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»Alles gurgelt!« : Was die Wiener Teststrategie leisten kann

Wien kann mehr PCR-Tests durchführen als ganz Deutschland. Wie groß der Nutzen wirklich ist und ob »Alles gurgelt!« ein Vorbild sein kann, darüber sind Fachleute aber uneins.
Wiener PCR-Teststrategie, nach Abgabe.

Wer in Wien in den letzten Monaten mal an einem Sonntagmittag an einer Tankstelle vorbeikam, der konnte Merkwürdiges beobachten: Scharenweise strömen Menschen dorthin, mit dem Auto, zu Fuß, auf dem Fahrrad. Sie ignorieren die Zapfsäulen, betreten direkt den Shop, werfen eine kleine blaue Schachtel in eine große Sammelbox und gehen wieder.

Die kleine blaue Schachtel, das ist Wiens Corona-Teststrategie. Die Strategie, wegen der all die Diskussionen, die in Deutschland und anderswo über die beschränkte Aussagekraft von Corona-Schnelltests geführt werden, die Berichte über Schlangen vor Testzentren und mangelnde Laborkapazitäten für PCR-Tests, für in Wien lebende Menschen wie ein Blick in eine Parallelwelt wirken. Wegen der eine Zwei-Millionen-Stadt allein pro Tag manchmal so viele PCR-Tests durchführt wie ganz Deutschland zusammen, wie viele Medien zuletzt aufgeregt bemerkten – durchschnittlich 188 000 pro Tag waren es nach Angaben des zuständigen Labors im Januar, 356 000 am bisher stärksten Tag Ende des Monats. Wie gut ist diese Strategie wirklich? Sollte Deutschland sie übernehmen?

Auch auf meinem Tisch liegt immer ein Stapel kleiner blauer Schachteln. Zwei-, dreimal pro Woche öffne ich eine davon und lasse ein winziges Plastikfläschchen mit Kochsalzlösung und ein Röhrchen mit einem Barcode auf den Tisch purzeln. Ich logge mich auf einer Website ein, spüle meinen Mund mit der Kochsalzlösung, spucke die Lösung in das Röhrchen, packe das Röhrchen wieder in die Schachtel, spaziere zum nächsten Supermarkt oder zur Tankstelle und werfe die Schachtel dort in eine Abgabebox.

Höchstens 24 Stunden später, meist aber schon nach zehn, zwölf Stunden habe ich den Link zu meinem PCR-Ergebnis auf dem Handy. Zahlen muss ich dafür nichts, das Ergebnis gilt, wenn ich beim Spülen meine Webcam einschalte, auch als offizieller Testnachweis; ein Stäbchen in der Nase hatte ich seit Monaten nicht mehr.

Warum nutzt Deutschland die Strategie nicht?

Für viele Menschen in Wien ist es längst selbstverständlich, vor Treffen mit Freundinnen und Freunden, vor Familienfesten, vor dem Training im Sportverein einen PCR-Test einzuwerfen. 1,3 Millionen Wienerinnen und Wiener – zwei Drittel der Bevölkerung also – nutzen das Projekt »Alles gurgelt!« mindestens einmal in 14 Tagen, sagt Mario Dujaković, Sprecher des Wiener Gesundheitsstadtrats.

Für sie – für uns – ist »Alles gurgelt!« enorm praktisch und bequem. Warum gibt es so ein Programm nicht längst schon in Deutschland, zumindest in den Großstädten? Gibt es dort Pläne in diese Richtung?

Das Bundesgesundheitsministerium und die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit ließen Anfragen dazu unbeantwortet. Beim Münchner Gesundheitsreferat heißt es, man kenne das Projekt, plane aber nichts Ähnliches, »da die PCR-Kapazitäten in München noch ausreichend waren« und weil sich »derartige Vorhaben unseres Erachtens in die Test- und Meldestrategie sowie auch in die Strategien zum Kontaktpersonenmanagement des Bundes und der Länder einfügen sollten«.

Die Hamburger Sozialbehörde antwortet, wegen der ausgeschöpften Laborkapazitäten gehe es jetzt »kurzfristig« vor allem darum, »die verfügbaren Kapazitäten auf vulnerable Personengruppen und solche im Bereich kritischer (Gesundheits-)Infrastruktur zu konzentrieren«. Man könne daher »eine ausführliche Bewertung weiterführender Strategien anderer Städte derzeit nicht vornehmen«. »Kurzfristig«, »derzeit« – das liest sich, als hätte die Stadt Hamburg das letzte Jahr über geschlafen. Denn das Projekt »Alles gurgelt!« läuft seit März 2021, und die Laborkapazitäten dafür mussten in Wien auch erst mal aufgebaut werden.

Ganz so einfach ist es nicht

Das Laborunternehmen Lifebrain hat dafür zunächst ein, dann mehrere weitere Gebäude gemietet, hat dort dutzende Pipettierroboter und PCR-Analysegeräte auf- und hunderte Mitarbeitende eingestellt. Es wertet die Proben gepoolt aus, immer zehn auf einmal, nur bei positiven Pools wird jede Probe nochmal einzeln untersucht. Für »Alles gurgelt!« kooperiert die Stadt außerdem mit der Firma Lead Horizon, die Testkits und IT-Infrastruktur stellt, mit dem Rewe-Konzern, dessen Filialen als Abgabestellen dienen, und mit der Post, die die Proben zum Labor bringt.

»Die Kosten-Nutzen-Analyse ist sehr schwer«Peter Klimek, Medizinische Universität Wien

Schlaraffenstadt Wien, schnarchiges Deutschland also? Mit diesem Tenor haben deutsche Medien zuletzt über »Alles gurgelt!« berichtet.

Doch ganz so einfach ist es dann auch wieder nicht. Fragt man österreichische Expertinnen und Experten, ob der Nutzen für die Gesamtgesellschaft den finanziellen Aufwand rechtfertigt, entsteht ein differenzierteres Bild. »Die Kosten-Nutzen-Analyse ist sehr schwer«, sagt etwa Peter Klimek, Komplexitätsforscher an der Medizinischen Universität Wien und Mitglied des österreichischen Covid-Prognose-Konsortiums.

Das Problem beginnt schon bei der Interpretation der Infektionszahlen. In der vierten Welle im Herbst hatte Wien konstant die niedrigste Inzidenz unter allen österreichischen Bundesländern. Derzeit hingegen werden hier, auf die Bevölkerung gerechnet, mehr Fälle pro Tag registriert als in fast allen anderen Bundesländern, auch mehr als etwa in Berlin oder Hamburg. Doch die nackten Zahlen vermitteln ein falsches Bild: Die Dunkelziffer dürfte in Wien und damit in ganz Österreich wesentlich geringer sein als anderswo. Die Idee hinter dem ausgiebigen Testen ist ja gerade, viele Infizierte zu finden, die entweder noch keine Symptome haben – oder die asymptomatisch bleiben und somit ohne Screening-Strategie unter dem Radar bleiben würden.

Kein Wundermittel gegen die Pandemie

Niki Popper, Simulationsforscher am Centre for Computational Complex Systems der Technischen Universität Wien und Mitglied der österreichischen Covid-Krisenkoordination, hält es für plausibel, dass die reale Inzidenz in Österreich sogar niedriger sein könnte als in Deutschland. Einen Vergleichswert berechnen – etwa über die Positivitätsrate, die in Deutschland derzeit 32 Prozent beträgt, in Wien nur 2,5 Prozent – könne man allerdings nicht.

Sehr wohl berechnen lasse sich aber, wie stark ein gut funktionierendes PCR-Screening-Programm die effektive Reproduktionszahl senken kann: um ungefähr 15 Prozent nämlich. »Das ist keine Wunderpille, damit beende ich nicht die Epidemie«, sagt Popper. Allerdings gelte das ja für praktisch alle Maßnahmen. 15 Prozent, das sei ungefähr gleich viel, wie das Verbieten von Großveranstaltungen bringe.

Lohnt sich das auch volkswirtschaftlich? Der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien vermutet, dass das investierte Geld anderswo sinnvoller eingesetzt wäre, etwa bei der Digitalisierung der Kontaktverfolgung, die in Österreich noch immer schlecht funktioniert. Nur in Phasen mit hohen Fallzahlen sind die Gratis-PCR-Tests für alle aus Sicht von Czypionka sinnvoll, und er vermutet, dass der Mehrwert auch durch gezieltere Screenings erreichbar wäre.

Im Vergleich zu PCR-Tests in Deutschland sind die Tests bei »Alles gurgelt!« zwar spottbillig: Sechs Euro, sagt Stadtrats-Sprecher Mario Dujaković, koste ein Gurgeltest den Staat – alles inklusive, vom Testset bis zur Auswertung. Macht bei laut Lifebrain 24,8 Millionen bis Ende Januar ausgewerteten Gurgeltests aber immer noch etwa 150 Millionen Euro.

Die Teststrategie ist vergleichsweise günstig

Der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka hat 2019 berechnet, dass ein Intensivbett der höchsten Stufe 3084 Euro pro Tag kostet. »Alles gurgelt!« hat demnach bisher so viel gekostet wie 3400 zweiwöchige Aufenthalte auf der Intensivstation.

Andererseits: Für alle Antigen- und PCR-Tests zusammen, ob in Apotheken, Teststraßen oder im niedergelassenen Bereich, hat der Bund 2021 laut Dujaković 1,6 Milliarden Euro veranschlagt. Und: Jede durch das Screening verhinderte Ansteckung erspart der Gesellschaft schon dadurch viele Kosten, dass die betroffene Person und ihr soziales Umfeld, die sonst in Quarantäne müssten, nicht bei der Arbeit ausfallen.

Niki Popper hält die Kostendiskussion deshalb für »verlogen«. In Relation zu den Gesamtkosten der Pandemie seien die Kosten für das Testen »läppisch«. Wichtigere Probleme sind für ihn die Frage, ob sich positiv Getestete schnell genug isolieren, und die unterschiedliche Testintensität innerhalb der Bevölkerung.

»Wenn eine dreimal geimpfte Person, die alleinstehend ist und zu Hause arbeitet, sich jeden Tag testet«, sei das eher sinnlos. Und tatsächlich machen beim Testen generell nicht unbedingt die am regelmäßigsten mit, bei denen das besonders wichtig wäre: In einer Befragung des Austrian Corona Panel Project gaben österreichweit Mitte Januar 28 Prozent der ungeimpften, nicht genesenen Menschen an, im letzten Monat keinen einzigen Corona-Test gemacht zu haben.

Entscheidend ist, wie man es macht

Effektiv für die Eindämmung der Pandemie, darin sind sich die Forschenden einig, seien nicht so sehr die praktischen Tests für zu Hause, sondern die PCR-Tests an den Schulen, die in Wien zweimal pro Woche ebenfalls im Rahmen von »Alles gurgelt!« durchgeführt werden: weil Kinder oft noch nicht geimpft sind, viele Kontakte haben und weil Schultests auch jene Familien erreichen, in denen sonst nie getestet würde.

Entscheidend ist auch, wie lange es dauert, bis das Testergebnis da ist. Ein PCR-Test, auf dessen Ergebnis man zwei Tage warten müsse, bringe nicht mehr als ein aktueller, gut abgenommener Antigentest, sagt der Komplexitätsforscher Peter Klimek. »Ist das Ergebnis aber binnen 24 Stunden da, ist PCR klar zu bevorzugen.« Mit der Omikron-Variante, bei der Infizierte schneller infektiös werden, wird der Zeitfaktor noch wichtiger. »Damit sinkt der Nutzen von Teststrategien, unabhängig von der Art der Tests«, sagt Klimek.

Für mich und die anderen 1,3 Millionen Menschen in Wien, die regelmäßig ihre Spucke in kleine Röhrchen füllen und dann mit einer blauen Schachtel zum Supermarkt pilgern, ist die Wiener Teststrategie ein bequemes und praktisches Angebot. Ein Wundermittel gegen die Pandemie hingegen ist sie nicht – nur ein Instrument von mehreren, deren Kombination erst das Virus nennenswert bremst. Sollte Deutschland, sollten deutsche Städte sie trotzdem adaptieren?

»Es halb zu machen, bringt gar nichts«Niki Popper, TU Wien

>Der Aufwand ist enorm, der Aufbau habe Monate gedauert, sagt Stadtrats-Sprecher Mario Dujaković. Würde man anderswo jetzt damit starten, käme das für die aktuelle Welle viel zu spät. Für spätere Wellen könnte es sich allerdings noch auszahlen.

»Die Frage ist, ob man es auf die Reihe kriegt«, sagt der Simulationsforscher Popper. »Es halb zu machen, bringt gar nichts.« Wie schwierig es ist, es richtig zu machen, zeigt sich derzeit in den anderen österreichischen Bundesländern. Auch dort gibt es mittlerweile Gurgeltests, durchgeführt von anderen Anbietern – und massenhaft Probleme damit. Manche Menschen bekamen offenbar Testzertifikate, bevor sie ihren Test abgegeben hatten, andere Ergebnisse kamen zu spät, fehlerhaft, unvollständig oder wurden an die falschen Schulen versendet, und das Bildungsministerium beklagte, ihm sei »eine nicht nachvollziehbar niedrige Zahl von positiven Fällen« gemeldet worden. Das Ministerium prüft jetzt rechtliche Schritte gegen den Anbieter der Schultests.

Wenn man es so hinbekomme wie in Wien, sagt Popper, wenn große Teile der Bevölkerung und vor allem die Schulen regelmäßig mitmachen und die Ergebnisse schnell da sind: Dann, und nur dann, sei die Wiener Teststrategie ein gutes Puzzleteil bei der Eindämmung der Pandemie.

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