Mathematische Unterhaltungen: Wie ein NASA-Physiker durch faszinierende Muster berühmt wurde

Eigentlich arbeitete der Physiker Alan Schoen Anfang der 1970er-Jahre bei der NASA an faltbaren Gerüsten: Stangen, die durch Gelenke so verbunden sind, dass man sie im platzsparend zusammengefalteten Zustand in den Weltraum schießen und dort zu einem Gitter aus Würfelkanten entfalten kann. Die Struktur wiederholt sich periodisch in allen drei Raumrichtungen. Bekannt geworden ist Schoen allerdings durch ein Ergebnis aus der Geometrie, auf das er bei dieser Gelegenheit stieß: eine ebenfalls dreifach periodische Minimalfläche, die unter dem Namen »Gyroid« berühmt und mittlerweile auch mehrfach in der Natur vorgefunden wurde.
Die Liebe zur Geometrie hat ihn nicht mehr losgelassen. Schoen erweiterte die Liste der periodischen Minimalflächen um weitere Exemplare, erfand allerlei Puzzles, darunter das Legespiel »Rombix«, und befasste sich mit Pflasterungen der Ebene – oder eines Teils davon – durch Rauten. Vor einigen Jahren geriet ich auf seine Website schoengeometry.com, war von seinen Rautenmustern fasziniert und bat ihn per E-Mail um Erläuterungen. Gerne, antwortete er, aber im Moment habe er noch andere Dinge zu tun. Eine Weile später kam die Meldung, dass Alan Schoen 2023 im gesegneten Alter von 98 Jahren gestorben ist. Nun bleibt also nichts übrig als der Versuch, aus den Bildern selbst deren Konstruktionsweise zu erschließen.
Mein eigener Versuch beginnt mit einem Rautenmuster, das aus anderen Gründen schon mehrfach Thema in dieser Rubrik war, zuletzt im Zusammenhang mit den polaren Zonoedern. Da es sich auf so einfache Weise ergibt, bezeichne ich es als »Standardmuster«. Man setzt zunächst n gleiche Rauten mit ihren spitzen Winkeln um einen Punkt. Damit das lückenlos passt, muss dieser spitze Winkel gleich 360 Grad geteilt durch n sein. Die Zwickel zwischen diesen Rauten füllt man mit Rauten der gleichen Seitenlänge; die haben dann den Öffnungswinkel 2. Es folgt eine Runde von Rauten mit 3 und so weiter, bis die Sache ein natürliches Ende findet, weil die Öffnungswinkel 180 Grad oder größer werden.
Man kann das Standardmuster zur Zahl n als eine Projektion eines n-dimensionalen Würfels in die Ebene auffassen. Dabei werden die n Einheitsvektoren des n-dimensionalen Raums auf Punkte auf dem Umfang eines Kreises mit Mittelpunkt im Nullpunkt abgebildet; zwei solcher Vektoren plus deren Summe bilden jeweils eine Raute.
Eine gewisse Spur dieses sehr abstrakten Gedankens findet sich in den Bildern wieder: Ein Sechseck aus drei Rauten, die einen Eckpunkt in ihrer Mitte gemeinsam haben, ist ein perspektivisch verzerrtes Bild eines gewöhnlichen Würfels. Nur gehört jede der drei Rauten auch zu einem anderen Sechseck. Das ist ebenfalls als Würfel zu lesen, bloß diesmal in anderen drei Dimensionen; es stehen ja insgesamt n Dimensionen zur Auswahl. Und schon schwankt unser Sehsystem zwischen zwei unverträglichen Interpretationen. Ich habe mir vor langer Zeit langweilige Schulstunden mit der Verfertigung eines Musters versüßt, das diese Verwirrung herausarbeitet.
Eine erste Abwandlung des Standardmusters hat Alan Schoen geschaffen, indem er die »Anfangsbedingung« veränderte, also den ersten Rautenkranz um den Nullpunkt. Statt lauter gleicher Rauten wählte er zum Beispiel zwei sehr schmale und eine breitere Raute und wiederholte dieses Schema elfmal.
Die »kanonische« Vervollständigung – Rauten der richtigen Größe nacheinander in die Lücken setzen – sieht diesmal fast so aus wie ein Standardmuster für n = 11; nur besteht jede Raute ihrerseits aus 3 mal 3 kleineren Rauten. Erst bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass die kleinen Rauten, die eine »Superraute« bilden, nicht gleich, sondern geringfügig verschieden sind. Entsprechend scheint die Superraute leicht gekrümmte Kanten zu haben.
Unabhängig von ihrer Entstehung aus einem ungleichmäßigen Rautenkranz kann man Superrauten auch erzeugen, indem man zwei von ihren vier Seiten vorgibt. Man setzt irgendwo in die Ebene eine Raute; die wird dann eine Ecke der Superraute. An zwei benachbarte Seiten dieser Eckraute legt man eine Reihe von Rauten an, die von einer zur nächsten um den Winkel breiter werden – dann wölbt sich die Seite nach außen – oder schmäler, woraufhin die Seite nach innen gebogen wird. Den Rest erledigt die kanonische Lückenfüllung.
Auf diese Weise muss Alan Schoen seinen »Propeller« konstruiert haben (Bild B1.9 auf seiner Website). Das Rohmaterial ist das Standardmuster für n = 9. Indem er als Urwinkel nicht = 40°, sondern = 5° verwendete, verschaffte er sich die Freiheit, die ursprünglichen Rauten in Superrauten umzuwandeln. So jedenfalls habe ich das Bild rekonstruiert.
Der Mathematiker Matthias Weber, der mit Schoen in dessen letzten Jahren an der Southern Illinois University zusammengearbeitet hat, hat nicht nur den Propeller mit großer Leichtigkeit selbst rekonstruiert, sondern seinerseits abgewandelt. Er macht Superrauten, deren Randrauten abwechselnd breiter und schmäler werden. Daraus ergibt sich ein komplettes Muster mit einem interessanten Knitterlook.
Matthijs Coster, Mathematiker im niederländischen Verteidigungsministerium in Den Haag und regelmäßiger Autor bei der Schülerzeitschrift »Pythagoras«, hat ebenfalls das Prinzip der Superraute aufgegriffen, sich jedoch die Freiheit genommen, es auf vielfältige andere Weise einzusetzen. So sind bei seiner »Blume« die acht Blütenblätter nicht in einem Mittelpunkt verankert, sondern an den vier Ecken eines Quadrats.
Bei seinem »Würfelbild« beginnt er mit einem Kranz aus drei breiten und drei schmalen Rauten, die er wie bei der Fünfertreppe durch Translation nach außen fortsetzt. Dann aber deformiert er alle Rauten auf völlig unregelmäßige Weise zu Superrauten, allerdings so, dass alles zusammenpasst. Da schwankt dem Betrachter, der ohnehin keine einheitliche räumliche Vorstellung gewinnen kann, der Boden zusätzlich unter den Füßen.
Bei anderen Werken löst sich Coster völlig vom Konzept der Superraute und erkundet, wie man mit relativ wenigen verschiedenen Rautenformen begrenzte Flächen oder auch die ganze Ebene füllen kann. So gibt es für n = 7 überhaupt nur drei unterschiedliche Rauten, aber erstaunlich viele Möglichkeiten, sie zu verwenden. Zahlreiche weitere Muster finden sich online.
Von dort aus ist es nur ein kleiner Schritt zu den berühmten Penrose-Pflasterungen, die auf n = 5 beruhen und lediglich aus zwei verschiedenen Rauten bestehen. Penroses Regeln für das Zusammenlegen dieser Rauten erzwingen einen sehr speziellen Typ von Muster; insbesondere kann dieses nie periodisch werden. Obendrein liefert die Theorie ein Verfahren namens »Inflation«, um aus einem begrenzten Penrose-Muster ein größeres zu machen. Derartige Methoden lassen sich auch auf größere Werte von n verallgemeinern.
Dieser Beitrag beschreibt nur einen kleinen Teil von Alan Schoens Werken, soweit diese überhaupt veröffentlicht sind. Da gibt es noch viele interessante Beziehungen zu entdecken.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.