Alternsforschung: »Ich sehe Altern als die Mutter aller Krankheiten«

Nir Barzilai ist einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Alternsforschung. Barzilai hat sogenannte Superalte untersucht, also Menschen, die älter als 100 Jahre geworden sind. Barzilai wollte wissen: Was ist ihr Geheimnis, das sie so lange leben lässt? Er glaubt, dass wir mit besonderen Medikamenten vielleicht viel älter werden können als heute – Kandidaten für diese Medikamente gibt es bereits.
Redaktion: Jens Lubbadeh
Werden wir eines Tages unsterblich?
Darauf habe ich die gleiche Antwort wie auf die Frage, ob ich an Gott glaube.
Und die lautet?
Noch nicht. Unsterblichkeit ist ein Glaube. Ich sage nicht, dass sie unmöglich ist – aber wollen Sie wirklich unsterblich sein? Sie haben doch schon einiges erlebt, auch viele Krisen. Möchten Sie das alles immer wieder durchleben? Ich wäre eines Tages müde davon.
Aber wie wäre es, 200 oder sogar 1000 Jahre alt zu werden? Wäre das möglich?
Es gibt eine biologische Altersgrenze für den Menschen, statistisch liegt sie bei etwa 115 Jahren. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber entscheidend ist: Wenn die Grenze bei 115 liegt, warum sterben dann die meisten mit 80? Wie können wir die Grenze hin zu 150 oder vielleicht 200 Jahren verschieben? Unsterblichkeit aber liegt außerhalb unserer wissenschaftlichen Reichweite.
Es gibt immerhin eine Qualle, die unsterblich ist.
Ja, sie kann ihre Zellen regenerieren. Aber eine Qualle ist weit weniger komplex als ein Mensch. Auch wenn wir Nervenzellen regenerieren könnten – würden wir dann noch dieselben Erinnerungen, dieselbe Persönlichkeit haben? Oder wären wir jemand anderes? Wenn wir für die Unsterblichkeit unsere Identität verlieren müssen, dann lasst uns doch lieber stattdessen Kinder bekommen.
Sie sind aber optimistisch, dass wir das Altern aufhalten können?
Ja. Unsere Forschung an Hundertjährigen und deren Familien macht mir Hoffnung. Sie zeigen uns, wie man besser und länger leben kann.
Nir Barzilai
ist ein israelisch-amerikanischer Genetiker und einer der weltweit führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Alternsforschung. Er ist Professor für Medizin und Genetik am Albert Einstein College of Medicine in New York und Direktor des dortigen Institute for Aging Research.
Was ist das Geheimnis dieser Menschen?
Die entscheidende Frage war: Werden sie später krank? Oder leben sie einfach nur länger mit denselben Alterskrankheiten, die wir alle früher oder später bekommen? Die Antwort: Hundertjährige werden 20 bis 30 Jahre später krank als der Durchschnitt. Außerdem erleben sie eine Kompression der Morbidität, also eine stark verkürzte Krankheitsphase am Lebensende. Manche sterben sogar vollkommen gesund im Schlaf. Normale Menschen hingegen sind in den letzten fünf bis acht Jahren ihres Lebens oft dauerhaft krank.
Ein langes Leben bei guter Gesundheit und dann friedlich sterben – das wünscht sich wohl jeder.
Genau. Ich glaube, das wird in den kommenden Jahrzehnten erreichbar sein.
Wo haben Sie die Hundertjährigen gefunden, die Sie untersucht haben?
Im Nordosten der USA, unter aschkenasischen Juden europäischer Herkunft. Sie sind genetisch relativ homogen, das erleichtert genetische Studien enorm. Eine vergleichbar gute Population sind die Isländer: eine halbe Million Menschen, die alle von wenigen Wikingern und irischen Frauen abstammen. Dort lässt sich leicht nach krankheitsverursachenden Genen suchen. Deshalb haben wir mit den aschkenasischen Juden gearbeitet.
Auf Okinawa leben auch viele sehr alte Menschen.
Ja, in Japan leben die Menschen ohnehin am längsten, weltweit gesehen. Dort spielen vermutlich Ernährung – viel Fisch – und Genetik eine Rolle. Außerdem: Okinawa hat im Zweiten Weltkrieg schwere Verluste erlitten. Vielleicht gab es dadurch eine unbewusste Selektion der Widerstandsfähigsten – und damit Langlebigsten.
Eine Art Evolution.
Richtig. Ein gewisses Maß an Stress stärkt die Fähigkeit des Körpers, weiteren Stress zu bewältigen. Sport ist ein gutes Beispiel – kurzfristig schadet er den Zellen, langfristig stärkt er sie.
Ein bisschen Stress ist also gesund?
Ja, jedenfalls, solange er nicht chronisch wird. Mein Onkel war in fünf Konzentrationslagern, er überlebte sie alle. Später musste er aus Prag fliehen, er erlebte Bombenanschläge und Naturkatastrophen – und wurde dennoch 102 Jahre alt. Vielleicht haben ihn all diese Erlebnisse widerstandsfähiger gemacht.
Was kann neben Stress noch helfen? Kalorienreduktion?
Bei Tieren funktioniert das: Mit 40 Prozent weniger Kalorien leben sie bis zu 40 Prozent länger. Interessant dabei: Es reicht nicht nur, weniger zu essen, es geht auch um den Zeitraum. Tiere, die innerhalb einer Stunde ihre Tagesration fressen und dann fasten, leben länger.
Was passiert, wenn Sie Tieren das Essen über den Tag verteilt geben?
Dann werden sie zwar schlanker, aber sie leben nicht viel länger. Daraus leiten wir das Intervallfasten ab. Ich selbst faste 16 Stunden am Tag und esse nur in einem achtstündigen Zeitfenster.
»Hundertjährige werden 20 bis 30 Jahre später krank«
Wirkt Intervallfasten tatsächlich lebensverlängernd?
Wir haben starke Hinweise darauf: Gesundheitsparameter verbessern sich, Fettleibigkeit – ein Beschleuniger des Alterns – wird reduziert. Übergewichtige Menschen hatten während der Pandemie ein achtfach erhöhtes Sterberisiko, unabhängig vom Alter.
Medikamente wie Ozempic oder Wegovy helfen beim Abnehmen – wirken sie auch lebensverlängernd?
Ja, denn diese sogenannten GLP-1-Agonisten wirken ähnlich wie Kalorienrestriktion. Sie senken das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz, Nierenerkrankungen und reduzieren die Gesamtsterblichkeit. Neben ihnen gibt es noch drei weitere Medikamente mit solchen Effekten: Bisphosphonate, SGLT2-Inhibitoren und Biguanide. Eines aus dieser Medikamentenklasse ist das altbekannte Medikament Metformin. Sie alle sind potenzielle Mittel gegen das Altern und die damit verbundenen typischen Alterserkrankungen.
Warum sind diese Medikamente nicht bereits zur Lebensverlängerung im Einsatz?
Weil Ärzte sehr vorsichtig sind. Primum non nocere – zuerst einmal nicht schaden, so lautet die Devise der Ärzteschaft. Das führt aber bisweilen zu übertriebener Zurückhaltung. Doch wir wissen: Mit gezieltem Einsatz dieser Medikamente könnten wir das Altern verlangsamen.
Ist Altern eigentlich eine Krankheit?
Es heißt oft, dass Altern ein natürlicher Prozess ist, den wir akzeptieren müssen. Aber Altern sollte nicht so sein, wie es jetzt ist. Als westliche Gesellschaft akzeptieren wir auch andere Dinge nicht, die vermeintlich natürlich sind. Zum Beispiel Krebs. Auch das ist auch eine natürliche Sache, aber hält uns das etwa davon ab, Krebs zu behandeln? Als Biologe, als Genetiker sehe ich Altern als die Mutter aller Krankheiten. Wir sollten dennoch vorsichtig sein, das Altern selbst als Krankheit zu bezeichnen, denn das wäre stigmatisierend gegenüber allen alten Menschen. Deshalb wollen wir nicht das Altern an sich behandeln, sondern die Krankheiten verzögern, die dadurch entstehen. Die US-Gesundheitsbehörde FDA akzeptiert diesen Ansatz, ohne dass wir Altern als Krankheit bezeichnen müssen. Zudem: Es gibt auch zugelassene Medikamente, die sich nicht gegen eine Krankheit richten, denken Sie an Verhütungsmittel.
Welche Faktoren bestimmen unser Altern?
Bis heute haben wir 14 sogenannte Hallmarks of Aging gefunden. Jedes dieser Kennzeichen beschreibt einen Prozess, der im Körper mit dem Alter zunehmend schlechter läuft. Etwa der zunehmende Energiemangel in den Zellen, verursacht durch einen Niedergang der Mitochondrien, unserer Zellkraftwerke. Deren Erbgut sammelt im Alter immer mehr Fehler an und die Mitochondrien werden dadurch ineffizienter. Oder der Prozess der Autophagie, also der Entsorgung von kaputten Proteinen, quasi die Müllabfuhr der Zelle. Auch das funktioniert mit zunehmendem Alter immer schlechter, wodurch sich fehlerhafte Proteine in den Zellen ansammeln.
Laufen diese Prozesse unabhängig voneinander ab?
Nein, sie beeinflussen einander. Deshalb müssen wir nicht alle Hallmarks einzeln therapieren, sobald wir eines verbessern, profitiert meist das ganze System.
»Altern beginnt schon mit dem Zeitpunkt der Befruchtung«
Gibt es vielleicht eine Art zentrale Ursache des Alterns?
Vielleicht. Wir hoffen es jedenfalls. Eventuell gibt es eine Art innere Uhr, die alles steuert. Altern beginnt schon mit dem Zeitpunkt der Befruchtung. Und es verläuft nicht linear. Es gibt Phasen der beschleunigten Alterung zwischen dem 45. und 55. Lebensjahr und zwischen dem 60. und 90. Lebensjahr. Bei einem Alter von 50 ist ein Wendepunkt erreicht. Bis dahin ist es vorteilhaft, wenn der Körper viele Wachstumshormone produziert. Es macht ihn stärker, schützt ihn vor Krankheiten. Aber ab 50 beginnt der Abbau, und dann sind Wachstumshormone eher nachteilig. Eines der wichtigsten Wachstumshormone ist IGF-1. Wenn junge Menschen davon hohe Spiegel im Blut haben, ist das hervorragend. Sie haben weniger Krankheiten und sterben nicht so schnell. Aber ab dem Alter von 50 dreht sich das völlig um.
Warum ist das so?
In jungen Jahren ist der Körper evolutionär bedingt auf Reproduktion ausgerichtet: Sie müssen wachsen, stark sein, einen Partner finden, Kinder bekommen und sie großziehen. Wenn Sie über 50 sind und anfangen abzubauen, sollten der Körper nicht mehr in Wachstum investieren. Dann gilt es, den Abbau aufzuhalten.
Also gilt im Alter: reparieren statt wachsen?
Genau. Das sieht man auch in der Natur: Kleine Hunde leben länger als große, Ponys länger als Vollblüter. Sogar bei den Hundertjährigen messen wir den Wachstumshormon-Spiegel. Diejenigen mit den niedrigsten Spiegeln leben zwei Jahre länger als jene mit hohen Spiegeln. 60 Prozent der genetischen Unterschiede, die wir zwischen normalen Menschen und Hundertjährigen finden, sind funktionelle Mutationen in der Wachstumshormon-IGF-Achse. Wir haben überzeugende Beweise dafür, dass Wachstumshormone im Alter nicht gut sind.
Sollten wir dann nicht schon anfangen, in jüngeren Lebensjahren Menschen gezielt zu behandeln?
Ja. Aber wie zuvor erwähnt: Was für junge Menschen gut ist, ist es nicht unbedingt für ältere – und umgekehrt. Beispiel Metformin, das den Wachstumshormonspiegel senkt: Es wäre für junge Menschen ungeeignet. Auch andere Medikamente wie SGLT2-Inhibitoren oder Bisphosphonate sollten erst im Alter eingesetzt werden. Möglicherweise werden in 50 Jahren dann Zwanzigjährige zum Arzt gehen, eine Injektion oder auch eine Pille bekommen, die das Altern bremst. Vielleicht müssen sie die Behandlung alle paar Monate oder Jahre wiederholen. Aber vielleicht werden Menschen auf diese Weise dann die 115-Jahre-Barriere durchbrechen und vielleicht sogar 150 Jahre lang leben.
Was macht Sie da so optimistisch?
Die Natur weiß, wie man das Alter einer Zelle zurückdreht und wir wissen es mittlerweile auch. Das Spermium eines 90-jährigen Mannes kann die Eizelle einer 50-jährigen Frau befruchten und es kann dabei ein gesundes Kind entstehen. Die Zellen des Kindes erinnern sich nicht an das Alter der Eltern-Zellen. Das Alter wird zurückgedreht auf Null. Wie man mittlerweile weiß, reichen dafür vier Proteine aus, die sogenannten Yamanaka-Faktoren. Die Idee ist, mit diesen Faktoren gealtertes Gewebe und Organe lokal zu verjüngen. Es gibt eine Firma, die einige dieser Yamanaka-Faktoren in das Auge von Menschen mit Glaukom einbringt, um das Sehvermögen wiederherzustellen. Diese Forschung ist im Gange.
Warum macht man das nicht am ganzen Körper?
Wenn man das tut, steigt das Krebsrisiko. Wir müssen noch besser verstehen, wie die Yamanaka-Faktoren genau wirken. Zum Beispiel reduziert sich das Krebsrisiko, wenn man nur drei statt vier Faktoren verwendet. Wir sind noch im Frühstadium dieser Forschung. Das Prinzip funktioniert, aber die praktische Anwendung ist wahrscheinlich noch weit weg.
Wie hängen Krebs und Altern zusammen?
Krebs ist wirklich unsterblich. Wenn der Körper eines Krebskranken nicht sterben würde, dann würde der Krebs immer weitergehen. Es gibt viele Verbindungen zwischen dem Altern und Krebs. Zum Beispiel ist eines der Hallmarks of Aging die Abnahme der Telomerlänge. Telomere sind eine Art Schutzkappe aus DNA an den Enden der Chromosomen. Jedes Mal, wenn sich eine Zelle teilt, werden diese Schutzkappen kürzer. Kurze Telomere sind also ein Kennzeichen des Alterns und ein Problem. Wenn man nun im Tierexperiment die Telomere wieder verlängert, bekommen die Tiere Krebs. Wir wissen auch: Menschen mit kürzeren Telomeren haben mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Menschen mit längeren Telomeren haben ein Risiko für Krebs. Übrigens haben Krebszellen sehr lange Telomere. Daran sieht man, dass das Verhältnis zwischen Altern und Krebs problematisch ist. Wir können nicht davon ausgehen, Menschen zu verjüngen, ohne dass einige von ihnen Krebs entwickeln werden.
Sie hatten Metformin erwähnt. Was ist das für eine Substanz?
Metformin hat eine spannende Geschichte. Es stammt ursprünglich aus dem französischen Flieder und wurde chemisch modifiziert. In den 1920er-Jahren wurde seine blutzuckersenkende Wirkung entdeckt und es wurde als Antidiabetikum eingesetzt. Interessant ist, dass es schon in den 1920er- und 1950er-Jahren auch als eine Art Anti-Aging-Mittel verwendet wurde. Zunächst dachte man: Wer Diabetes behandelt, verhindert automatisch Folgekrankheiten. Aber im Vergleich zu anderen Diabetes-Medikamenten zeigte sich: Nur Metformin reduziert auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, kognitiven Abbau, Alzheimer – und die Sterblichkeit insgesamt. Das macht es zu einem Mittel gegen das Altern.
Welche Belege gibt es dafür?
Die besten kamen während der Pandemie: Studien zeigten, dass Diabetiker, die Metformin nahmen, seltener schwer an Covid erkrankten, weniger oft starben und auch weniger Long Covid entwickelten. In klinischen Studien bestätigte sich das. Metformin senkt also nicht nur den Blutzucker, es hemmt Entzündungen, wirkt sich positiv aufs Immunsystem aus und bremst außerdem die Vermehrung von Viren.
Sollte man Metformin also präventiv einnehmen?
Ärzte dürfen existierende Medikamente off-label verschreiben. Metformin ist günstig und sicher, wurde auch schon gegen Übergewicht oder das polyzystische Ovarialsyndrom eingesetzt. Doch wir arbeiten an einer großen Studie, um zu zeigen, dass Metformin das Altern verzögert.
»Meine größte Angst ist, dass Bryan Johnson vorzeitig sterben könnte«
Es ist auffällig, dass sich vor allem sehr reiche Menschen für Langlebigkeit interessieren und die Forschung daran fördern. Wie sehen Sie das?
Ich verstehe die Motivation: Milliardäre wollen ihr Vermögen möglichst lange genießen. Bryan Johnson zum Beispiel – ich bin ihm dankbar, dass er das Thema Altern ins öffentliche Bewusstsein bringt. Was ich allerdings nicht gut finde, ist, dass er täglich mehr als 100 Nahrungsergänzungsmittel zu sich nimmt und behauptet, er betreibe Forschung. So funktioniert Forschung nicht, dass man allgemeingültige Erkenntnisse aus einem einzigen Fall ableiten könnte. Meine größte Angst ist, dass Johnson vorzeitig sterben könnte und das ganze Forschungsfeld damit in Verruf geraten könnte. Diese Gefahr besteht leider.
Was ist schlecht an Nahrungsergänzungsmitteln?
Die meisten bringen nichts – außer Profit für die Hersteller. Die müssen keinerlei Wirksamkeit nachweisen, um sie auf den Markt zu bringen. Das heißt aber auch, dass wir nichts über die möglichen Wirkungen und Wechselwirkungen der Nahrungsergänzungsmittel wissen. Die meisten Leute hoffen, dass sie positiv wirken und sich womöglich noch gegenseitig verstärken, sonst würden sie sie nicht einnehmen. Aber das Gegenteil könnte der Fall sein: Es könnte sein, dass die Mittel schaden und sich sogar darin gegenseitig verstärken. Eine große Studie im Fachmagazin Jama zeigte: Menschen, die viele Supplemente nahmen, hatten ein vier Prozent höheres Sterberisiko. Und das, obwohl die meisten Menschen, die Nahrungsergänzungsmittel nehmen, sehr gesundheitsbewusst sind.
Also sollte man besser gar keine Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen?
Genau. Der Begriff »Nahrungsergänzung« suggeriert ein Defizit, das meist gar nicht existiert. Beispiel Vitamin D: Trotz angeblich weitverbreitetem Mangel zeigen Studien keinen Nutzen – außer im Falle von Osteoporose.
Kehren wir zurück zu den Milliardären, die lange leben möchten. Eines der Institute, das privat finanziert wird und sehr viele gute Wissenschaftler auf dem Gebiet der Alternsforschung eingekauft hat, ist Altos Labs. Was halten Sie davon?
Altos ist spannend – anders als etwa Google Calico, das sich mittlerweile offenbar mehr auf Krebs konzentriert. Altos Labs will das Altern wirklich verstehen. Und sie veröffentlichen ihre Forschungsergebnisse, es ist keine Blackbox. Aber natürlich bleibt die Gefahr, dass private Geldgeber irgendwann die Richtung ändern. Ich beobachte das genau.
Was kann man konkret tun, um das Altern aufzuhalten? Ich bin 56 Jahre alt – was würden Sie mir empfehlen?
Sie sind im perfekten Alter, um aktiv zu werden. Wichtig ist Bewegung: 10 000 Schritte pro Tag, das sollten Sie sich angewöhnen. Ein Fitness-Tracker hilft, das zu kontrollieren. Zusätzlich sollten Sie Ihre Muskulatur stärken, besonders im Oberkörper. Und erhalten Sie Ihre Beweglichkeit, um das Risiko von Stürzen zu minimieren.
Mehr Sport also? Vielleicht Yoga?
Yoga ist gut, aber der Sport muss zu einem passen. Nicht jede Methode funktioniert für jeden. Das gilt auch fürs Intervallfasten: Manche Menschen können das Frühstück nicht auslassen, und das ist auch in Ordnung.
Wie sollte ich mich ernähren?
Auch die Ernährungsweise ist sehr personalisiert. Sie können Mittelmeerdiät machen oder Low-Carb, oder sich vegetarisch ernähren. Wichtig ist nur: Achten Sie auf Ihr Gewicht. Fettleibigkeit beschleunigt das Altern.
Wie wichtig ist der Schlaf?
Er ist sehr wichtig. Ich versuche, acht Stunden in einem dunklen, ruhigen Raum zu verbringen (lacht). In der Praxis komme ich auf etwa sechseinhalb Stunden Schlaf. Aber ohne Dunkelheit wären es noch weniger.
Es heißt immer wieder, gute Sozialkontakte im Alter schützen vor kognitivem Abbau und Demenz. Warum?
Freunde bringen uns dazu, aktiv zu bleiben, Sport zu treiben, rauszugehen. Natürlich hilft gemeinsames Whisky trinken eher weniger. (lacht)
Mehr kann ich nicht tun?
All diese Dinge kann man optimieren. Aber ab einem gewissen Alter reicht das nicht mehr aus, dann kommen Medikamente ins Spiel. Vor allem für Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, gesund zu leben, sind sie entscheidend, etwa für finanziell Schwächere oder Menschen mit Behinderungen. Hier könnte ein günstiges Medikament wie Metformin eine große Hilfe sein. Ein Ökonom hat mal ausgerechnet, dass jeder Dollar für Metformin 100 000 Dollar für Gesundheitskampagnen einspart.
Soll ich jetzt schon meinen Arzt fragen: Ich will Metformin, Ozempic und Co?
Wir haben vier Medikamente, die ich Ärzten empfehlen würde, zu verschreiben – natürlich individuell angepasst. Sind Sie schlank, brauchen Sie kein Ozempic. Aber wären Sie fettleibig, würde ich Ihnen erst Ozempic empfehlen und dann Metformin. Bei eingeschränkter Nierenfunktion wären SGLT2-Inhibitoren passend, bei Knochenschwund Bisphosphonate. Aber sinnvoll wäre das alles erst ab 60 – es sei denn, Sie haben bereits Prädiabetes. Übrigens: Es gibt eine Menge Menschen, und über sie haben wir noch gar nicht gesprochen, die hier wirklich dringend medikamentöse Hilfe bräuchten, weil sie schneller altern als andere.
Wen meinen Sie damit?
Krebsüberlebende zum Beispiel. Strahlen- und Chemotherapie lassen den Körper rapide altern. Insbesondere bei Kindern ist das dramatisch, denn die bekommen dann schon mit 35 Herzinfarkte. Manche Frauen erholen sich nach einer Brustkrebserkrankung nicht gut. Auch HIV-Infizierte bekommen Krankheiten etwa zehn Jahre früher als Nichtinfizierte. Menschen mit Down-Syndrom altern sehr schnell und erkranken fast alle verhältnismäßig früh an Alzheimer. Und sozial benachteiligte Menschen haben oft weniger Möglichkeiten, ein gesundes Leben zu führen. All diese Menschen brauchen Hilfe. Und wenn wir zum Mars reisen wollen, müssen wir auch das Altern durch kosmische Strahlung bekämpfen – sonst kehren die Astronauten krank zurück oder gar nicht mehr.
Ich wage es kaum, noch einmal zu fragen: Werden wir eines Tages unsterblich?
Ich hoffe, dass wir es in den nächsten 20 Jahren schaffen werden, Menschen näher an die 115 Jahre heranzuführen. Alles darüber hinaus liegt noch in ferner Zukunft.
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