren. Unterschiedliche Klimamodelle kommen zu abweichenden Schlüssen, wie stark diese einzelnen Einflüsse zu gewichten sind. Wolken könnten vielleicht am bedeutendsten sein, da sie sowohl kühlend als auch erwärmend wirken können, etwa indem sie die Sonneneinstrahlung abschirmen oder die Ausstrahlungen von der Erde ins All reduzieren. Was davon überwiegt, hängt von Art, Verteilung und Höhe der jeweiligen Wolken ab, was Klimamodelle nur schwer vorhersagen können. Andere Faktoren beziehen sich auf die Wasserdampfgehalte in der wärmeren Atmosphäre und wie schnell sich Gletscher und das Meereis zurückziehen.

Kohlendioxidgehalte in der Atmosphäre | Mindestens während der letzten 400 000 Jahre (nach anderen Darstellungen aber eher sogar während der letzten 800 000 Jahre) lagen die Kohlendioxidgehalte in der Atmosphäre deutlich niedriger als heute. Das galt sogar in Zeiten zwischen den Eiszeiten, als sich die Erde erwärmt hatte. Die Daten beruhen auf Kohlendioxidkonzentrationen in verschiedenen Eisbohrkernen.

Angesichts dieser Unsicherheiten gibt der IPCC nicht eine einzige Kennzahl für die ECS an, sondern eine Bandbreite. Im fünften und bislang letzten Bericht lag der Wert zwischen 1,5 und 4,5 Grad Celsius. Damit hatte der IPCC das untere Ende der Spanne von zwei Grad Celsius aus dem vierten Report aus dem Jahr 2007 etwas gesenkt – basierend auf einer einzigen Kenngröße: der verlangsamten Aufwärmung während der letzten zehn Jahre: der vermeintlichen Pause!

Viele Klimaforscher sind wie ich der Meinung, dass ein einziges Jahrzehnt als Zeitraum viel zu kurz ist, um die Erderwärmung tatsächlich genau abzuschätzen, und dass sich der IPCC über Gebühr von dieser einzelnen, kurzfristigen Tendenz beeinflussen ließ. Zudem widersprechen andere Erklärungen für diese Tempodrosselung nicht den vorherrschenden Hinweisen, dass die Temperaturen weiter steigen werden. Die geballten Auswirkungen verschiedener starker Vulkanausbrüche wie am Eyjafjallajökull während der letzten zehn Jahre könnten die Erde stärker abgekühlt haben, als in den meisten Klimasimulationen vorhergesehen wurde. Es gab also vielleicht einen leichten, aber messbaren Rückgang der Sonneneinstrahlung, den die IPCC-Berechnungen nicht berücksichtigt hatten.

Natürliche Schwankungen in der Wärmemenge, die Ozeane aufnehmen können, haben wahrscheinlich eine wichtige Rolle gespielt. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts dominierten La-Niña-Bedingungen im östlichen und zentralen tropischen Pazifik, weshalb die globalen Durchschnittstemperaturen um 0,1 Grad Celsius niedriger lagen als im langjährigen Mittel. Verglichen mit der langfristigen Aufheizung des Planeten stellt dies einen kleinen Effekt dar, doch auf kurze Zeiträume gesehen, ist die Abweichung beträchtlich. Und schließlich deutet eine relativ neue Studie an, dass die Erwärmung wegen lückenhafter Daten aus der Arktis unterschätzt worden war.

Keine dieser plausiblen Erklärungen würde bedeuten, dass das Erdklima weniger empfindlich auf steigende Treibhausgasmengen reagiert. Ebenso wenig unterstützen andere Messverfahren die neue Untergrenze des IPCC. Zusammengefasst deuten alle Belege eher auf einen ECS-Wert, der um 3 Grad Celsius liegt; die Klimamodelle, die der IPCC aktuell in seinem fünften Sachstandsbericht verwendet hat, legen sogar noch höhere 3,2 Grad Celsius nahe. Mit anderen Worten: Die IPCC-Untergrenze für die ECS hat sehr wahrscheinlich keine Bedeutung für das zukünftige Weltklima – genauso wie die angebliche Pause.

Schicksalsjahr 2036?

Betrachten wir der Sachlichkeit halber tatsächlich die Pause als solche: Was würde es bedeuten, wenn die tatsächliche ECS ein halbes Grad niedriger läge als bislang angenommen? Würde es etwas an den Risiken ändern, die durch ungebremstes Verfeuern von Kohle und Öl entstehen? Wie schnell würde die Erde eine kritische Schwelle überschreiten?

Erderwärmung | Abweichungen der Durchschnittstemperaturen der Jahre 2005 bis 2009 verglichen mit der Zeit von 1951 bis 1980: Gelbe und rote Töne geben höhere, blaue Farben kühlere Werte wieder. Im globalen Rahmen zeichnet sich eine deutliche Erwärmung ab, die in der Arktis besonders ausgeprägt ausfiel.

Die meisten Klimaforscher stimmen überein, dass eine Aufheizung um 2 Grad Celsius alle wichtigen Faktoren unserer Zivilisation schädigen wird: Ernährung, Wasser, Gesundheit, Böden, die nationale Sicherheit, Energie und Wohlstand. Die ECS zeigt uns an, wann dies eintreten wird, wenn wir so weitermachen wie bisher.

Kürzlich habe ich hypothetische zukünftige Temperaturkurven berechnet, indem ich verschiedene ECS-Werte in so genannte Energiebilanzmodelle packte. Wissenschaftler nutzen diese, um mögliche Klimaszenarien zu untersuchen. Das Computermodell legt fest, wie durchschnittliche Oberflächentemperaturen auf sich verändernde natürliche Faktoren wie Vulkanausbrüche oder die Sonne und auf menschliche Einflüsse wie Treibhausgasemissionen, Luftverschmutzungen und Ähnliches reagieren. Dann ließ ich diese Modelle unter der Annahme in die Zukunft projizieren, dass wir weiter wie bisher emittieren – immer wieder und für ECS-Werte, die von den erwähnten 1,5 Grad Celsius bis zur IPCC-Obergrenze von 4,5 Grad Celsius reichten. Die Kurven für die ECS-Werte von 2,5 und 3 Grad Celsius stimmten am besten mit den bisher erfassten Messwerten überein, während die Graphen zu 1,5 und 4,5 Grad Celsius überhaupt nicht dazu passten – was den Eindruck verstärkt, dass sie unrealistisch sind.

Zu meiner Überraschung entdeckte ich, dass wir bereits 2036 die kritische Schwelle von 2 Grad Celsius Erwärmung bei einem Gesamtanstieg von 3 Grad Celsius überschreiten werden – also in nur 22 Jahren. Bei einem ECS-Wert von 2,5 Grad Celsius würde dies 2046 passieren, also nur zehn Jahre später. Selbst wenn wir den niedrigeren ECS-Wert akzeptieren würden, bedeutete das nicht das Ende der Erderwärmung, ja nicht einmal eine Pause. Es verschafft uns nur etwas mehr Zeit – wertvolle Zeit –, um die Erde vor dem Überschreiten der kritischen Grenze zu bewahren.

Vorsichtiger Optimismus

Aus diesen Ergebnisse folgt, was wir alle tun müssen, um die Katastrophe abzuwenden. Eine ECS von 3 Grad Celsius bedeutet, dass wir die CO2-Konzentrationen weit unter dem doppelten vorindustriellen Wert halten müssen, wenn wir die anthropogene Klimaerwärmung langfristig auf weniger als 2 Grad Celsius beschränken wollen. Der Wert läge dann also eher bei 450 ppm. Ironie der Geschichte ist es, dass wir die Emissionen sogar noch weiter drosseln müssen, wenn wir deutlich weniger Kohle verbrennen. Denn dies reduziert nicht nur die CO2-Emissionen, sondern auch die Luftverschmutzung in Form etwa von Schwefelpartikeln, die die Sonneneinstrahlung vermindert. Dann müssten wir das CO2 unter 405 ppm halten.

Doch wir sind bereits auf dem besten Weg dorthin: 2013 übertraf die CO2-Konzentration der Atmosphäre erstmals seit Beginn moderner Aufzeichnungen die 400-ppm-Grenze – und vielleicht auch schon zum ersten Mal seit Millionen Jahren in der Erdgeschichte, wenn man die geologischen Daten heranzieht. Um die 450-ppm-Grenze nicht zu brechen, müssten wir praktisch sofort aufhören, weitere fossile Energieträger zu verfeuern. Um den 450-ppm-Schwellenwert zu vermeiden, dürften wir nur noch wenige Jahre weitermachen wie bisher und müssten dann jedes Jahr die Emissionen um mehrere Prozent verringern. Das ist ein ambitioniertes Ziel. Sollte die ECS tatsächlich nur 2,5 Grad Celsius betragen, wäre es etwas leichter zu erreichen.

Selbst dann müssten wir uns aber immer noch beträchtlich sorgen. Denn die Schlussfolgerung, dass ein CO2-Gehalt von weniger als 450 ppm die Erderwärmung unter 2 Grad Celsius hält, basiert auf einer zurückhaltenden Definition der Klimasensitivität: Sie berücksichtigt nur so genannte schnelle Rückkopplungen im Klimasystem wie Wolken, Wasserdampf und schmelzendes Meereis. Einige Forscher wie James E. Hansen, der frühere Leiter des NASA Goddard Institute for Space Studies, hingegen meinen, man müsse auch langsamere Schleifen wie Veränderungen kontinentaler Eisschilde berücksichtigen. Bezieht man sie ein, so Hansen und Co, müssten wir den atmosphärischen Kohlendioxidgehalt auf Werte zurückfahren, wie er etwa Mitte des 20. Jahrhunderts geherrscht hat – also auf rund 350 ppm. Das ließe sich jedoch nur mit aktivem und kostspieligem, technischem CO2-Entzug aus der Atmosphäre machen.

Zudem ist die Ansicht, 2 Grad Celsius Erwärmung wären verkraftbar, sehr subjektiv. Sie basiert darauf, ab welchem Zeitpunkt der größte Teil des Planeten potenziell irreversiblen Klimaveränderungen ausgesetzt wäre. Doch zerstörerische Veränderungen finden mancherorts bereits statt. In der Arktis zum Beispiel verheeren schmelzendes Meereis und tauende Permafrostböden schon heute die Lebensbedingungen für Mensch und Tier. Flache Inselstaaten leiden unter steigenden Meeresspiegeln, die ihr Land erodieren und das Trinkwasser versalzen. Hier schädigt der Klimawandel aktuell und auch in naher Zukunft, denn die Temperaturen werden um mindestens 0,5 Grad Celsius weiter steigen – allein wegen des in der Vergangenheit bereits freigesetzten Kohlendioxids.

Wollen wir hoffen, dass sich die niedrigere ECS von 2,5 Grad Celsius als richtig erweist. Dann könnten wir vorsichtig optimistisch sein. Sie ermutigt uns darin, dass wie irreparablen Schaden von unserem Planeten fernhalten können. Falls wir – und nur falls wir – endlich akzeptieren, dass wir uns endlich aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern lösen.

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