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News: Alibi für Wehleidige

Menschen besitzen ein unterschiedliches Schmerzempfinden: Was für den einen nur ein Nadelstich ist, treibt den anderen fast in den Wahnsinn. Jetzt berichten Forscher, daß wahrscheinlich einiges der Empfindlichkeit der Menschen gegenüber Schmerzen und auch die verschiedenartige Reaktion auf opiumhaltige Schmerzmittel eine genetische Basis hat. Nach Ansicht der Wissenschaftler sind viele Unterschiede in der Schmerzwahrnehmung - sowohl bei Mäusen als auch bei Menschen - auf unterschiedliche Variationen eines einzigen Schlüssel-Gens zurückzuführen.
Wissenschaftler von der Johns Hopkins Medical Institution und dem National Institute on Drug Abuse (NIDA) berichten über ein Gen, welches nach ihrer Meinung für die Unterschiede in der Schmerzempfindlichkeit verantwortlich ist (Proceedings of the National Academy of Sciences vom 6. Juli 1999, Abstract). Dieses Gen codiert für den mu-Opium-Rezeptor, der die natürlichen Opiate und unter anderem auch Morphin im Körper bindet. Das erklärt, warum die Linderung von Schmerzen mit Morphium oder morphiumähnlichen Medikamenten je nach Person unterschiedlich erfolgreich ist.

Die Forscher beschäftigten sich sowohl mit den mu-Rezeptorgenen von Mäusen als auch von Menschen. "Es ist selten, daß wir ein Gen finden, bei dem die Beweise für seine Wirksamkeit bei Tieren so stark sind beziehungsweise so eindeutig auf Studien an Menschen übertragen werden können", sagt der George R. Uhl, der Leiter der Studie. Sie konzentrierten sich auf individuelle Unterschiede in den regulatorischen Sequenzen des Gens, die steuern, wie viele mu-Rezeptoren erzeugt werden.

Bei der Untersuchung von acht unterschiedlichen Mäusestämmen fanden die Forscher einen Zusammenhang zwischen Unterschieden in den regulatorischen Sequenzen der Rezeptorgene und der Anzahl der mu-Rezeptoren im Gewebe. Schon früher war herausgefunden worden, daß die regulatorischen Sequenzen bestimmen, wieviele Rezeptoren durch das Gen gebildet werden. Ist ein Gen aktiver, so produziert es auch mehr Rezeptoren.

Die Anzahl der Rezeptoren wirkt sich wiederum auf die Schmerzempfindlichkeit aus. Mäuse, die nur die Hälfte an Opium-Rezeptoren aufwiesen, reagierten auf einen schwachen Schmerz deutlich stärker. Wenn ihnen sogar sämtliche mu-Rezeptoren fehlten, waren sie noch empfindlicher gegenüber Schmerzen. Außerdem benötigten Mäusestämme mit weniger Rezeptoren eine größere Menge Morphium zur Schmerzlinderung.

Auch bei Menschen deutet sich der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Genvarianten, der Anzahl an Rezeptoren und der Linderung von Schmerzen an. Die Forscher werteten die Ergebnisse aus eigenen Untersuchungen und zahlreichen anderen Studien aus, um Hunderte von menschlichen mu-Genen vergleichen zu können. Sie entdeckten, daß der Teil des Gens, der für den eigentlichen Rezeptor codiert, bei den verschiedenen Personen recht ähnlich ist. Dies deutet darauf hin, erklärt Uhl, daß auch hier die entscheidenden Unterschiede im regulatorischen Abschnitt der Gene liegen.

Uhl weist darauf hin, daß Schmerz hauptsächlich im Gehirn entsteht. Er tritt auf, wenn irgendetwas die Schmerznerven im Körper und Rückenmark aktiviert, welche dann die Impulse an das Gehirn übertragen. Die mu-Rezeptoren können jedoch die Übertragung der Nerven an strategisch wichtigen Stellen in diesem System beeinflussen. Sie reagieren auf natürliche Opiate im Körper und dämpfen die Schmerzintensität wirksam ab.

Untersuchungen mit Positronen-Emissons-Tomographen (PET) haben gezeigt, daß sich die Anzahl der mu-Rezeptoren bei Menschen deutlich unterscheiden kann: Manche besitzen fast doppelt so viele mu-Rezeptoren in bestimmten Gehirnregionen wie andere. "Die Menschen waren lange skeptisch, ob Schmerzen eine genetische Basis haben", sagt Uhl. Doch jetzt steht es seiner Ansicht nach fest: Schmerzempfinden liegt doch in den Genen und nicht in der Wehleidigkeit.

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