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Virologie: Alles klar zum Entern

Manche Retroviren verzichteten irgendwann auf die ständige Neuinfektion ihres Wirtes und lassen sich lieber direkt über die Keimzellen an neue Opfer weitergeben. Die Spuren dieser einseitigen Integrationsbemühungen finden sich bis heute im Erbgut zahlreicher Säugetiere - in Form meist längst inaktiver, weil verkrüppelter, fremder Sequenzen. Koalas jedoch scheinen gerade Schauplatz einer aktuellen Eroberungsaktion.
Koala-Jungtier
Warum einfach, wenn's auch kompliziert geht. Dieses Motto könnte man für die Vervielfältigung von Retroviren bestimmt gelten lassen: Statt nur die zelluläre Maschinerie ihres unfreiwilligen Gastgebers auszunutzen, bauen sie ihre als RNA vorliegende Erbinformation in einen DNA-Doppelstrang um und schleusen diesen auch noch ins Erbgut der Wirtszelle ein. Erst dort integriert, werden die entsprechenden Gene nun abgelesen und in die gewünschten Proteine übersetzt. Die Umkehr des normalen Informationsflusses von DNA auf RNA in die entgegengesetzte Richtung brachte den Viren die Bezeichnung "Retro" ein.

Manche dieser ungebetenen Gäste blieben für immer. Sie schafften den Sprung in die Keimzellen des infizierten Körpers und wurden damit in jede Zelle des Nachwuchses übertragen. Acht Prozent des menschlichen Genoms bestehen aus solchen Schnipseln ehemaliger Untermieter, doch kein Grund zur Sorge: Im Laufe der Jahrtausende seit der festen Einnistung sind sie längst als Virusproteinbauanleitung funktionslos geworden. Manche jedoch spielen unter anderem bei verschiedenen Krebserkrankungen eine entscheidende Rolle.

Als jüngste solche virale Dauer-Einnistung unter Säugetieren gilt bislang ein Schweine-Virus, welches das Erbgut seines Wirtes vor etwa 5000 Jahren geentert hat. Doch könnte dieser Rekord nun den Koalas gehören: Wie Paul Young von der Universität von Queensland und seine Kollegen berichten, scheint die Einbürgerungsaktion hier gerade in vollem Gange.

Das betreffende Koala-Retrovirus war zunächst als endogenes Virus beschrieben worden, weil es sich in allen untersuchten Tieren einer Studie nachweisen ließ. Merkwürdigerweise steckten in seinem aufgespürten Erbgut noch sämtliche relevanten Informationen für die Replikation – als wäre der Einzug noch ganz frisch und das Genom noch nicht durch Mutationen oder Verluste von Genabschnitten beeinträchtigt. In Zellkulturen konnten Wissenschafter mit den vorgefundenen Erbanlagen sogar funktionsfähige Viren produzieren. Dabei entdeckten sie auch eine verblüffend enge Verwandtschaft zu einem Leukämie-Virus bei Gibbons, das bislang nur als exogenes Pathogen sein Dasein fristet. Ganz ähnlich verursacht auch das Koala-Retrovirus Blutkrebs bei den Infizierten.

Young und seine Mitarbeiter hatten in früheren Untersuchungen Unterschiede in der Zahl der eingebrachten Genom-Kopien zwischen einzelnen Koala-Individuen gefunden. In ihrer jetzigen Analyse verglichen sie nun die Anzahl und das Muster der eingeschleusten Viren-DNA-Abschnitte bei freilebenden Koalas und Artgenossen in der Gefangenschaft. Und stießen auf eine überraschende Variabilität: Nur wenige Stellen traten bei mehreren Tieren auf, und es gab keine, die allen gemeinsam gewesen wäre. Die Länge einzelner Fragmente lasse vermuten, dass diese noch als vollständige Version vorliegen, und ein genauerer Blick auf bisherige genetische Veränderungen mache klar, dass diese Versionen wahrscheinlich sogar noch funktionsfähig sind. Alles in allem eher typisch für ein exogenes Virus, das sich noch aktiv über Replikation vermehrt und stetig neue Wirte infiziert.

Koala-Spermien mit Virus-Spuren | Sie sind da: Auch in den Spermien der Koalas entdeckten Young und seine Kollegen Spuren des Koala-Retrovirus (helle Punkte) in Form eingeschleuster Erbgutschnipsel.
Doch die Wissenschaftler wiesen die Enterspuren auch in den Keimzellen nach – wie es sich für ein endogenes Virus nun mal gehört. Und als sie die Spuren des Untermieters in den Keimzellen von Koala-Familien verfolgten, zeigten diese tatsächlich verwandtschaftsbedingte größere Ähnlichkeiten im Einbaumuster: Jungtiere offenbarten sich darin als schlichtes Kombinationsprodukt der elterlichen Anlagen.

Also was denn nun? Exogen? Endogen? Manchmal hilft es, den Blick zu erweitern, dachten sich wohl Young und seine Mitstreiter – und analysierten Koala-DNA aus ganz Australien. Das brachte tatsächlich des Rätsels Lösung: Während die Tiere im Norden des Kontinents durchweg das Virus in sich trugen, lagen die Verhältnisse im Süden eher gemischt – hier war noch lange nicht jeder Koala infiziert. Und auf den Känguru-Inseln vor der Südküste erfreuten sich die Baumbewohner sogar einer völlig Koala-retrovirenfreien Zone. Offenbar breite sich der Erreger gerade von Norden nach Süden aus, und das sowohl auf exogenem als auch endogenem Wege, erklären die Wissenschaftler. Kein entweder-oder also, sondern ein noch-schon: Das Virus steckt mitten im Übergang von der exogenen zur endogenen Variante.

Nun wurden die Koalas der Känguru-Inseln aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihre neue Heimat gebracht, wo sie seit etwa 1920 isoliert lebten. Da sie keine Spuren der Retroviren zeigen, müssen ihre Gründungsväter und -mütter noch frei davon gewesen sein. Und da die pelzigen Lieblinge im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert im Süden des Kontinents durch Jagd fast vollständig ausgerottet wurden, bleibt nur der Schluss: Den ersten Schritt zur endgültigen Einnistung ins Koala-Genom schaffte das Retrovirus dort erst in den letzten hundert Jahren. Der letzte liegt noch vor ihm.

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