Çatalhöyük : War die erste Stadt der Menschheitsgeschichte gar keine Stadt?

In diesem Hügel steckt Weltgeschichte, ein wahrer Epochensprung der Menschheit. Darüber waren sich Archäologen über Jahrzehnte hinweg einig. Sanft erhebt er sich aus der Ebene von Konya, gut 300 Kilometer südlich von Ankara. In Çatalhöyük reihen sich auf 13 Hektar Mauerreste aus dem 7. Jahrtausend v. Chr. aneinander. Für den Entdecker jener Siedlung, den britischen Archäologen James Mellaart (1925–2012), war schon bald nach Grabungsbeginn klar: »Die Größe dieser Fundplätze bezeugt, dass es sich nicht um Dörfer, sondern um Städte handelt«, hielt er gleich im ersten Grabungsbericht von 1961 fest.
Bis 1965 gruben Mellaart und sein Team in Çatalhöyük. Ihre Erkenntnisse erschütterten Gewissheiten der Archäologie. Nicht nur sollte die Stätte nach Jericho in Palästina die zweitälteste Stadt der Welt gewesen sein, sondern sie lag auch an einer völlig unerwarteten Stelle. Bis dahin galt die These, dass die Sesshaftwerdung des Menschen, verbunden mit Ackerbau und Viehzucht, auf den so genannten Fruchtbaren Halbmond beschränkt gewesen war. Jenes Gebiet erstreckt sich vom Zweistromland über Syrien bis in die Levante; bisweilen ziehen Experten den Bogen im Westen sogar hinunter bis ins ägyptische Niltal. Diese sichelförmige Region sei die Heimstatt der neolithischen Revolution gewesen, die den Übergang des Menschen vom Jäger und Sammler zum Bauern markierte.
Çatalhöyük liegt weitab westlich des Fruchtbaren Halbmonds. Dennoch schien sich dort eine frühe bäuerliche Gemeinschaft niedergelassen zu haben. In dem Ort standen zudem weder Paläste noch Tempel, sondern die Siedlung umfasste hunderte Häuser aus Lehmziegeln, die sich Wand an Wand schmiegten und zumeist über Öffnungen in den Flachdächern betreten wurden. Die Menschen hatten in den Bauten gelebt, darin Gerät hergestellt, ihre Kleidung gefertigt, Götter, Geister und Ahnen verehrt, in den Räumen gekocht, geschlafen und ihre Toten unter den Böden bestattet.
Die schiere Größe der Häuseransammlungen brachte Mellaart 1965 zu der Schlussfolgerung, dass es sich um eine jungsteinzeitliche Stadt »möglicherweise mit einer Bevölkerung von zirka 8000 bis 10 000 Menschen« handelte. Rund 40 Jahre später schätzten Fachleute die Bevölkerungszahl immer noch auf mindestens 3500 bis 8000 Einwohner. So gibt es auch die UNESCO wieder, die den Fundplatz 2012 in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen hat.
Breitete sich so das Neolithikum aus?
Die Bauern von Çatalhöyük mussten demnach wahre Meister der neolithischen Lebensweise gewesen sein. Üppige Ernten nährten ihre Gemeinschaft, die zu einer Stadt heranwuchs. Bald schon zogen die Menschen aus dem dicht besiedelten Ort fort und exportierten das Bauerntum in andere Gegenden Anatoliens. So breitete sich das Neolithikum allmählich aus. Dieses Szenario ergebe sich, weil Çatalhöyük derart groß war, vermuten Archäologen.
Doch sind die in die Tausende gehenden Bevölkerungszahlen wirklich plausibel? Und lassen sie sich tatsächlich aus den Überresten von Çatalhöyük ableiten? Diese Fragen stellten sich die Archäologen Ian Kuijt von der University of Notre Dame in den USA und Arkadiusz Marciniak von der Adam-Mickiewicz-Universität Posen in Polen. Das Fazit der Forscher: Es sei sehr unwahrscheinlich, dass jemals 3500 bis 10 000 Menschen den Ort zur selben Zeit bewohnt hatten. Wie die beiden 2024 im »Journal of Anthropological Archaeology« berichten, lebten auf dem so genannten Osthügel von Çatalhöyük selbst zur Blütezeit wohl nur 600 bis 800 Individuen. Fachleute hätten sich allzu oft von der Größe des Ruinengeländes verleiten lassen und daraus auf die Einwohnerzahl geschlossen. Zudem beruhten ihre Schätzungen auf einer Fehlannahme: dass benachbarte Bauten zur selben Zeit errichtet wurden und über Generationen hinweg bewohnt waren. »Das ist ungefähr so, als würde man annehmen, dass jedes Hotel an einem Flughafen stets ausgebucht ist und alle Flughafenhotels in den vergangenen 50 Jahren gleichzeitig existierten«, erklärt Kuijt im Magazin »Science News«. Demnach hätten Forschende das Ausmaß des jungsteinzeitlichen Dorfs jahrzehntelang überschätzt.
Kuijt und Marciniak wählten eine andere Herangehensweise, um der Lebenswirklichkeit von Çatalhöyük näher zu kommen. Sie werteten die archäologischen Daten der Steinzeitsiedlung aus und prüften, wie sich in jüngerer Vergangenheit Dörfer entwickelten. In Çatalhöyük bestanden die Häuser aus Lehmziegeln. Von modernen Ortschaften mit Lehmbauten im Iran oder in Griechenland wissen Forscher, dass die Menschen in solchen Häusern überraschend kurz wohnten – bisweilen nicht einmal eine Generation lang. Gebäude aus Lehm sind reparaturanfällig. Spätestens nach 20 Jahren müssen sie ausgebessert werden. Und manches Haus verlassen die Bewohner ganz.
Für Kuijt und Marciniak ist zwar klar, dass sich die Neuzeit und das Neolithikum nicht direkt vergleichen lassen, doch Archäologen haben inzwischen an etlichen anatolischen und vorderasiatischen Fundorten Erkenntnisse über die Belegungsdauer neolithischer Wohnhäuser gesammelt. Vermutlich nutzte man diese nicht länger als eine Generation, vielleicht sogar kürzer, zwischen 10 bis 30 Jahren, wie es der Archäologe Peter Akkermans von der Universität Leiden bereits 2013 bei Ausgrabungen in Nordsyrien feststellte.
Menschen nutzen Gebäude
»Wohnst du noch oder lebst du schon?«, fragte eine schwedische Möbelhauskette in ihren Werbespots. Anders formuliert: Menschen nutzen Gebäude. Und sie nutzen deren unmittelbare Umgebung. Sie gehen in Gärten, auf Spielplätze, laufen in Straßen und über offene Plätze. Dabei sind solche Orte nicht durchweg zugänglich. Manches Gebäude kann verlassen oder gar zerfallen sein.
Diese Situation fanden Kuijt und Marciniak in dem traditionellen Dorf Yaprakhisar in der Zentraltürkei vor. Der Ort sei »ein Mosaik aus einzelnen Häusern, Straßen und Gehwegen, verlassenen Gebäuden, offenen Flächen und zerstörten Gebäuden«, schreiben sie. Ethnologische Berichte zeigen zudem, dass Dörfer aus viel mehr als nur Wohnhäusern bestehen. Gassen, kleine Höfe und Tierställe können ungefähr die Hälfte der bebauten Fläche ausmachen.
Nicht viel anders verhielt es sich offenbar in Çatalhöyük. Auch dort lebten in der Steinzeit Mensch und Tier Tür an Tür. Der Beleg dafür: meterdicker Mist. Ein Forschungsteam um Marta Portillo vom Consejo Superior de Investigaciones Científicas in Barcelona wies 2019 in Schichten von Çatalhöyük stattliche Dungablagerungen nach. Zwischen den Wohnbauten waren also Nutztiere untergebracht.
Ein ganz normales Dorf
Marciniak, der selbst ein Grabungsprojekt auf dem Osthügel von Çatalhöyük leitet, sieht seine und Kuijts Überlegungen auch durch die eigenen Arbeiten bestätigt. Demnach siedelten die Bauern nicht flächendeckend auf dem Hügel. Zudem waren die Häuseransammlungen im Lauf der Jahrhunderte unterschiedlich dicht bebaut und bewohnt. Manche Bauten standen irgendwann leer, andere Flächen blieben ganz offen, Gebäude wurden überbaut oder umgenutzt, etwa als Speicher. Eine Forschergruppe um Jo-Hannah Plug von der University of Liverpool berechnete 2021 im Fachblatt »Anatolian Studies«, dass phasenweise wohl fast die halbe Siedlung unbewohnt war.
Mehr als 1150 Jahre existierte Çatalhöyük. Wie Radiokarbondatierungen ergaben, ließen sich die ersten Bewohner um 7100 v. Chr. auf dem Osthügel nieder, um 5950 v. Chr. gaben die letzten Bewohner aus unbekannten Gründen die Stätte auf. Anschließend, im Chalkolithikum, errichteten die Menschen auf dem Westhügel eine Siedlung. Als Blütezeit des Orts gelten die Jahrhunderte von etwa 6700 bis 6500 v. Chr. Für diese neolithische Phase haben Marciniak und Kuijt die Bevölkerungszahl auf dem Osthügel geschätzt – und dafür Kriterien angesetzt, die auf ihren ethnologischen und archäologischen Studien basieren: die mögliche Nutzungsdauer der Wohngebäude, den Anteil von Bauten, die als Wohnstatt dienten, und die Siedlungsdichte.
Zunächst griffen Kuijt und Marciniak die Daten von Forscherkollegen auf und berechneten folgende Szenarien: Standen auf 80 Prozent der Siedlungsfläche Wohnhäuser und lebten in jedem Bau zirka 45 Jahre lang Menschen, dann könnte Çatalhöyük mehr als 3500 Bewohner beherbergt haben. Sollte die Häuserdichte jedoch deutlich geringer gewesen sein – etwa 40 Prozent – und wohnte man nur gut halb so lang in den Gebäuden, dann ergeben sich etwas mehr als 1000 Einwohner. Falls die beiden Werte 20 Prozent und 20 Jahre je Wohnhaus betrugen, hätte die Einwohnerzahl bei zirka 400 Menschen gelegen.
Wie viele Menschen einst in Çatalhöyük lebten
Die Ergebnisse schwanken, doch kaum ein Szenario beläuft sich auf 8000 oder gar 10 000 Bewohner. Marciniak und Kuijt rechneten erneut – und verfeinerten ihre Kalkulationen. Dazu legten sie eine weitere Größe fest, die Fachkollegen für Çatalhöyük ermittelt haben: Auf einer durchschnittlichen Hausfläche von 30 Quadratmetern wohnten vermutlich fünf Menschen zugleich. Dann fütterten sie ihre Berechnung mit den Daten ihrer eigenen archäologischen Analysen. Demnach hätten auf weniger als der Hälfte des Geländes Wohnhäuser gestanden. Und diese hätten gut zwei Drittel aller Bauten ausgemacht. Die Nutzungsdauer: um die 20 Jahre. Das ergibt eine geschätzte Bevölkerungszahl von 600 bis 800 Menschen.
Sicher ist: Auch Kuijts und Marciniaks Kalkulation ist nur eine Vermutung – die längst nicht alle Fachkollegen überzeugt. Der langjährige Grabungsleiter in Çatalhöyük, Archäologe Ian Hodder von der Stanford University, stimmt den Berechnungen nicht zu. »Es ist sehr schwierig, die Bevölkerungszahl zu einem Zeitpunkt zu bestimmen, da es so viele unbekannte Variablen gibt«, sagt Hodder. Marciniaks und Kuijts Werte seien vielleicht für einen Moment der Geschichte korrekt, aber können sie eine mehr als 1000-jährige Entwicklung feinmaschig abbilden? Auch sei es »schwierig, die Bevölkerungszahl zu bestimmen, weil nur fünf Prozent des Hügels ausgegraben sind«.
Die Datenlage ist offenbar lückenhaft. Das entzieht aber auch den früheren Schätzungen den Boden. Marciniaks und Kuijts Zweifel rütteln daher an lang gehegten Thesen: Kann Çatalhöyük überhaupt noch als allererste Stadt der Menschheit gelten? Und war der Ort tatsächlich, wie von vielen Fachleuten vermutet, Motor für die Ausbreitung der bäuerlichen Lebensweise?
Dörfer ohne Anführer
Für Marciniak und Kuijt sei dieses Szenario widerlegt. Die Fundsituation im Vorderen Orient bezeuge zudem, dass sich die neolithische Kultur eher im Stop and Go ausbreitete – über einen Zeitraum von Jahrtausenden. Dass Çatalhöyük dabei eine entscheidende Rolle übernahm, zeichnet sich an den jungsteinzeitlichen Fundplätzen in Anatolien nicht ab. Im 7. Jahrtausend v. Chr. hätten im Vorderen Orient kleine Siedlungen existiert, betont auch Akkermans in seiner Studie von 2013. Hinzu kommt: Kein Bau in Çatalhöyük sticht in Größe und Ausstattung hervor, nichts lässt sich als Tempel oder Palast deuten. Weder ein Anführer noch eine Aristokratie scheinen in diesen Dörfern geherrscht zu haben. Sie waren »einfach zu klein, um eine große soziale Differenzierung der Bewohner zu ermöglichen«, so Akkermans.
Der Fundplatz in der Südtürkei rückt noch eine gängige Vorstellung über das Neolithikum zurecht. Die Lebensweise als sesshafte Bauern bedeutete nicht, dass diese nur mehr von ihren Ernten und Nutztieren lebten. Die Jagd spielte weiterhin eine Rolle, was nicht nur Funde von Tierknochen in Çatalhöyük belegen, sondern auch Wandmalereien in den Häusern: Bewaffnete Männer stellen auf den Bildern einem Hirsch oder einem Auerochsen nach. Die eine neolithische Lebensweise hatte es offenbar nicht gegeben. Sesshaft, mobil oder beides, als Bauer oder Wildbeuter – je nach Ort, Jahreszeit und Traditionen lebten die Gemeinschaften unterschiedlich, davon ist Akkermans überzeugt.
Und das Leben stand nicht still. Ungefähr 180 Kilometer nordöstlich von Çatalhöyük liegen die Überreste einer weiteren neolithischen Siedlung, die heute den Namen Aşıklı Höyük trägt. Ein internationales Archäologenteam um Mihriban Özbaşaran von der Universität Istanbul legt den vier Hektar großen Hügel frei, in dem mehrere neolithische Kulturschichten aus der Zeit von 8400 bis 7400 v. Chr. stecken. Die Ortschaft war demnach schon verlassen, als Çatalhöyük noch nicht einmal gegründet war. Die frühesten Bewohner von Aşıklı Höyük ernährten sich nach Ausweis der Knochenfunde überwiegend von gejagtem Wild, später jedoch bemühten sie sich, die Sterblichkeit ihrer domestizierten Lämmer zu verringern. Sie hielten die Tiere nicht mehr in Ställen, sondern trieben die Herden zum Grasen ins Freie. Ähnliche Fortschritte verbuchten die Menschen beim Anbau von Pflanzen, doch zu einer Stadt war der Ort deshalb nicht geworden.
Aşıklı Höyük und Çatalhöyük ähneln und unterscheiden sich zugleich. An beiden Orten betrat man die Häuser über Öffnungen in den Flachdächern, die auch als Rauchabzug für die Feuerstelle dienten. Allerdings waren in Aşıklı Höyük nicht alle Wohneinheiten puebloartig aneinandergebaut, vielmehr trennten Gassen und Zwischenräume Hausgruppen voneinander. Laut Kuijt und Marciniak gibt es aber auch in Çatalhöyük Anzeichen dafür, dass die Siedlung in Hausgruppen strukturiert war.
800 statt 8000 Einwohner, ein Dorf statt einer Stadt – wenn man nur wüsste, wie die Çatalhöyüker selbst ihren Ort sahen? In der Tat gibt es ein Indiz dafür: eine Wandmalerei aus der Zeit um 6600 v. Chr. Dargestellt sind mehrere Rechtecke über- und nebeneinander vor einem Berg mit zwei Gipfeln, die Feuer spucken. Manche Fachleute deuten das Bild als den ältesten bekannten Stadtplan der Geschichte. Die Kästchen könnten die Wohneinheiten wiedergeben, die Erhebungen im Hintergrund den Hasan Dağı. Der 3268 Meter hohe, heute inaktive Vulkan liegt etwa 130 Kilometer nordöstlich von Çatalhöyük und ist bei klarer Sicht gut zu erkennen. Wie Geologen herausfanden, ist der Hasan Dağı im 7. Jahrtausend v. Chr. tatsächlich ausgebrochen – in der Zeit, als Menschen Haus an Haus in Çatalhöyük lebten. Und es waren nicht wenige Einwohner. Wohl hunderte, aber vermutlich keine tausende.
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