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Neurogenese: Im Hippocampus nichts Neues

Entstehen im Gehirn Erwachsener doch keine neuen Neurone? Eine Studie stellt sich gegen den Mainstream - und erntet harsche Methodenkritik.
Illustration einer Nervenzelle

Man nehme einen x-beliebigen Aufsatz über das Gehirn von Erwachsenen zur Hand, und die Chancen stehen gut, dass man darin folgende Erklärung findet: Nirgendwo im Gehirn entstehen nach Ende der Kindheit noch Nervenzellen, von zwei Ausnahmen abgesehen – dem Riechsystem und dem Hippocampus. Vor allem Letzterer beschäftigt die Forscher, denn es handelt sich bei dieser Hirnstruktur um die zentrale Schaltstelle unseres Gedächtnisses. Dass sich hier ein Leben lang neue Nervenzellen bilden, haben Untersuchungen in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder nahegelegt – bei Mäusen und Ratten zunächst, dann bei anderen Tieren und schließlich auch beim Menschen. Die Existenz von »adulter Neurogenese«, wie es im Fachjargon heißt, galt darum als wahrscheinlich, wenn nicht gar sicher belegt.

Doch wenn es nach Forschern um Jose Manuel Garcia-Verdugo von der University of California in San Francisco geht, müssen die Lehrbücher womöglich neu geschrieben werden. Dabei hatten sie zu Beginn ihrer groß angelegten Studie selbst noch erwartet, eindeutige Hinweise von Nervenzellentstehung zu finden. Der Teufel, so zeigte sich schließlich, steckt im Detail. Denn leider lässt sich der Prozess der Neurogenese nicht einfach direkt beobachten. In der Regel färben Wissenschaftler stattdessen jene Proteine an, die während der Entstehung neuer Nervenzellen in Aktion treten, und analysieren anschließend die Gewebeproben beispielsweise in Form ultradünner Schnitte unter dem Mikroskop.

Für ihr Paper in »Nature« sammelten Garcia-Verdugo und Kollegen einen umfangreichen Schatz an Hirngewebeproben von Menschen aller Altersstufen. In 37 Fällen stammte es von Verstorbenen, in 22 weiteren von Epilepsiepatienten, denen man Hirngewebe operativ entfernt hatte. Letztlich hatten sie so Proben von Föten, Kindern, Teenagern und Erwachsenen bis zu einem Alter von 77 Jahren zur Verfügung.

In diesen Proben machten sie sich auf die Suche nach Anzeichen für Nervenzellentstehung. Was sich in Mausexperimenten bewährt hatte, setzte das Team um Garcia-Verdugo und die beiden anderen Teamleiter Zhengang Yang von der Fudan University in Schanghai und Arturo Alvarez-Buylla von der University of California in San Francisco nun beim Menschen ein. Sie griffen unter anderem auf einen Antikörper als Marker zurück, der auf das Protein Doublecortin reagiert. Es wird bei Mäusen während der adulten Neurogenese spezifisch von neuronalen Vorläuferzellen hergestellt, aus denen sich neue Nervenzellen entwickeln können.

Rapider Abbau mit steigendem Alter

Tatsächlich fanden die Wissenschaftler in der fraglichen Region des Hippocampus, dem Gyrus dentatus, eine Menge neuer Nervenzellen – durchschnittlich rund 1600 pro Quadratmillimeter Hirngewebe, allerdings nur bei Neugeborenen und sehr jungen Kindern. Doch schon bei Kindern im Alter von einem Jahr drosselte sich das Nervenwachstum und pendelte sich bei rund 300 Neuronen ein. In der frühen Jugend fiel die Ausbeute noch magerer aus: Lediglich 2,4 neue Nervenzellen pro Quadratmillimeter Hirngewebe fanden sie hier im Mittel. Beim Hirngewebe erwachsener Probanden gingen sie schließlich ganz leer aus. Das älteste Hirngewebe, in dem sie noch auf neue Neurone stießen, stammte von einem 13-Jährigen. Ähnliches konnte das Team um Garcia-Verdugo im Fall von neuronalen Vorläuferzellen beobachten. Im Gehirn von Neugeborenen waren sie noch zahlreich zu finden, bei älteren Kindern wurden sie zur Rarität.

Zentrale der Gedächtnisbildung | Die beiden Hippocampi spielen eine zentrale Rolle bei der Speicherung von Gedächtnisinhalten. Hier entstehen auch nach Meinung der meisten Forscher immer wieder neue Nervenzellen. Doch womöglich handelt es sich dabei um einen Irrtum.

Das Fazit der Forscher: Im Gehirn menschlicher Erwachsener finde keine Neurogenese statt, zumindest sei sie extrem selten. Dass die Zahl neuer Neurone im Lauf der Entwicklung abnimmt, ist an sich keine Überraschung. Das haben Forscher immer wieder beobachten können, vor allem bei Mäusen, allerdings auch beim Menschen. Aber dass im Erwachsenenhirn so gar keine neuen Neurone entstehen sollen, widerspricht der herrschenden Lehrmeinung und sorgte für einen Sturm der Kritik.

So etwa von dem Mediziner und Molekularbiologen Olaf Bergmann von der Technischen Universität Dresden: »Die Schlussfolgerung der Forscher setzt voraus, dass die verwendeten Marker, die ursprünglich im Mausmodell angewandt wurden, auch im Menschen adulte Vorläuferzellen markieren.« Diesen Beweis hätten die Autoren nicht erbracht. Auch Gerd Kempermann lässt sich von den vermeintlich revolutionären Erkenntnissen wenig beeindrucken. Der Neurowissenschaftler vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen hat ähnlich wie in der betreffenden Studie in einer Untersuchung von 2010 das Protein Doublecortin als Marker für die adulte Neurogenese herangezogen. Auch sein Team fand dabei die typische Abnahme der Neurogenese mit steigendem Alter. Dennoch fiel sein Fazit ganz anders aus: Die adulte Neurogenese sei beim Menschen über den Lebensverlauf hinweg genau wie bei Mäusen vorhanden.

Auf den falschen Marker gesetzt?

Dass die »Nature«-Studie seine damaligen Ergebnisse nicht bestätigen konnte, habe wohl methodische Gründe, glaubt Kempermann. »Die gesuchten Schlüsselmarker sind nicht sehr stabil und könnten in der Zeit zwischen dem Tod des Probanden und der Untersuchung seines Gehirns zu Grunde gegangen sein.« Das konnte Kempermann in seiner Studie damals auch beobachten. Aus der Abwesenheit der Marker zu schließen, dass es keine neuen Nervenzellen im erwachsenen menschlichen Gehirn gebe, sei gewagt. »Insofern halte ich die neue Studie für sehr problematisch.«

Jose Manuel Garcia-Verdugo kann die Kritik nicht ganz nachvollziehen. Um auszuschließen, dass die verwendeten Marker zu früh zerfallen, hätten er und seine Kollegen schließlich auch Proben von lebenden Epilepsiepatienten untersucht. Deren Hirngewebe habe man direkt nach einem chirurgischen Eingriff fixiert und auf diese Weise optimal konserviert. »Übereinstimmend mit dem Rest der Hirnproben Verstorbener haben wir auch in diesem Hirngewebe nur Anzeichen von Neurogenese bei Kindern und Kleinkindern, aber nicht in den Gehirnen Erwachsener gefunden.«

»Es ist im Allgemeinen sehr schwierig Schlüsse aus negativen Daten zu ziehen«Jonas Frisén

Manche Kritiker geben an dieser Stelle zu bedenken, dass die Marker eben besser bei jungen Gehirnen funktionierten. Auch das kann Garcia-Verdugo nicht nachvollziehen. Warum sollte ein Protein im Gehirn jüngerer Menschen besser konserviert und leichter auffindbar sein als bei Erwachsenen, fragt der Forscher. »Tatsächlich zeigen wir ja, dass man Doublecortin auch im Erwachsenengehirn auffinden kann.« Doch bei den Zellen, bei denen es auftauchte, handele es sich nicht um Nervenzellen, sondern um Gliazellen – Zellen, die im Gehirn in vielerlei Gestalt auftreten und diverse Funktionen erfüllen, aber an der eigentlichen neuronalen Signalverarbeitung nicht direkt beteiligt sind. Haben sie die früheren Forschergruppen in die Irre geführt? Garcia-Verdugo und Kollegen halten das für möglich: Hinter der vermeintlichen Neurogenese bei Erwachsenen könnten in einigen Fällen in Wahrheit Gliazellen stecken.

Bei allem Streit um den Einsatz der von Garcia-Verdugo und seinen Kollegen verwendeten Marker und andere methodische Details: Eines lässt sich nicht so leicht von der Hand weisen. Die Behauptung, auch im Gehirn Erwachsener sprössen durchaus noch neue Nervenzellen, ruht gleich auf mehreren Säulen. Denn Studien kamen auch beim Einsatz ganz anderer Methoden zu ähnlichen Ergebnissen. In zwei älteren Untersuchungen etwa hat man Probanden Proteine als Marker gespritzt, die sehr spezifisch sind für sich teilende Zellen. Sieht man diese Marker dann unterm Mikroskop, ist das ein Hinweis darauf, dass sich die Zelle geteilt hatte, als die Injektion erfolgt ist. Zwar teilen sich Neurone selbst nicht, dafür aber Stammzellen. Schließlich müssen die Neurone irgendwo herkommen. Und genau das ließ sich beobachten.

Junge Neurone im alten Gehirn

Einen gänzlich anderen Weg schlugen Forscher um Jonas Frisén vom Karolinska-Institut der Universität Stockholm ein. Sie legten 2013 eine Studie vor, die sich einen Nebeneffekt der mehr als 500 oberirdischen Atombombentests zu Zeiten des Kalten Kriegs zu Nutze machte. Die Forscher waren an dem radioaktiven Isotop Kohlenstoff-14 interessiert, das im Zuge der Bombenzündungen entstand. Als es mit den Tests 1955 losging, kletterte seine Konzentration in der Atmosphäre gewaltig in die Höhe. Dann trat am 10. Oktober 1963 das Moskauer Atomteststoppabkommen in Kraft, und die Werte begannen wieder abzusinken.

Das Entscheidende nun ist: Die Atome lagerten sich in Pflanzen ein und kamen über die Nahrungskette in den menschlichen Körper, wo sie als Baumaterial der DNA bei der Teilung von Zellen eine Rolle spielen. Anhand der Menge an Kohlenstoff-14 in der DNA von Nervenzellen entwickelten die Forscher nun eine Art Zeitstempel. Dadurch konnten sie sehen, wann ungefähr sich die Zellen geteilt hatten. Und da fiel auf: Im Hippocampus war rund ein Drittel aller Nervenzellen später geboren als der Mensch, der sie sein Eigen nannte. Sie schätzten, dass sich bis ins hohe Alter jeden Tag etwa 700 neue Nervenzellen bilden. In anderen Regionen wie der Hirnrinde war das hingegen nicht der Fall.

Dass seine Aufsehen erregende Untersuchung nun durch die neuere Studie widerlegt sei, findet Jonas Frisén nicht: »Es ist im Allgemeinen sehr schwierig, Schlüsse aus negativen Daten zu ziehen und hierbei sollte man sehr vorsichtig sein.« Es sei nicht klar, warum Garcia-Verdugo und seine Kollegen die Daten der anderen Forschergruppen nicht bestätigen konnten. Aber bei der adulten Neurogenese handele es sich eben um ein eher seltenes Phänomen, und möglicherweise habe das Team nicht sorgfältig genug danach Ausschau gehalten.

In der Tat ist die Geburt neuer Neurone im Gehirn Erwachsener ein rares Ereignis. Doch das spreche keineswegs gegen seine Bedeutsamkeit, sagt Gerd Kempermann: »Wir benötigen überhaupt gar nicht so viele neue Neurone, damit diese eine wichtige Funktion übernehmen können.« Das liege an der Netzwerkarchitektur des Gehirns, das die neuen Zellen eingliedert.

Wären neugeborene Nervenzellen tatsächlich nur Phantome, von fehlerhaften Methoden vorgegaukelt, müssten Wissenschaftler auf inzwischen lieb gewonnenes Erklärungspotenzial verzichten. »Neue Zellen scheinen eine bedeutende Rolle dafür zu spielen, dass ich kurz aufeinander folgende oder ähnliche Informationen einordnen und voneinander angrenzen kann«, sagt Kempermann. Das sei wichtig, um ein episodisches Gedächtnis aufzubauen, und das wiederum sei absolut zentral für unser autobiografisches Gedächtnis. »Und heutige Theorien gehen eben genau davon aus, dass neue Nervenzellen dabei helfen, Informationen zeitlich einzuordnen.«

Stellt man die adulte Neurogenese in Frage, gräbt man gleichzeitig am Fundament dieses Theoriegebäudes. Und steht damit unweigerlich vor der Frage, warum ausgerechnet der Mensch mit seinem hervorragenden Gedächtnis eine Sonderrolle in puncto Neurogenese spielen sollte.

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