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Russisches Tagebuch: Ahnengalerien und Visaprobleme

Die Moskauer Lomonossow- Universität gibt sich geschichtsbewusst und hochmodern, und ein Molekularbiologe bekennt: "Hier ist meine Sprache, meine Kultur." Er zahlt garantiert auch andere Taxipreise.
Lomonossow-Universität
Freitag, Vormittag

Alexei Khochlow | Alexei Khochlow, Leiter der Abteilung Polymerphysik und Kristalle an der Lomonossow-Universität Moskau
Wer sich über Moskau erheben will, fährt den Berg hinauf zur staatlichen Lomonossow-Universität. Von der Brüstung am Rande des Campus mit seinen 600 Gebäuden hat man den schönsten Blick auf die Stadt. Auch die Hochzeitspaare, die ich dort sehe, nutzen die Balustrade für ihr Foto-Shooting. In einem kargen Seminarraum empfängt uns Alexei Khochlow. Der Leiter der Abteilung Polymerphysik und Kristalle ist ein Shootingstar. Als er im Jahr 2000 in die Akademie aufgenommen wird, ist er mit 46 Jahren weitaus der Jüngste unter allen Akademie-Gerontokraten. Kein Wunder also, dass er die Regierungspläne für massenweise Institutsschließungen kritisiert: Reform ja, aber das sollten nicht die Politiker, sondern die Forscher selbst regeln.

Ein (Alp-)Traum für Deutschland: Die Lomonossow-Universität wählt sich ihre 47 000 Studenten selbst in Aufnahmeprüfungen aus. Derzeit werde nur jeder siebte akzeptiert. Die Struktur – mit Promotion und Habilitation – folge noch immer dem Modell deutscher Universitäten des 19. Jahrhunderts.

Khochlow hält viel von Deutschland: In Ulm ist er Honorarprofessor, 2001 erhielt er aus den Händen von Frau Bulmahn den Wolfgang-Paul-Preis. "Intelligente" Polymere will er züchten, die etwa in Fenstern oder Displays automatisch agieren, oder, mit Kunststoffen, Gummi oder Fasern, "die Natur nachahmen". Überraschend kommt Khochlow auf Wasser zu sprechen. Drei Tonnen Wasser braucht es, um eine Tonne Öl zu produzieren, für den Polymerforscher die unnötige Verschwendung einer kostbaren Ressource auf unserem Planeten. "Jährlich werden 40 Milliarden Dollar für Bereitstellung und Wiederaufarbeitung von Wasser ausgegeben." Mit hydrophoben Polymeren ließe sich da eine Menge machen.

Freitag, Nachmittag

Kafkaesker Gang in der Uni | Der Charme der 1950er Jahre in der Lomonossow-Universität: Holz, Linoleum, quietschendes Gestühl, Kabel, abblätternde Wände
Wir ziehen weiter über den Lomonossow-Campus, Bäume säumen die Straßen auf dem 206 Hektar großen Gelände. In den stalinesken Monstergebäuden umfängt mich immer wieder der Charme der 1950er Jahre, Holz, Linoleum, quietschendes Gestühl, Kabel, abblätternde Wände. Viktor Zadkow ist so dick, dass ich seine Beweglichkeit schon wieder bewundere. Aber er dampft vor Energie, klammert sich ans Rednerpult und rattert sein Institutsprogramm herunter: Femtolaser und Biophysik, etwa für Brustkrebsdiagnose, ultrastarke Felder, Attopulslaser. Das erforschen die Quantenoptiker an ihren "International Laser Center", ILC, – ein modernes Programm. Bei deutschen Quantenoptikern ist Viktor Zadkow regelmäßiger Gast: ob bei Theodor Hänsch und Herbert Walther vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching oder Jürgen Mlynek an der Humboldt-Universität. Deutsche Institutionen wie der DAAD oder die Volkswagenstiftung schicken Projektmittel, denn die Universität bezahlt nur die kargen Gehälter.

Viktor Zadkow | Viktor Zadkow dampft vor Energie.
Nichtlineare Optik und Quantenelektronik hat Tradition am ILC. Ungewöhnlich aber für meine westlichen Ohren ist, wie sehr die Physiker ihre "Ahnengalerie" hervorheben. Besonders die Begründer ihres Instituts, Achmanow und Khochlow, in den 1960er Jahren, werden immer wieder gezeigt, auch auf den Fluren zeugen vergilbte Großfotos im Stile vergessener Parteisekretäre von vergangenem Ruhm. Trotz dieses "Personenkultes" beeindruckt mich, wie lebendig und begeistert die Forscher von ihrer Arbeit sprechen. Als wir über die tristen Flure wieder zum Bus gehen, fällt mir noch mal unsere Fremdenführerin Raissa aus St. Petersburg ein. Wir Russen stellen uns immer zwei Fragen, sagte sie einmal, "Was tun?" und "Wer ist schuld?". Aber das passt gerade gar nicht.

Freitag, Spätnachmittag

Wieder im Bus verspricht uns Dascha, dass der Verkehr nun bald weniger und am Samstag Moskau sogar idyllisch werde. Denn alle 18 Millionen Moskauer streben jetzt auf ihre "Datschas" außerhalb der Stadt, dem Inbegriff vom russischen Paradies. Auch in der früheren DDR hatte sich ja diese Form des Eskapismus am Wochenende ziemlich verbreitet, man sprach dort aber von "Datschen". Aber noch schieben wir uns durchs die russische Rushhour.

Engelhardt-Institut | Das Engelhardt-Institut für Molekularbiologie in Moskau
Ein gelbes Palais mit einem prunkvollen Eingang mit weißen Säulen ist unser Ziel in der Wawilowstraße: das Engelhardt-Institut für Molekularbiologie. Der Kontrast könnte nicht größer sei, als uns im Treppenhaus Sergei Nedospasow begrüßt. Er zeigt auf die luxuriösen Renovierungsarbeiten, offenbar ist dafür genügend Geld vorhanden. Der Immunologe führt uns in den Vortragsraum. Mit seinem grellroten Gestühl vor einer riesigen Bühne gleicht er einem feudalen Festsaal.

Nepodasow führt uns durch seine modern ausgestatteten Labors, seit 1964 arbeitet er an diesem Institut. Auch über dem EIMB liegt der Schatten stalinistischer Vergangenheit. So lange Trofim Dennissowitsch Lyssenko mit Stalins Rückendeckung die sowjetische Agrarforschung dominierte, mit abstrusen Thesen über die Erblichkeit erworbener Eigenschaften, konnte sich in Russland keine moderne Genetik entwickeln. Auch Engelhardt musste sein Labor unter dem euphemistischen Titel "Institut für physikochemische und Strahlenbiologie" gründen. Erst unter Chruschtschow ändern sich die Zeiten, und die Akademie der Wissenschaften akzeptiert den heutigen Namen.

Doch das EIMB gebiert ein weiteres Drama. Dort arbeitet in den 1960er Jahren der geniale Alexander Varshawsky, der sich über den Abbau von Proteinen in menschlichen Zellen forscht. Er wird zum Mentor Nedospasows. Als Varshawsky in den siebziger Jahren über Finnland in die USA flüchtet, legt der KGB monatelang das Institut lahm, die Familie erleidet Repressalien.

Sergei Nedospasow | Sergei Nedospasow betreut drei Arbeitsgruppen, eine am EIMB, eine zweite an der Lemonossow-Universität, eine dritte in den USA, am National Cancer Institute in Frederick, Maryland.
Heute ist das Geschichte. Sergei Nedospasow betreut drei Arbeitsgruppen, eine am EIMB, eine zweite an der Lemonossow-Universität, eine dritte in den USA, am National Cancer Institute in Frederick, Maryland. Jedes Jahr fliegt er viele Male in die USA. Locker erzählt der Molekularbiologe aus seinem Leben, seine abenteuerliche erste Reise in den Westen, die schwierige Zeit nach 1990. "Wir bekamen Carepakete aus dem Westen", berichtet er. "Aber viele meiner Kollegen emigrierten damals in den Westen."

Von seiner Arbeit erzählt der Proteinforscher, springt plötzlich zur Tafel und zeichnet Figuren. Seit Jahren beschäftigt ihn der Tumornekrosefaktor (TNF), die einstige Hoffnung vieler Krebsforscher. Tumore in Mäuse lösten sich wundersam auf, sobald sie mit TNF behandelt wurden. Doch für Menschen ist TNF giftig, ist heute als einer der Faktoren bei Autoimmunkrankheiten und beim septischen Schock erkannt. "Mice tell lies", sagt Nedospasow. Trotz der TNF-Pleite ist er überzeugt, dass die "Immunantwort gegen Tumore von selbst auftreten und verstärkt werden kann."

Mit zwölf Instituten in ganz Deutschland kooperiert er regelmäßig. Diese Verbindung, zumal mit der Berliner Charité, könnte künftig noch enger werden. Obwohl er bereits seit zwölf Jahren Forschung in den USA betreibt, muss er 2004 sechs Monate auf ein Visum warten. Das verbittert. "Hier ist meine Sprache, mein Kultur", bekennt der Biologe. In den USA möchte er daher nicht bleiben. Und von Deutschland habe er mehrere Kooperationsangebote.

Freitag, Spätabends
Disneyland? | Der Rote Platz in Moskau
Vom Lokal schlendern wir spätabends bei milder Witterung durch Moskaus Fußgängerzone, mit Künstlern, Sängern, ausgelassenen Jugendlichen – bis zum Roten Platz, der dem Wortsinn nach vor allem ein "schöner" Platz ist. Vor der St.-Basilius-Kathedrale mit ihren buntscheckigen Zwiebeltürmen rätseln wir, wer eher da war: Die Basilius-Kirche oder Disneyland? Auch wenn dies nicht wirklich ein Rätsel ist: All die bunten Beleuchtungen um den Platz herum lassen tatsächlich mehr an einen Vergnügungspark denken als an das ehemalige östliche Machtzentrum im Kalten Krieg, mit Leninmausoleum und Unheil kündenden Kremlmauern. Rückfahrt ins Hotel mit einem Taxifahrer, der uns für keine drei Kilometer Strecke 40 Euro abknöpft – Touristenschicksal.

Morgen geht's weiter mit Zaren und Zahlen, Kriegen und Kämpfen.

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