Streit unter Mathematikern: Nächster Akt im Drama um die ABC-Vermutung

Selten hat ein mathematisches Thema so oft für Schlagzeilen gesorgt. Seit Jahren gibt es einen erbitterten Streit um einen vermeintlichen Beweis, der nur in Japan als korrekt angesehen wird. Die Kurzfassung des Konflikts: Der angesehene Mathematiker Shinichi Mochizuki behauptet seit 2012, den lang ersehnten Beweis für eines der hartnäckigsten Rätsel der Zahlentheorie gefunden zu haben, die ABC-Vermutung. Um ihn schart sich eine kleine Gruppe von Fachleuten, die seine Arbeit stützen – doch außerhalb dieser Community glaubt kaum jemand daran.
Die Geschichte rund um die ABC-Vermutung ist von vielem Auf und Ab geprägt, von erbitterten Diskussionen um wissenschaftliche Praxis, von persönlichen Angriffen und spektakulären Preisgeldern. Und nun soll auch noch ein Autodidakt, aufbauend auf Mochizukis Arbeiten, im Alleingang einen der komplexesten Beweise des Fachs so stark vereinfacht haben, dass er auf eine einzelne Seite passt. Was steckt dahinter?
Die ABC-Vermutung handelt von der einfachsten Gleichung, die man sich vorstellen kann: a + b = c. Doch die vermeintliche Einfachheit trügt: Seit Mitte der 1980er Jahre bereitet sie Mathematikern Kopfschmerzen. Jede Zahl lässt sich als Produkt aus Primzahlen schreiben, den so genannten Primteilern, zum Beispiel 15 = 5·3, und die ABC-Vermutung soll erklären, wie die Primteiler von a und b mit denen von c zusammenhängen. Im Prinzip besagt die Vermutung, dass c nicht allzu viele gleiche Primteiler besitzen kann. Das klingt vielleicht nicht sonderlich spektakulär, aber tatsächlich hätte ein Beweis der ABC-Vermutung erstaunliche Folgen für die Mathematik: Falls sie korrekt ist, lassen sich daraus viele wichtige Ergebnisse folgern und offene Fragen beantworten.
Deshalb beschäftigen sich Fachleute schon seit Jahrzehnten mit der ABC-Vermutung. Im Jahr 2012 schien schließlich das Unmögliche geschafft: Mochizuki, der sich in der Fachwelt bereits einen Namen gemacht hatte, stellte einen vermeintlichen Beweis vor – verpackt in ein 1000 Seiten fassendes Werk. Dieses basiert auf einer völlig neuen mathematischen Theorie, der so genannten »Inter-universal Teichmüller theory« (kurz: IUT), die er über 20 Jahre lang im Alleingang entwickelt hatte. Allerdings währte die Begeisterung der Fachwelt über die Ankündigung nur kurz.
Ein fataler Fehler im Beweis – oder nicht?
Denn Mochizukis Arbeit erwies sich schnell als völlig unverständlich. Unter anderem hat der Mathematiker einen äußerst ungewöhnlichen Stil: Auf seitenlange kryptische Definitionen folgen knappe »Beweise«, nach denen das Gesagte aus der Definition folge. Zudem weigerte sich Mochizuki, ins Ausland zu reisen, um mit Kolleginnen und Kollegen über seine Theorie zu sprechen. Und so dauerte es sechs Jahre, bis Experten anfingen, die Details seiner Arbeit zu durchdringen. Zwei dieser Mathematiker, Jakob Stix und der Fields-Medaillengewinner Peter Scholze, fanden offenbar einen Fehler.
In ihrer Veröffentlichung »Why abc is still a conjecture« behaupten Scholze und Stix, »eine ernste, unlösbare Lücke« in einem Beweis von Mochizuki gefunden zu haben, der die IUT und damit den Beweis der ABC-Vermutung ungültig macht. Die beiden reisten sogar nach Japan, um mit Mochizuki darüber zu diskutieren. Doch die drei Fachleute kamen auf keinen gemeinsamen Nenner: Die Unklarheiten blieben für Stix und Scholze bestehen, während Mochizuki behauptete, seine beiden Kollegen würden Objekte gleichsetzen, die sich in Wahrheit unterscheiden, und daher falsche Schlüsse ziehen. Bis heute lehnt er ihre Argumentation ab; seiner Meinung nach verstehen sie seine Arbeit nicht.
Zu weiteren Kontroversen kam es im Jahr 2021. Damals erschien Mochizukis Beweis in überarbeiteter Form im Fachjournal »Publications of the Research Institute for Mathematical Sciences« – und das, obwohl ein Großteil der Fachwelt an dessen Richtigkeit zweifelte. Chefredakteur der Fachzeitschrift war Mochizuki selbst. Das an sich ist nicht unbedingt ungewöhnlich: Mathematiker veröffentlichen häufig ihre Arbeiten in Zeitschriften, bei denen sie als Redakteure arbeiten. Wichtig ist nur, dass sie nicht an der Begutachtung beteiligt sind. Scholze sah jedoch ein Problem darin, dass der Beweis aus seiner Sicht noch immer unvollständig ist.
Wer wird Millionär?
Im Sommer 2023 mischte sich ein Medienmogul in die Geschichte ein: Um die Kontroversen zu beseitigen, hat der Gründer des japanischen Medien- und Telekommunikationsunternehmens DWANGO ein Preisgeld in Höhe von umgerechnet einer Million US-Dollar ausgerufen, falls es jemandem gelingt, einen ernsthaften Fehler in Mochizukis IUT-Theorie zu finden. Macht jemand hingegen bedeutende Fortschritte in dem Bereich, locken Preise zwischen 20 000 und 100 000 US-Dollar. Die Krux an der Sache: Kawakami, der kein Mathematiker ist, werde selbst entscheiden, welche begutachtete Veröffentlichung das Geld erhält.
Die ABC-Vermutung
Die Vermutung dreht sich um natürliche Zahlen a, b und c, die folgende Gleichung erfüllen: a + b = c. Wie in der Zahlentheorie üblich, handelt die Vermutung von Primzahlen: Sie sagt etwas über die Verteilung der Primteiler in der Gleichung aus – also jenen Primzahlen, die miteinander multipliziert die Zahlen a, b und c ergeben. So ist zum Beispiel 15 = 3·5 oder 24 = 23·3 oder 324 = 22·34. Letzteres ist ein Beispiel für eine »reiche« Zahl, da sie viele gleiche Primteiler hat (die 2 kommt zweimal und die 3 viermal vor). Solche Zahlen sind selten. Und noch seltener ist die Summe aus zwei reichen Zahlen erneut reich. Die ABC-Vermutung gibt an, wie reich die Summe aus zwei teilerfremden Zahlen a und b höchstens sein kann.
Um das zu verstehen, hilft ein Beispiel. Angenommen, a = 1024 = 210 und b = 81 = 34 sind reiche, teilerfremde Zahlen. Ihre Summer ergibt: c = 210 + 34 = 1105. Nun kann man c ebenfalls in Primteiler zerlegen: c = 1105 = 5·13·17. Um den Reichtum von a, b und c zu beurteilen, kann man das so genannte Radikal der Zahlen heranziehen. Das Radikal einer Zahl entspricht dem Produkt der unterschiedlichen Primfaktoren (ohne deren Häufigkeit, also deren Exponent zu berücksichtigen). Das Radikal von 1024 ist zum Beispiel rad(1024) = rad(210) = 2 und das von 81 ist rad(81) = rad(34) = 3. Reiche Zahlen haben also kleine Radikale.
Die ABC-Vermutung besagt konkret, dass für die meisten Zahlentripel a, b und c Folgendes gilt: Das Radikal von abc ist größer als c. Das oben genannte Beispiel erfüllt beispielsweise diese Ungleichung: rad(abc) = rad(1024·81·1105) = 2·3·5·13·17 = 13 260. Und tatsächlich – das Ergebnis ist größer als c = 1105.
Allerdings erfüllen nicht alle Zahlentripel diese Ungleichung. Wenn man zum Beispiel a = 3 und b = 125 = 53 wählt, dann ist c = 128 = 27. Damit ist c eine reiche Zahl. Die ABC-Ungleichung gilt für dieses Beispiel nicht mehr: rad(abc) = rad(3·125·128) = 3·5·2 = 30. Das Ergebnis ist eindeutig kleiner als c = 128. Wie sich herausstellt, gibt es unendlich viele Ausnahmen zur ABC-Ungleichung rad(abc) < c. Unter anderem widersprechen alle Tripel mit a = 1 und b = 9n-1 der Ungleichung: Das Radikal rad(1·(9n-1)·9n) ist beispielsweise für jedes n kleiner als 9n.
Allerdings kann man die Ausnahmen erheblich reduzieren, indem man die ABC-Ungleichung leicht abändert. Statt bloß das Radikal von abc zu betrachten, potenziert man das Radikal um eine Zahl κ, die größer ist als eins. Der Exponent braucht nur einen winzigen Hauch größer zu sein – es genügt, um nur noch endlich viele ABC-Ausnahmen zuzulassen. Die vollständige ABC-Vermutung lautet daher: Für jedes κ > 1 gibt es nur endlich viele teilerfremde Tripel a, b, c mit a + b = c, für die rad(abc)κ < c gilt.
Eventuell hat das den Mathematiker Kirti Joshi von der University of Arizona zu seinen Forschungsarbeiten in dem Bereich animiert. In den vergangenen Jahren schlug er sich immer wieder auf Mochizukis Seite und versuchte, die IUT weiterzubringen. Er veröffentlichte im März 2024 und im Mai 2025 Arbeiten, um die von Stix und Scholze offengelegte Unstimmigkeit zu beseitigen. Doch anstatt sich über die Unterstützung zu freuen, griff Mochizuki seinen Kollegen scharf an: Die Aufsätze seien »ohne jegliches substanzielles mathematisches Verständnis« verfasst worden; sie »erinnern an die Halluzinationen von ChatGPT« und seien »offensichtlich mathematisch bedeutungslos«. Auch die übrige Fachwelt zeigte sich bisher nicht von Joshis Argumentation überzeugt.
Ein neuer Beweis vom großen Satz von Fermats dank IUT?
Und nun macht auch noch eine Meldung die Runde, wonach der fachfremde chinesische Programmierer Zhou Zhongpeng eigenständig die Theorie von Mochizuki erlernt habe – und damit einen erstaunlichen Durchbruch erzielt habe. Angeblich sei es ihm gelungen, mit Hilfe der IUT einen der komplexesten Beweise des Fachs, den Beweis des großen Satzes von Fermat, auf nur eine Seite zu komprimieren.
»Wie alles, was mit IUT zu tun hat, scheint auch das Unsinn zu sein«Daniel Litt, Mathematiker
Mehr als 350 Jahre hatte es gedauert, die erstaunliche Vermutung von Pierre de Fermat zu beweisen. Das Kunststück gelang Andrew Wiles Mitte der 1990er Jahre, indem er modernste mathematische Methoden miteinander verband und voranbrachte. Auf 130 Seiten lässt sich seine komplizierte Argumentation nachlesen. Das Ganze soll sich nun deutlich schneller und einfacher aus der IUT folgern lassen, behauptet Zhongpeng in seiner noch nicht begutachteten Arbeit. Doch auch hier mahnen Experten zur Vorsicht: »Wie alles, was mit IUT zu tun hat, scheint auch das Unsinn zu sein«, sagt der Zahlentheoretiker Daniel Litt.
Generell stellt sich die Frage, weshalb sich der Programmierer ausgerechnet der IUT zugewandt hat – und nicht den etablierten Bereichen der Mathematik. Und warum hat er sich dafür entschieden, einen Satz zu beweisen, für den es bereits einen Beweis gibt? »Wenn er die IUT verstanden hat, dann wäre es doch toll, wenn er uns die Theorie erklärt«, sagt der Mathematiker Demian Nahuel Goos.
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