Aufmerksamkeitsstörungen: Warum die ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen explodieren

Im Jahr 2015 wurde bei 8,6 von 10 000 Erwachsenen erstmals eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert, 2024 waren es 25,7 – fast dreimal so viele wie vor zehn Jahren. Das geht aus einer Analyse im Deutschen Ärzteblatt hervor, die auf den bundesweiten Abrechnungsdaten der 17 Kassenärztlichen Vereinigungen beruht.
Diverse Fachleute bewerteten gegenüber dem Science Media Center die Entwicklung als erfreulich. Weil die Fachwelt inzwischen für die Störung sensibilisiert sei, würde diese nun deutlich öfter erkannt – endlich: Schließlich verursache ADHS einen erheblichen Leidensdruck und gehe mit einer reduzierten Lebenserwartung einher.
Echte Erstdiagnosen sind selten
Als »neu diagnostiziert« zählten Erwachsene ab 18, bei denen in den zwei Jahren zuvor keine derartige Diagnose bei der Krankenkasse dokumentiert war. Echte Erstdiagnosen im Sinne eines erstmaligen Auftretens der Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Störung – kurz: AD(H)S – im Erwachsenenalter seien allerdings sehr selten, betonen die Autoren im Ärzteblatt. Vermutlich bestehe ADHS oft schon früher und werde nur verzögert festgestellt. ADS, die Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität, ist in der medizinischen Klassifikationsliste ICD-10 erst seit 2019 aufgeführt. Davor erhielten Betroffene wahrscheinlich meist die Diagnose »sonstige näher bezeichnete Verhaltens-/emotionale Störungen mit Beginn Kindheit/Jugend«. Das wurde bei der Auswertung berücksichtigt.
Die Zunahme der Neudiagnosen, die »Inzidenz«, verlief über die zehn Jahre nicht linear. Vielmehr kam es 2019 zwar zu einem Anstieg, im Jahr 2020, während der Corona-Epidemie, aber wieder zu einem Rückgang. Erst zwischen 2021 und 2024 erhöhten sich die Zahlen rapide. Wichtig dabei: Das Ergebnis bedeutet nicht, dass heute mehr Erwachsene in Deutschland an AD(H)S leiden als 2015, also die Häufigkeit – die »Prävalenz« – gestiegen ist. Schätzungen auf Basis internationaler Studien veranschlagen eine AD(H)S-Prävalenz von etwa 2,5 Prozent unter den 19- bis 45-Jährigen. In Deutschland waren 2014 aber laut Krankenkassendaten nur 0,4 Prozent betroffen.
Bisher war ADHS eher »unterdiagnostiziert«
»Der Anstieg der Inzidenzen zeigt vor allem, dass die lange bestehende Unterdiagnostik aufgeholt wird«, erläutert Oliver Hennig vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim. Das heißt, die Störung wird jetzt häufiger korrekt diagnostiziert. Zudem ist ADHS in den sozialen Medien sehr präsent; die Menschen trauen sich heute eher, Hilfe zu suchen.
Neudiagnosen blieben bei Männern häufiger als bei Frauen. Schon im Kindes- und Jugendalter wird AD(H)S bei Mädchen deutlich seltener diagnostiziert. Bei ihnen dominieren Aufmerksamkeitsprobleme, Jungen fallen eher durch Hyperaktivität und Impulsivität auf. Aus Stichprobenuntersuchungen wisse man aber, dass die Verteilung bei Männern und Frauen im Erwachsenenalter ungefähr gleich sei, betont Alexandra Philipsen, Mitglied der deutschen ADHS-Leitliniengruppe: »Die Mädchen werden eher übersehen.«
Als Modediagnose betrachtet die Psychiaterin AD(H)S nicht. Auch Hennig sagt: »Entscheidend ist die Frage, ob deutliche Beeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen vorliegen. Fachgerecht gestellt, pathologisiert die Diagnose also keine normalen Eigenschaften.«
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