80 Jahre nach Kriegsende: Letzte Ruhe für die Verschollenen

Auf einem kleinen Hügel unweit des Flusses Narew, der sich hier an einem Kiefernwald entlangschmiegt, liegt der Friedhof der polnischen Kleinstadt Ostrołęka. In der Mitte des knapp sieben Hektar großen Areals wacht eine kleine Kapelle über schier endlos viele Gräber. Ab und zu blitzt der Umriss eines Besuchers durch die Reihen. Mancher von ihnen bleibt an diesem sonnigen Märztag irritiert stehen, als Männerstimmen und das Schürfen von Schaufeln und Spaten die Stille durchbrechen.
»Nicht weit von hier verlief die Frontlinie zwischen der Roten Armee und der Wehrmacht. Wir vermuten, dass auf diesem Friedhof etwa 300 bis 400 deutsche Soldaten liegen, die hier im Herbst 1944 gestorben sind und begraben wurden«, erzählt Matti Milak. Gemeinsam mit seinem Team sucht er seit mehr als 20 Jahren für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge nach Kriegstoten. Im Auftrag der Bundesregierung geht der Verein der Aufgabe nach, die Weltkriegstoten im Ausland zu bergen, zu bestatten und ihre Gräber zu pflegen. Die Mitarbeitenden graben auf Feldern, in Sümpfen, in Wäldern – und auf Friedhöfen. In Ostrołęka, das ungefähr 120 Kilometer nördlich von Warschau liegt, stoßen sie auf ein Problem: »Große Teile des Friedhofs sind überbaut, weshalb wir nicht überall graben können. Es wird eine kleine Rettungsaktion, aber auch die ist wichtig.«
Nach Kriegsende hat die Gemeinde die eigene Bevölkerung über den Gräbern der deutschen Soldaten bestattet. Gegraben werden kann also nur zwischen den späteren Beisetzungen.
Hinunter zu den Kriegsgräbern von Ostrołęka
Vorsichtig heben die Männer Erdschicht um Erdschicht aus dem Boden, bis sie auf den so genannten Leichenschatten treffen. »Wenn die Erde dunkler wird, deutet das auf einen Verwesungsprozess hin«, erklärt Artur Berger, der als Umbetter beim Volksbund tätig ist. »Dann müssen wir besonders vorsichtig sein. Manchmal sind es nur noch 10 oder 15 Zentimeter, bis wir auf die Gebeine stoßen.« Der Boden gibt die ersten rötlich braunen Knochen frei. Behutsam streichen die Mitarbeiter die Erde mit einer Bürste weg, bis schließlich das komplette Skelett zum Vorschein kommt.
»Der Tote war noch jung. Das sieht man etwa an der Wachstumsfuge am Hüftknochen«, erläutert Berger, der für den Volksbund berufsmäßig Hinweisen auf Kriegsbestattungen nachgeht, die Toten birgt und auf Kriegsgräberstätten überführt. Wie sich später herausstellen wird, handelt es sich bei dem Skelett in Ostrołęka um einen 19-jährigen Soldaten, der bei einem Autounfall nahe der Front starb.
Der Verein besitzt Unterlagen über ehemalige Wehrmachtsfriedhöfe, Fotos und Listen, auf denen die so genannten Gräberoffiziere verzeichnet hatten, wo und in welcher Reihenfolge die Toten bestattet worden waren. Anhand dieser Dokumente versucht Berger, die genaue Lage der Gefallenengräber zu bestimmen.
Noch 80 Jahre nach dem Krieg sucht man die Toten
Warum macht man sich die Mühe, 80 Jahre nach Kriegsende tote Wehrmachtssoldaten zu exhumieren und auf einem Kriegsgräberfriedhof zu bestatten – zumal darunter ziemlich sicher auch Kriegsverbrecher sind? »Jeder Mensch hat ein Recht auf ein würdiges Grab«, sagt Berger. »Wir bewerten die Toten nicht.« Für ihn sei diese Arbeit Mahnung und aktive Friedensarbeit zugleich. »Man blickt anders auf das aktuelle politische Geschehen. Wohin die Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre geführt haben, habe ich jeden Tag vor Augen.«
Der Volksbund versteht sich als Organisation, die durch ihre Arbeit einen Beitrag zum Frieden leisten will. Der Verein betreut nicht nur Kriegsgräberstätten, sondern organisiert auch internationale Jugendbegegnungen, um das historische Bewusstsein zu schärfen und zur Völkerverständigung beizutragen. Wie eine »Aussöhnung über den Gräbern« aussieht, zeigt sich in Ostrołęka, wo es Polen sind, die die Gebeine von deutschen Wehrmachtssoldaten ausbetten, das heißt, sie aus ihren Gräbern heben.
Die Exhumierungen fördern auch allerlei persönliche Gegenstände zu Tage: Taschenuhren, Bilder, eine Puppe für das Kind. »Dann fragt man sich schon: Wie war er wohl als Mensch?«, sagt Berger. »Und teilweise finden wir sehr junge Menschen. Millionen wurden so in den Tod geschickt.« Ein ganzes Leben, zerfallen in 206 Knochen.
In Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv versucht das Volksbundreferat »Gräbernachweis«, die Toten anhand der gefundenen Gegenstände, den Angaben zur Grabposition und den Archivunterlagen zu identifizieren. Von besonderer Bedeutung ist die Erkennungsmarke, die jeder Soldat bei sich trug. Im Todesfall wurde sie in zwei Hälften gebrochen. Eine verblieb beim Toten, die andere wurde zur Dokumentation an die zuständigen Behörden weitergeleitet. Seit 1993, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Abschluss zahlreicher Abkommen mit Ländern wie Russland und Polen, konnte der Volksbund erstmals systematisch Kriegsgräber in Mittel- und Osteuropa suchen. Seither liegt die Quote der identifizierten Kriegstoten bei etwa 30 Prozent. Allerdings nimmt sie Jahr für Jahr ab.
Mehr als 20 Tote wird der Volksbund in Ostrołęka innerhalb weniger Tage ausbetten – von insgesamt mehr als 300 Gefallenen. Wo liegt der Rest? Auf dem katholischen Friedhof reiht sich Grab an Grab, an kaum einer Stelle scheint noch ein Durchkommen zu sein. Matti Milak und Artur Berger gehen mit der Gräberliste durch die Reihen, schätzen, wo sich die anderen Gefallenen befinden könnten, und überlegen, wie man auf den winzigen Flächen zwischen den neuen Gräbern den Spaten ansetzen könnte. »Es ist ein harter Job. Wir graben bei jedem Wetter und in den entlegensten Winkeln. Aber wenn man aufgibt, lässt man die Toten und ihre Angehörigen im Stich«, sagt Berger.
Millionen Soldaten werden noch vermisst
Mehr als 830 Kriegsgräberstätten in 46 Staaten, auf denen etwa 2,8 Millionen Kriegstote bestattet wurden, betreut der Volksbund heute. Eine Mammutaufgabe, die längst nicht abgeschlossen ist: Schätzungen zufolge werden allein auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion noch etwa zwei Millionen deutsche Soldaten vermisst. Etwa 12 000 bis 15 000 Umbettungen führt der Volksbund jedes Jahr durch.
Dass sich hier zu Lande ausgerechnet ein Verein einer Aufgabe annimmt, der in den meisten anderen Ländern eine staatliche Behörde nachgeht, liegt an der deutschen Geschichte. Der Volksbund ist ein Kind des Ersten Weltkriegs. Geburtshelfer war der Versailler Vertrag.
»Im Versailler Vertrag wurde verankert, dass die Verantwortung für die Anlage von Friedhöfen und den Erhalt von Gräbern bei dem Staat liegt, auf dessen Territorium sich die Gräber befinden«, erzählt der Historiker Jakob Böttcher, der über die Geschichte des Volksbunds geforscht hat. Heute leitet er das Amt für Kultur und Tourismus der Gemeinde Kressbronn am Bodensee und kümmert sich auch um die Geschichtsforschung des Orts.
Das Deutsche Reich verzichtete nach dem Ersten Weltkrieg aus logistischen Gründen darauf, seine Toten in die Heimat zu überführen. Stattdessen wurden sie im Ausland, allen voran in Frankreich und Belgien, auf zentralen Friedhöfen begraben. Der Aufbau einer entsprechenden Organisation zur Gräberpflege schien also zunächst unnötig, zumal die junge Weimarer Republik noch um ihr Überleben kämpfte und mit Drängenderem beschäftigt war. Außerdem, so gibt Böttcher zu bedenken, hätten die Siegermächte direkt nach Kriegsende keine deutsche Organisation auf ihrem Territorium geduldet, die dort Gräber pflegen oder Friedhöfe anlegen würde.
Wie der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge entstand
Mit rund einer Million deutscher Kriegsgräber war der Pflegeaufwand für Frankreich und Belgien gewaltig. Gleichzeitig wuchs in Deutschland die Sorge darum, ob sich die einstigen Kriegsgegner tatsächlich um die Gräber der Deutschen kümmern würden. In der Folge entstanden zahlreiche Initiativen, die Zugang zu den Gräbern forderten. Diese schlossen sich am 16. Dezember 1919 zum Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zusammen.
Damit verstand sich der Volksbund als eine von der breiten Gesellschaft getragene Initiative. Er sollte nicht nur die deutschen Kriegsgräber im Ausland pflegen, sondern auch Gefallene identifizieren und Angehörigen bei der Suche nach Vermissten helfen. Er vermittelte zwischen staatlichen Behörden und Hinterbliebenen, schickte Fotos der Gräber und ließ auf Wunsch Blumen vor Ort niederlegen. Ende der 1920er Jahre schaffte es der Verein, aus eigenen Mitteln auch Friedhöfe herzurichten, schreibt Johann Zilien vom Hessischen Hauptstaatsarchiv im Fachblatt »Archiv für Kulturgeschichte«. Die Einführung des Volkstrauertags im Jahr 1924 geht ebenfalls auf den Volksbund zurück.
Während der NS-Zeit wuchs der Verein zur Massenorganisation heran: Zwei Millionen Mitglieder sollte er bis 1944 haben, ein Höchststand. Bereitwillig unterwarf er sich den neuen Herrschern in Berlin. Die Sorge um die Soldatenfriedhöfe habe fortan im Dienst des NS-Heldenkults gestanden, erklärt Historiker Böttcher. Dies spiegelte sich in einer regen Bautätigkeit: Zahlreiche »Totenburgen« entstanden – monumentale Ehrendenkmäler für die Gefallenen, die an Festungen erinnern. Aus dem Volkstrauertag wurde im NS-Staat der Heldengedenktag. Und für die Kriegsgräber war nun nicht mehr der Volksbund zuständig, sondern die Wehrmacht.
Die Arbeit des Volksbunds nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 stand die Kriegsgräberfürsorge vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Durch den Zusammenbruch der Wehrmachtsverwaltung gab es keine zentrale Instanz mehr, die Auskunft über die Gräber geben konnte. Zahlreiche Tote des Zweiten Weltkriegs waren in den letzten Kriegsmonaten nur provisorisch bestattet worden. Millionen mussten gesucht, geborgen und identifiziert und Angehörige informiert werden.
Die britische Militärregierung berief 1946 den Volksbund offiziell als zuständige Organisation für die Kriegsgräberfürsorge, die Amerikaner taten es ihr im Jahr 1947 gleich. 1954 beauftragte die Bundesregierung offiziell den Volksbund mit der Errichtung und Pflege der deutschen Kriegsgräberstätten im Ausland – eine Aufgabe, der er bis heute nachgeht.
Welche Bedeutung diese Arbeit haben kann, schildert Irmgard Aust: »Als im März 2023 ein Anruf vom Volksbund kam, dachte ich zuerst, es ginge um einen Spendenaufruf.« Doch mitnichten: Der Verein hatte Nachricht über ihren Großvater Gustav Hiller. In Breslau hatte man dessen Grab gefunden und seine Gebeine eindeutig zuordnen können. »Da bin ich aus allen Wolken gefallen«, erzählt sie. »In unserer Familie wurde immer erzählt, dass mein Opa in einem Massengrab bestattet worden sei, aber wir wussten nie, wo genau.«
Gustav Hiller hatte 1945 mit seiner Frau und seinem Sohn in Breslau gelebt, das die Wehrmacht zur Festung erklärt und damit zu einer der am heftigsten umkämpften Städte gemacht hatte. Hiller war als Mitarbeiter der Firma Knorr zuständig für die Verteilung von Lebensmitteln – ein Grund, warum er die Stadt nicht verlassen wollte. »Er wollte die Leute nicht im Stich lassen«, erklärt Aust. Am 11. April 1945, dem Geburtstag seiner Frau, verließ Hiller das Haus, um Wasser zu holen. Er kehrte nie zurück. An jenem Tag griffen sowjetische Tiefflieger Breslau an und töteten außer dem Familienvater noch 127 weitere Menschen.
Bestattet wurden die Toten eilig in einem Massengrab auf einer Grünfläche. Wenig später musste Hillers Frau Breslau verlassen und kam nach Oberfranken – wo Enkelin Irmgard Aust noch heute lebt. »Mein Vater hatte zu Lebzeiten versucht, das Grab seines Vaters zu finden und Kontakt zum Volksbund aufgenommen. Allerdings ohne Erfolg.« Jahre später stößt ein Archäologe, der für den Volksbund arbeitet, in einem Warschauer Archiv zufällig auf eine Namensliste und Skizze mit den zugehörigen nummerierten Gräbern. Ein Luftbild des polnischen Militärarchivs bestätigte ein Gräberfeld an dieser Stelle – auf dem Privatgrundstück einer Familie. Diese stimmte der Exhumierung zu.
»Das ist für mich etwas ganz Besonderes: Dass 1945 tatsächlich jemand versucht hat, inmitten des Chaos die Namen der Toten zu erfassen«, sagt Irmgard Aust. »Und dass der Volksbund wirklich so lange in den Archiven gesucht hat, bis er alle Unterlagen gefunden hat.«
Besuch beim Großvater in Breslau
Irmgard Aust reiste nach Breslau. »Und dann standen wir tatsächlich in diesem Garten. An der Stelle, wo sie die Gebeine meines Großvaters ausgehoben hatten, stand eine Kerze in einem wunderschönen Glas, daran erinnere ich mich noch genau. Wir konnten dort minutenlang verweilen und versuchen zu begreifen, was dort überhaupt geschehen war.«
Gustav Hiller ruht heute gemeinsam mit den 127 anderen Getöteten auf einem Kriegsgräberfriedhof bei Breslau. »Es ist meine tiefe Überzeugung, dass man eine Institution wie den Volksbund auch heute noch braucht. Es geht hier schließlich um Menschen«, sagt Aust. In ihrem Bekanntenkreis gebe es Kriegsschicksale, die bis heute nicht aufgeklärt wurden. »Es heißt dann einfach, die Person sei vermisst. Das ist für mich das Traurigste – wenn man nicht weiß, wo und wie ein Mensch sterben musste, und nicht an seinem Grab trauern kann.«
Kriegsgräber gehen in ihrer Bedeutung aber weit über persönliche Familiengeschichten hinaus. Der Kriegstod hat im Lauf der Zeit immer wieder einen Bedeutungswandel erfahren, ebenso wie seine Würdigung.
Das Gedenken an getötete Soldaten
Erst im 19. Jahrhundert begann sich die Vorstellung durchzusetzen, dass getöteten Soldaten namentlich gedacht werden sollte, unabhängig vom militärischen Rang oder ihrem sozialen Stand, erläutert Historiker Böttcher. »Beim Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) sehen wir erstmals im größeren Stil, dass auf den Schlachtfeldern regimentsbezogene Statuen oder Denkmäler gesetzt werden.«
Diese Entwicklung hing mit einem neuen Verständnis von Staatsbürgerschaft zusammen. »Der Kriegstod wurde damals zum ›Opfergang für Volk und Vaterland‹. Daraus leitete sich eine öffentliche Verpflichtung ab, dem getöteten Soldaten und seinem erbrachten Opfer zu gedenken«, so Böttcher. Ein persönliches Grab blieb im 19. Jahrhundert aber noch die Ausnahme. Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg: »Hier begann sich die Idee durchzusetzen, dass jeder getötete Soldat Anspruch auf ein individuelles Grab haben sollte. Und das galt nicht nur für die eigenen Gefallenen, sondern auch für die getöteten Gegner.«
Daraus wurde ein völkerrechtlicher Grundsatz, der Einzug in den Versailler Vertrag fand. Darin wurde auch das dauerhafte Ruherecht verankert: Kriegsgräber dürfen nicht eingeebnet werden.
In Deutschland gibt es heute mehr als 12 000 Kriegsgräberstätten. Die Pflege dieser Gräber fällt 7600 Städten und Gemeinden zu. Den Umgang mit Kriegsgräbern im Inland regelt das Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft (GräbG).
Soll man die Gräber von Kriegsverbrechern erhalten?
Was aber hat sich seit dem Ersten Weltkrieg rechtlich an der Kriegsgräberpflege verändert? Dimitrij Davydov, Professor für Verwaltungsrecht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, hat zu juristischen Kontroversen um das Gedenken an Kriegstote und die Erinnerungskultur geforscht. Er wirft einen Blick auf die Begrifflichkeiten: »Im Kriegergräbergesetz vom 29. Dezember 1922 wurde noch der Begriff Kriegergräber verwendet.« Es ging also zunächst um Soldatengräber. Das änderte sich 1952 mit einer Neuregelung, die nun von Kriegsgräbern statt Kriegergräbern sprach. Diese geringfügige Änderung erweiterte plötzlich den Personenkreis: »Darunter fielen neben den Gräbern von Soldaten beider Weltkriege nun auch die von Zivilisten, die durch unmittelbare Kriegseinwirkung gestorben waren.« Mit dem Gräbergesetz vom 1. Juli 1965 dehnte der Gesetzgeber also den Schutz der Gräber auch auf NS-Opfer und Opfer der sowjetischen Diktatur aus.
»Dieses Gesetz ist im Grunde genommen ein erinnerungspolitisches. Es verfolgt das Ziel, das Gedenken an die Opfer von Krieg und Diktatur zu ermöglichen. Aber es hat auch eine mahnende, edukative Funktion. Das Gräbergesetz soll die Gesellschaft an die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts erinnern«, ordnet der Jurist ein.
Eine Debatte, die in diesem Kontext immer wieder aufflammt, ist die Frage, wie man mit den Gräbern von nachgewiesenen Kriegs- und NS-Verbrechern umgehen soll. Denn auch sie fallen unter den Schutz des Gräbergesetzes. Mancherorts ruhen NS-Opfer neben Tätern – finanziert aus öffentlichen Mitteln auf unbegrenzte Zeit. So weiß der Volksbund, dass ungefähr zehn Prozent der Toten auf den Kriegsgräberstätten Angehörige von SS-Einheiten waren.
Das Gräbergesetz ist Auslegungssache
Die Bundesregierung sah 2019 jedenfalls im geltenden Gesetz keinen Spielraum, diese Gräber aus der Pflege auszuschließen. In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke hieß es, das Gräbergesetz habe den Zweck, der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken und die Erinnerung wach zu halten. »Diese an die Gegenwart und Zukunft gerichtete Mahnung und Friedensbotschaft prägen den Charakter des Gesetzes, nicht ein einzelnes Grab.«
Der Wissenschaftliche Dienst der Bundesregierung widersprach dem als »weder zwingend noch überzeugend«. In einer Kurzinformation kritisierten die Experten den weit gefassten Opferbegriff der Bundesregierung, der alle Gefallenen, auch Kriegsverbrecher, einschließe. Würde man das Gesetz jedoch im Sinn seines Zwecks auslegen, ergebe sich ein anderes Bild: Der gelte »nicht primär dem Gedenken an Kriegstote, sondern an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft«.
Dimitrij Davydov sieht es so: »Ich kann nachvollziehen, wenn Menschen ein Problem damit haben, dass die Gräber von nachgewiesenen Kriegsverbrechern rechtlich den Gräbern von Opfern gleichgestellt werden.«
Folgt man dem Wortlaut des Gesetzes, würden selbst die schlimmsten NS-Täter berücksichtigt werden, wenn sie bei Kampfhandlungen umgekommen sind. »Das kann eigentlich nicht im Sinn der Erinnerungskultur sein«, erklärt der Jurist. Allerdings ließe sich das Gesetz, so wie es momentan formuliert sei, kaum anders auslegen: Bestimmte Gräber könnten nicht »wegen individueller Erinnerungsunwürdigkeit« von der Pflege ausgeschlossen werden.
Für viele ist das unbefriedigend. Juristische Klagen seien aber selten. Das hänge mit dem deutschen Rechtsverständnis zusammen, erklärt Davydov: »Im deutschen Verwaltungsprozess ist der Grundsatz des Individualrechtsschutzes verankert.« Das heißt, es müsste die Rechte des Einzelnen beschneiden, wenn Gräber von Kriegsverbrechern erhalten werden. »Zu sagen, dass mir die aus Steuermitteln finanzierte Grabpflege von Kriegsverbrechern zuwider ist, reicht für sich genommen nicht für eine Klagebefugnis aus, da mit dieser Aussage keine Verletzung individueller Rechte dargetan wird.«
Um das Problem zu beheben, bedient man sich heute einer Zwischenlösung: Die Gräber nachgewiesener NS-Kriegsverbrecher bleiben zwar weiter erhalten, aber unweit platzierte Informationstafeln klären über die Verbrechen und ihren historischen Kontext auf. Die meisten Tafeln stehen allerdings in Stätten außerhalb Deutschlands.
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