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Massenpanik: "Als wären Sie gefesselt"

Martin Voss ist Leiter der Katastrophenforschungsstelle der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Im Interview mit dem Handelsblatt erklärt der Wissenschaftler, welche Faktoren die Entstehung einer Massenpanik begünstigen - und wie sich das Risiko für Katastrophen wie in Duisburg minimieren lässt.
Handelsblatt: Welche Faktoren begünstigen die Entstehung einer Massenpanik?

Martin Voss: Sie müssen davon ausgehen, dass die Menschen schon auf dem Weg zur Loveparade in eine Art Rausch geraten – und das nicht nur durch Alkohol oder Drogen, sondern auch durch die Euphorie, die das bevorstehende Ereignis erzeugt. Da wird die zunehmende Enge zunächst noch durchaus positiv wahrgenommen, man teilt die euphorische Stimmung der anderen und blendet negative Aspekte der Situation komplett aus – die Wahrnehmung verengt sich regelrecht.

Wenn es dann räumlich immer enger wird, kommt allmählich ein Unbehagen auf, vielleicht ohne dass es Ihnen zunächst bewusst wird. Das sind die Situationen, in denen es ganz plötzlich kippen kann, aus kleinstem Anlass: Jemand schreit oder ein Nebenmann lässt eine Flasche fallen, Sie zucken zusammen, Ihr Nachbar erschrickt über Ihr Erschrecken, und das pflanzt sich dann augenblicklich fort.

Hatte sich die Wahrnehmung zuvor verengt, so erfassen die Menschen jetzt mit einem Schlag das Bedrohliche ihrer Situation. Die Enge, die Unfähigkeit, sich zu bewegen oder Signale über die unmittelbare Umgebung hinaus zu empfangen – das ist eine Situation, als wären Sie gefesselt und hätten einen Sack über dem Kopf. Und das löst dann den Wunsch aus, mit aller Macht und ohne Rücksicht auf andere zu entkommen – was zu solch tragischen Ereignissen wie in Duisburg führen kann.

Was waren die größten Fehler, die in Duisburg gemacht wurden?

Zunächst einmal muss man festhalten, dass unsere Gesellschaft solche Gefahren wissentlich produziert. Jede erfolgreiche Massenveranstaltung erzeugt den Wunsch nach einer noch größeren – die größte Parade, das größte Public Viewing und so weiter. Und das sowohl bei Veranstaltern wie Teilnehmern. Gibt man diesem Verlangen nach, müssen die Events zwangsläufig irgendwann eine Größe erreichen, die nicht mehr beherrschbar ist.

Dann ist da der individuelle Anteil: Gerade bei solchen Großveranstaltungen neigen Menschen dazu, blind auf die Organisatoren zu vertrauen. Nach dem Motto: Das wird schon alles geregelt sein. Und so begeben sie sich leichter in Situationen, die sie in einer normalen Alltagssituation wesentlich kritischer betrachten würden – etwa in ein Nadelöhr wie den Duisburger Tunnel.

Aber natürlich hätten die Organisatoren sehen müssen, was jedem Laien sofort einleuchtet: Dass es extrem gefährlich ist, Menschenmassen von zwei Seiten in einen solchen Tunnel zu führen – noch dazu, wo es sich um den einzigen Zu- und Ausgang handelte. Ich kann nur vermuten, dass da enorme politische und ökonomische Interessen im Spiel waren.

Wie hätte ein funktionierendes System aussehen müssen?

Ganz wichtig ist ein funktionierendes Frühwarnsystem. Die Menschenströme müssen schon bei der Anreise erfasst werden, damit rechtzeitig klar ist, wie groß der Andrang wird – und bei Bedarf die einströmende Menge entsprechend gesteuert werden kann.

Und das verlangt wiederum ein flexibles Raumsystem: Neben der Kernzone – hier also dem eigentlichen Partygelände – müssen Sie "Hochwasserzonen" einrichten, also Räume, in die Sie einen Teil der Menschen lenken können, wenn der Andrang auf den Kernbereich zu groß wird. Außerdem benötigen Sie gut geschultes Ordnungspersonal, das auch die nötige Entscheidungskompetenz hat, um in kritischen Situationen unmittelbar reagieren zu können.

Ganz wichtig ist zudem, dass die Menschen immer nur in eine Richtung gelenkt werden. Also ein Einbahnstraßen-System, das verhindert, dass die Ankommenden sich mit denen, die den Platz verlassen, einen Weg teilen müssen.

Generell sollte man aber auch danach fragen, inwieweit sich eine Großveranstaltung einfach so von einer Stadt auf die andere übertragen lässt. Ein Konzept, das in Berlin funktioniert hat, taugt eben auch nur für diese Stadt.

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