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Evolution: Als noch Milch und Dotter flossen

Hühner tun es, Insekten tun es, Dinosaurier taten es: Den Nachwuchs massenhaft als Ei abzulegen, statt ihn mühevoll lebend zu gebären und dann hochzupäppeln, gehört zum verbreiteten Standardprogramm der Natur. Ausgerechnet die Säugetierahnen aber gingen eigensinnige Wege, deren erste Schritte bizarr gewirkt haben könnten.
Milchtropfen
Als minimale Zugangsberechtigung zum Klub der Säugetiere gilt der Besitz einer Zitze – oder, um exakt zu bleiben, zumindest einer Zitzenersatz-Milchdrüse, wie sie die Kloakentiere einsetzen, jene urtümliche Säugetiergruppierung neben dem evolutiven Mittelding Beuteltier (Känguru und Co) und dem hochgezüchteten "echten" Säuger mit Plazenta (Maus, Mensch und Meerschwein). Die Entwicklung von speziellen Drüsen als Milchspender und Lebensgrundlage der Jungen war, so die Gelehrtenmeinung, einer der Hauptgründe für den Erfolg unserer Sippschaft.

Kein Erfolg kommt aber aus dem Nichts: Die ersten milchspendenden Prototypen mussten, gerade erst abgezweigt von der eierlegenden Ahnenreihe der Reptilien, zumindest eine Zeitlang ebenso zweigleisig fahren wie die Kloakentiere – die Monotremata – noch heute. Zwar legen diese ihre Jungen einerseits, wie althergebracht, im Ei; sie verwöhnen und schützen ihre Schlüpflinge dann aber andererseits noch eine Weile intensiv und füttern sie per Milchdrüse. Erst im Laufe der Zeit ersetzten die verschiedenen nachfolgenden Säugermodelle die Phase im Ei mehr und mehr durch einen Aufenthalt im Beutel oder dem Mutterleib. Damit einher ging auch eine immer tiefgreifendere Ernährungsumstellung: Nicht länger Eidotter päppelt die Allerjüngsten, sondern Muttermilch.

Die zweigleisige Übergangszeit früher Säugerevolution ließ nun aber Henrik Kaessmann und seinen Kollegen von der Universität Lausanne keine Ruhe. Wann genau war die Milchproduktion erstmals angekurbelt worden? Ab wann hatte es dann nur die Milch als Hauptnahrungsmittel gemacht? Und was geschah eigentlich mit der energieaufwändigen Fabrikation des überflüssig werdenden Dotters? War es nicht fahrlässig kostspielig, sich in der Übergangszeit gleich zwei nährende Konzepte für den Nachwuchs parallel zu leisten? Diese und weitere ähnliche Fragen sollten sich mit molekularbiologischen Methoden untersuchen und beantworten lassen, vermuteten die eidgenössischen Wissenschaftler und machten sich an die Arbeit.

Ab wann machte es die Milch?

Mit Hilfe von vergleichenden Genomanalysen und Evolutionssimulationen dröselten die Forscher die Entwicklungsgeschichte zweier Gene auf, die für typische Proteine kodieren: Casein, ein nahrhafter Hauptbestandteil von Muttermilch, sowie Vitellogenin, das energiereiche Eiweiß des Eidotters.

Für heute noch lebende Monotremata wie das Schnabeltier bestätigten die Forscher zunächst eine nahe liegende Erwartung, sie produzieren tatsächlich beide Eiweiße: Mit Hilfe von einem der bei Hühnern drei typischen Vitellogenin-Gene produzieren sie etwas Dotter für die abgelegten Eier – zudem aber auch Casein in der Muttermilch. Diese wird bei allen Kloakentieren übrigens nicht aus einer Zitze gesaugt, sondern läuft aus einfachen Drüsen aus und wird dann vom Jungtier aufgeleckt.

Damit ist belegt, dass schon der gemeinsame Vorfahre von Monotremata und den übrigen Säugern Gene zur Casein-Produktion trug. Wahrscheinlich ist das Gen sogar schon vor 200 bis 310 Millionen Jahren erstmals im Ursäuger aufgetaucht, errechneten die Forscher – weit vor der ersten Plazenta, je nach Sichtweise vielleicht gar vor der eigentlichen Säugerdämmerung: Die ältesten Kloakentiere datieren manche Genomanalysten konservativ auf ein Alter von gerade einmal 166 Millionen Jahren.

Dotter wird überflüssig

Milchprotein gab es also schon lange – und Dotterprotein ist bei vielen Säugern noch gar nicht so lange verschwunden, errechnete Kaessmanns Team weiter. Sowohl in Beuteltieren als auch in Plazentaliern finden sich Reste der drei ursprünglichen Vitellogenin-Genen in Form von nicht länger funktionalen, aber noch sehr der Ursequenz ähnelnden Pseudeogenen. Das letzte heutige Pseudogen verlor vor 30 bis 70 Millionen Jahren seine Funktion, so Kaessmann und Co.

Kurz: Die üppige Übergangszeit, in der die jungen Säuger sich offenbar nacheinander von Dotter und Milch nähren konnten, dauerte wohl länger als bislang gedacht. Ein Energie- oder Koordinationsproblem scheint das nicht unbedingt mit sich zu bringen, wie die heute noch doppelgleisig fahrenden Monotremen ja ohnehin schon vor Beginn der Untersuchungen bewiesen hatten.

Und vielleicht hatte die evolutiv überraschend uralte Milch ja ohnehin zunächst einen ganz anderen Zweck als die Ernährung, spekuliert Kaessmann: Sie mag im Erstberuf dazu gedient haben, Säugereier zu befeuchten und vor dem Eintrocknen zu schützen – eine notwendige Aufgabe, da die Eikonstruktion der heutigen Monotremata wie wohl auch der Vorläufermodelle keine harte Schale, sondern eher eine pergamentähnliche Hülle vorsieht. Ob in das frühe Befeuchtungsmittel auch schon Casein gemixt wurde, ist unklar. Irgendwann kam der Nachwuchs dann jedenfalls auf den Geschmack und die Säugermütter auf die gute Idee, die aufwändige Eidotterproduktion durch etwas Effizienteres zu ersetzen.

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