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Existenzsorgen: Die Angst vor dem Fall

In Krisenzeiten fürchten viele Menschen um ihren Job, ihren Lebensstandard und ihren gesellschaftlichen Status. Wie verbreitet ist die Angst vor dem sozialen Abstieg? Und welche Folgen kann sie haben?
Ein Mann mittleren Alters blickt besorgt auf ein Schreiben.
Steigende Rechnungen für Strom und Gas bereiten derzeit vielen Menschen Sorgen. (Symbolbild)

Im Herbst 2022 veröffentlichte der Finanz-Informationsdienst CRIF Besorgnis erregende Zahlen: Zwei Drittel aller Deutschen gingen demnach davon aus, sich künftig beim Lebensmittelkauf oder bei den Ausgaben für Heizung und Auto einschränken zu müssen. Ein Drittel rechnete damit, den eigenen Lebensstandard in den kommenden Monaten nicht halten zu können. Und mehr als ein Drittel plante, sich zur Aufbesserung der Haushaltskasse einen Nebenjob zu suchen.

An der repräsentativen Befragung hatten insgesamt 1000 Frauen und Männer aus Deutschland teilgenommen. Ihre Antworten dokumentieren, wie sehr die hohe Inflation und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und des Kriegs in der Ukraine viele Menschen hier zu Lande belasten. Die schwierigen Beziehungen zu China und die Herausforderungen durch den Klimawandel dürften die Angst vor Wohlstandsverlusten zusätzlich befeuern.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg kannte die ökonomische Entwicklung der Bundesrepublik dagegen zunächst nur eine Richtung: aufwärts. Eltern konnten sich relativ sicher sein, dass es ihren Nachkommen einmal besser gehen würde als ihnen selbst. Das hat sich inzwischen geändert – und zwar schon vor den großen Krisen, mit denen die Menschheit aktuell zu kämpfen hat. 2017 gaben laut dem Politikforschungsinstitut »policy matters« 27 Prozent der Befragten an, einen geringeren Lebensstandard zu haben als ihre Eltern.

Die Gefahr eines wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abstiegs ist also durchaus real. Der Soziologe Oliver Nachtwey von der Universität Basel macht dafür in seinem Buch »Die Abstiegsgesellschaft« verschiedene Faktoren verantwortlich: den Trend zu befristeten Anstellungen und die Ausweitung der Leiharbeit, infolge derer viele Arbeitsverhältnisse unsicherer geworden seien. Die Reformen im Zuge der »Agenda 2010«, die zur Herausbildung einer neuen Unterschicht in Deutschland beigetragen hätten. Den Niedriglohnsektor, der die Betroffenen häufig »unter die Schwelle der Respektabilität« drücke. Nachtwey zufolge ist also nicht nur das Abstiegsrisiko größer geworden: Wer fällt, der stürzt oft auch besonders tief.

Aufstieg und Abstieg der deutschen Mittelschicht

Unumstritten ist diese Einschätzung nicht. »Bis ungefähr zum Jahr 2010 ist Nachtweys Diagnose zwar überspitzt, aber nicht vollkommen falsch«, sagt etwa der Soziologe Holger Lengfeld. »Doch seitdem stimmt sie einfach nicht mehr.« An der Universität Leipzig beschäftigt er sich unter anderem mit dem Zustand der gesellschaftlichen Mittelschicht. Dazu zählen nach einer gängigen Definition alle Haushalte, deren Einkommen zwischen 75 und 150 Prozent des bundesdeutschen Durchschnitts liegen. »In den 1990er und 2000er Jahren ist diese Mitte geschrumpft, um insgesamt fünf bis acht Prozentpunkte«, berichtet Lengfeld. »Davon sind viele Mittelschichthaushalte aufgestiegen; der größere Teil ist jedoch in die untere Schicht abgestiegen.« Kurz vor 2010 habe dieser Trend allerdings gestoppt; seitdem schrumpfe die Mitte nicht mehr. Das gelte zumindest bis zur Covid-Pandemie: »Für die Zeit danach haben wir noch keine Daten.«

Der Soziologe stützt sich bei seiner Analyse auf einen deutschlandweit einzigartigen Datensatz, das so genannte Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Seit fast 40 Jahren werden darin jedes Jahr möglichst dieselben Menschen zu verschiedenen Themen befragt. Im Moment umfasst es rund 30 000 Personen. Todesfälle werden dadurch ausgeglichen, dass in den Haushalten lebende Kinder mit 16 in das Panel nachrücken. Beim Start des Projekts im Jahr 1984 wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip ausgewählt; seitdem wurde es mehrfach um weitere Zufallsstichproben ergänzt. Daher gelten die Ergebnisse als repräsentativ für die gesamte Bundesrepublik.

»Wer sich vor dem sozialen Abstieg fürchtet, der befürchtet primär, seinen Lebensstandard nicht mehr halten zu können«Holger Lengfeld, Soziologe

Ein Aspekt, der im SOEP regelmäßig abgefragt wird, ist die Angst vor einem Verlust des Arbeitsplatzes. »Diese Sorge ist ein sehr guter Indikator für Abstiegsangst«, sagt Lengfeld: »Wer sich vor dem sozialen Abstieg fürchtet, der befürchtet primär, seinen Lebensstandard nicht mehr halten zu können.« Die Auswertung der Paneldaten zeigt, dass die Sorge um den eigenen Job zwischen 1990 und 2006 im gesamtdeutschen Mittel stetig gestiegen ist. Danach sank sie jedoch bis 2019 – dem vorerst letzten Zeitpunkt, zu dem Lengfeld Daten vorliegen – wieder kontinuierlich ab.

Ein Stück weit verläuft die Kurve damit parallel zur tatsächlichen Arbeitslosigkeit. Die erreichte 2005 im wiedervereinigten Deutschland mit 13 Prozent ein Allzeithoch und ist seitdem rückläufig. Zudem traten zwischen 2003 und 2005 die so genannten Hartz-Reformen in Kraft. »Diese Maßnahmen sowie die zunehmende Flexibilisierung des Arbeitsmarkts haben damals die Abstiegsängste zusätzlich befeuert«, sagt Lengfeld. Heute suchen viele Branchen auf Grund des demografischen Wandels händeringend nach Arbeitskräften. »Viele Regelungen – etwa zur Befristung von Arbeitsverhältnissen – gibt es zwar nach wie vor«, erklärt der Soziologe. »Wir vermuten jedoch, dass die Betroffenen damit inzwischen ihre Erfahrungen gesammelt und gemerkt haben: Wir können zwar leichter entlassen werden, wir finden aber auch leichter wieder einen neuen Job. Und wer diese Aussicht hat, der fürchtet sich auch nicht mehr vor einem Abstieg.«

Es geht nicht nur ums Geld

Doch nährt sich diese Sorge wirklich vor allem aus der Angst vor einem möglichen Arbeitsplatzverlust? Bettina Kohlrausch vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hält diese These für »unterkomplex«. Sie beruft sich dabei unter anderem auf die eingangs erwähnte Umfrage des Politikforschungsinstituts »policy matters«. Die Soziologin hat diese Daten 2018 in einem Arbeitspapier aufbereitet. »Mehr als ein Drittel derjenigen Befragten, die keine Angst vor einem Verlust ihres Arbeitsplatzes haben, machen sich demnach dennoch langfristig Sorgen um ihren Lebensstandard«, sagt sie. »Diese beiden Phänomene sind also nicht deckungsgleich.«

Ohnehin gehe es bei Abstiegsängsten nicht nur ums Geld. »Dabei spielen auch andere Aspekte eine Rolle, etwa der Verlust von sozialer Anerkennung, von Prestige«, berichtet Kohlrausch. Tatsächlich unterscheidet die Sozialpsychologie zwischen zwei verschiedenen Formen von Status. Der sozioökonomische Status beschreibt, wie eine Person bei Aspekten wie Einkommen, Beruf oder Bildung dasteht. Der soziometrische Status ist davon zumindest teilweise unabhängig. In ihn fließt ein, wie viel Respekt jemand in seiner Gruppe genießt und wie viel Bedeutung ihm zugemessen wird. Studien zeigen, dass vor allem diese zweite Form für ein zufriedenes Leben wichtig ist. Die britische Sozialpsychologin Nikhila Mahadevan wies 2021 zusammen mit Kollegen nach, dass der soziometrische Status einen größeren Einfluss auf das Selbstwertgefühl hat als sein sozioökonomisches Pendant.

Kennzeichen eines gesellschaftlichen Abstiegs ist immer ein Statusverlust. Die Furcht davor ist laut Kohlrausch auch Ausdruck eines weit verbreiten Gefühls der Unsicherheit: ausgelöst durch Prozesse wie die Globalisierung und das ausgedünnte soziale Netz, aber auch durch die vielen Krisen, die sich momentan häufen. »Die Zukunft liegt nicht mehr so klar vor uns wie früher; die Lebenswege sind nicht mehr so berechenbar. Und das macht den Menschen Angst.«

Das belegen etwa die von ihr analysierten Umfragedaten: Wer glaubt, über sein Schicksal werde irgendwo draußen in der Welt entschieden, fürchtet deutlich häufiger, seine Position nicht halten zu können. Das gilt selbst für Menschen, die eigentlich sehr gut verdienen. Wer sich als Spielball fremder Mächte fühlt, dem erscheint das Risiko eines künftigen Abstiegs größer – einfach deshalb, weil er ihn aus eigener Anstrengung kaum verhindern kann.

Die Abstiegsangst und ihre Folgen

Diese Sorge vor einem möglichen Absturz hat messbare physiologische Auswirkungen. Der niederländische Organisationspsychologe Daan Scheepers und seine Kollegin Naomi Ellemers sprechen in diesem Zusammenhang auch von »Status-Stress«. Die Ursachen für diesen Stress hängen ganz zentral davon ab, auf welcher Sprosse der sozialen Leiter man sich befindet: Die unten stehen, müssen sich abstrampeln, um sich wichtige Dinge des Lebens leisten zu können, und erfahren zudem weniger gesellschaftliche Anerkennung. Die oben stehen, fühlen dagegen ständig den Atem derjenigen im Nacken, die zu ihnen aufrücken. Je weniger gesichert sie ihren Status sehen, desto größer ist der Stress, der daraus entsteht.

Scheepers hat vor einiger Zeit ein Experiment durchgeführt, das diesen Effekt demonstriert: Er teilte Studenten und Studentinnen in zwei Gruppen ein und ließ sie dann einige Aufgaben lösen. Der ersten Gruppe teilte er danach mit, sie habe deutlich besser abgeschnitten als die andere. Er suggerierte ihren Mitgliedern so einen höheren Status. Danach mussten sämtliche Versuchspersonen zwei weitere Tests absolvieren. Der erste bestand aus sehr ähnlichen Problemen wie denen am Anfang. Beide Gruppen konnten daher damit rechnen, ähnlich abzuschneiden; ihr Status würde sich dadurch also sehr wahrscheinlich nicht ändern. Der zweite enthielt dagegen eine ganz andere Batterie von Fragen; die Teilnehmer von Gruppe 1 konnten also keineswegs davon ausgehen, wieder als Sieger hervorzugehen. Sie reagierten auf diesen unstabilen Status mit Stresssymptomen, die für bedrohliche Situationen typisch sind. Beim ersten Test, von dem keine Auswirkung auf ihren Status zu erwarten war, blieb diese Reaktion aus.

Die Abstiegsangst löst also bereits in einem einfachen Laborversuch erheblichen Stress aus. Untersuchungen deuten zudem darauf hin, dass ein tatsächlicher Statusverlust – sei es im Vergleich zu den Eltern oder im Lauf der eigenen Biografie – krank machen kann. Das zeigt etwa eine Studie des Instituts für Medizinische Soziologie in Halle, die 2017 als Arbeitspapier bei der Hans-Böckler-Stiftung erschienen ist. Grundlage waren auch hier Daten des Sozio-oekonomischen Panels. Soziale Abstiege gingen demnach mit einem schlechteren Gesundheitszustand einher. Internationale Analysen weisen in dieselbe Richtung; manchen Daten zufolge können Statusverluste sogar die Sterblichkeit erhöhen. Unumstritten sind diese Zusammenhänge jedoch nicht.

Die meisten Menschen versuchen, auf der gesellschaftlichen Leiter nach oben zu klettern. Noch mehr Mühe investieren sie aber darin, bloß nicht wieder abzusteigen. Dafür strengen sie sich mehr an als für einen möglichen Statusgewinn, wie der US-Ökonom Nathan Pettit 2010 in einem Experiment beobachtete. Immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten zudem, dass Statusängste das Erstarken rechtsextremer Parteien befeuern – sogar mehr noch als tatsächliche Statusverluste.

»Besonders stark stieg die Unterstützung für die extreme Rechte bei denjenigen, die ihren eigenen Status als hoch einschätzten«Sarah Engler, Politikwissenschaftlerin

Darauf lässt unter anderem eine unlängst erschienene Analyse aus Finnland schließen. Darin erhoben die Forschenden bei den Befragten sowohl tatsächlich gemachte Abstiegserfahrungen als auch ihre Erwartung, künftig an Status einzubüßen. Die Abgestiegenen tendierten nicht dazu, verstärkt extrem rechts zu wählen – im Gegensatz zu denen, die einen Abstieg befürchteten.

Die deutschen SOEP-Daten bestätigen einen Teil dieser Ergebnisse, wie der Leipziger Soziologe Holger Lengfeld kürzlich zusammen mit Kollegen und Kolleginnen der Universität Göttingen berichtete. »Reale Abstiege erhöhen unseren Daten zufolge nicht die Wahrscheinlichkeit, die AfD zu wählen«, sagt er. »Ähnlich sieht es mit der Sorge vor einem Arbeitsplatzverlust aus – sie geht nur schwach mit einer höheren Sympathie für die AfD einher.« Ob die rechte Partei vermehrt bei jenen punktet, die um ihren künftigen Status bangen, kann die Studie leider nicht beantworten: Die Abstiegsangst wird in den Erhebungen des Sozio-oekonomischen Panels nicht erfragt.

Doch in diese Richtung weist eine 2020 an der Universität Zürich veröffentlichte Studie der Politikwissenschaftlerin Sarah Engler. Zusammen mit ihrem Kollegen David Weisstanner untersuchte sie, wie sich eine wachsende ökonomische Ungleichheit auf die Parteivorlieben auswirkt. Dazu werteten sie repräsentative Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus. Die Umfrage, auf die sie sich stützten, wird seit 1985 jährlich wiederholt, allerdings mit unterschiedlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Diese geben unter anderem an, wo sie ihre Position in der Gesellschaft verorten. Die analysierten Daten stammten aus 14 verschiedenen Ländern.

Ein zentrales Ergebnis: Wenn sich die Einkommensschere auseinanderentwickelte, stiegen bei den Befragten danach die Sympathien für radikal rechte Parteien. Doch nicht alle änderten ihre Präferenzen gleichermaßen. »Besonders stark stieg die Unterstützung für die extreme Rechte bei denjenigen, die ihren eigenen Status als hoch einschätzten«, erklärt Engler. »Wir interpretieren das so, dass es eher die Angst vor einem Abstieg ist, die Menschen rechts wählen lässt, und weniger ein niedriger Status selbst.« Je größer der Abstand zwischen oben und unten wird, desto furchterregender erscheint der mögliche Fall vom oberen Ende der Leiter.

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