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Langlebigkeit: Bei Dauerstress lässt das Gehirn den Körper altern

Treiben seelische Belastungen das Altern voran? Vieles deutet darauf hin, dass psychischer Stress im Körper Alterungsprozesse anstößt. Das Gehirn steht als Vermittler im Zentrum des Geschehens.
Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch und stützt seinen Kopf in die Hände, wirkt nachdenklich oder gestresst. Im Hintergrund ist ein unscharfer Bildschirm mit der Uhrzeit 12:46 zu sehen. Der Raum ist hell beleuchtet und es sind unscharfe Bürogegenstände im Hintergrund erkennbar.
Von Stress kann man tatsächlich graue Haare bekommen. Laut einer Hypothese fällt die Pigmentierung dem Sparzwang des Gehirns zum Opfer.

Werden wir älter, verlangsamt sich unser Stoffwechsel. Wir verlieren womöglich an Muskelmasse und verbrennen deutlich weniger Kalorien. Doch manche Zellen scheren hier aus: Sie verbrauchen sogar deutlich mehr Energie als in jungen Jahren. Bei diesen Energiefressern handelt es sich um sogenannte seneszente (vergreiste) Zellen. Weder teilen sie sich, noch erfüllen sie ihre Funktion – wozu benötigen sie dann Brennstoff?

»Da solche Zombie-Zellen scheinbar nichts tun, gingen Biologen früher davon aus, dass sie weniger Energie umsetzen als ihre jungen, aktiven Gegenstücke«Martin Picard, Psychobiologe

»Da sie scheinbar nichts tun, gingen Biologen früher davon aus, dass solche Zombie-Zellen weniger Energie umsetzen als ihre jungen, aktiven Gegenstücke«, erzählt Martin Picard, Psychobiologe an der Columbia University in New York. Doch als sein ehemaliger Doktorand Gabriel Sturm den Lebenszyklus menschlicher Hautzellen in einer Petrischale unter die Lupe nahm, stellte sich 2022 das Gegenteil heraus: Die älteren, teilungsunfähigen Zellen zeigten eine etwa doppelt so hohe Stoffwechselrate wie die jugendlichen. Picard und sein Team sehen darin keinen Widerspruch: In alternden Zellen sammeln sich beispielsweise reparaturbedürftige DNA-Schäden an und sie produzieren eine Menge entzündlicher Signalmoleküle. Das kostet Energie.

Das Gehirn als Ressourcenmanager

Dieses Energiedefizit könnte diverse Symptome des Alterns erklären. Das Gehirn agiert dabei laut einer Hypothese als Ressourcenmanager: Benötigen alternde Zellen mehr Energie, muss es an anderer Stelle sparen, was sich im Ergrauen der Haare oder im Muskelabbau niederschlagen würde. »Gehirn-Körper-Energieeinsparungs-Modell« nannten Evan Shaulson und Alan Cohen aus Picards Team im Oktober 2024 ihre Idee. Viele Aspekte müssen erst noch experimentell überprüft werden. Einige Forschungsgruppen versuchen aber bereits zu entschlüsseln, über welche molekularen Mechanismen das Gehirn den Energiehunger seneszenter Zellen detektieren könnte.

Verkürzte Telomere

Für eine Beteiligung des Gehirns bei Alterungsprozessen sprachen schon Anfang der 2000er-Jahre einige Beobachtungen, die den Einfluss von psychischem Stress nahelegten. Damals begann Elissa Epel als Postdoc an der University of California in San Francisco zu erforschen, welche molekularen Spuren chronische Belastung in Körperzellen hinterlässt. Es gab zu diesem Zeitpunkt bereits eindrucksvolle Berichte über den Zusammenhang von lang anhaltendem Stress mit schlechter Gesundheit, sagt die klinische Psychologin heute: »Doch wir wussten wenig darüber, was auf zellulärer Ebene passiert.«

Das Forschungsteam entschied sich, zunächst einen Blick auf die Telomere zu werfen, die Endabschnitte der Chromosomen. Sie bestehen aus sich wiederholenden DNA-Sequenzen und fungieren als eine Art Schutzkappe. Im Lauf des Lebens eines Organismus verkürzen sich diese DNA-Abschnitte zusehends, allerdings individuell unterschiedlich schnell. Wird eine bestimmte Länge unterschritten, stellt die Zelle die Zellteilung ein, wird also seneszent.

Die Moleküle waren umso kürzer, je länger die Frauen ihre Tochter oder ihren Sohn schon pflegten

Für ihre Studie konnte die Arbeitsgruppe 58 Frauen rekrutieren: 19 hatten gesunden Nachwuchs, 39 lebten mit einem chronisch kranken Kind zusammen. Epels Team beobachtete, dass die mutmaßlich chronisch gestressten Mütter mit kranken Kindern vergleichsweise kurze Telomere besaßen. Mehr noch: Die Moleküle waren umso kürzer, je länger die Frauen ihre Tochter oder ihren Sohn schon pflegten.

Gealtertes Epigenom

Später legten weitere Studien nahe, dass auch traumatische Kindheitserfahrungen, beruflicher Burnout und andere psychosoziale Stressoren die Telomerverkürzung beschleunigen, selbst wenn die Ergebnisse nicht immer ganz eindeutig waren. Zudem häuften sich Belege für andere stressabhängige Alterungsmarker. So zeigte sich, dass ein hoher Stresslevel im Leben auch mit einem schneller alternden »Epigenom« einhergeht – damit bezeichnen Fachleute die Gesamtheit an chemischen Modifikationen am DNA-Strang, die den Ablesevorgang regulieren. Als Mittler agiert hier möglicherweise das Stresshormon Cortisol, wie 2021 ein Team um Anthony Zannas und Helena Palma-Gudiel an der University of North Carolina beobachtete: Verglichen mit einer Kontrollgruppe wies nämlich bei Frauen mit erhöhten Cortisolwerten eine Reihe von immunrelevanten Genen weniger Methylierungen an der DNA auf.

Andere Gruppen untersuchten Stresseffekte bei Tieren. Die Aussagekraft von Tiermodellen ist begrenzt, unter anderem, weil Stress beim Menschen ungleich mehr soziale, psychologische und biologische Komponenten beinhaltet. Aber die Tierversuche geben Einblicke in biologische Mechanismen, die Humanstudien kaum gewähren können. Forschende um Alessandro Bartolomucci von der University of Minnesota entdeckten beispielsweise, dass bei Mäusen andauernder Stress durch Anwesenheit eines dominanten Artgenossen die Herzgesundheit beeinträchtigt und zu ihrem vorzeitigen Ableben führt. Dabei ging der niedrige soziale Status der Tiere auch mit zellulären Alterungszeichen einher.

p16 vermittelt sozialen Stress

In einer 2024 publizierten Studie an männlichen Nagern zeigte Carey Lyons aus Bartolomuccis Arbeitsgruppe etwa, dass derartiger Stress zu einem Anstieg von p16 führte. Das Protein ist ein zentraler Seneszenzmarker, da es die Zellteilung zu stoppen vermag. p16 reicherte sich nicht nur in Immunzellen an, sondern auch im Gehirn und im Fettgewebe.

Ein Team um den Biologen Noah Snyder-Mackler von der Arizona State University hatte die Genexpression bei gestressten Rhesusaffen untersucht. Kommt ein fremdes Tier in eine bestehende Affengemeinschaft, steht es in der sozialen Rangordnung meist erst einmal weiter unten. Bei solchen neu in die Gruppe eingeführten Affen registrierten die Forscher eine veränderte Immunantwort und eine auf Entzündungsreaktionen hindeutende Genaktivität in natürlichen Killerzellen. Die Effekte waren zumindest teilweise umkehrbar: Stieg das Tier in der sozialen Hierarchie auf, normalisierte sich das Genexpressionsmuster in den Immunzellen. Wie sich die stressbedingten Veränderungen auf die Lebensdauer auswirken, bleibt abzuwarten – Rhesusaffen können bis zu 30 Jahre alt werden.

Das Alterungsmolekül GDF15

Alle diese Stresseffekte deuteten zwar bereits auf eine Verbindung zum Gehirn hin. Doch lange gab es keine umfassende Hypothese dazu, wie es diese Prozesse steuert. Hier kommt nun das anfangs beschriebene Gehirn-Körper-Energieeinsparungs-Modell ins Spiel. Bei der Aufklärung zugrunde liegender Vorgänge konzentriert sich Picards Team derzeit auf den Wachstumsdifferenzierungsfaktor 15 oder kurz GDF15. Dieses Zytokin betrachten einige Fachleute als Schlüsselfaktor im menschlichen Alterungsprozess. Der Botenstoff wird schon länger mit altersbedingten Prozessen wie Seneszenz von Zellen, Fehlfunktion der Mitochondrien und altersbedingten Krankheiten wie Alzheimer in Verbindung gebracht. GDF15 ist zudem bei verschiedenen chronischen physischen und psychischen Erkrankungen oft erhöht und scheint bei Übelkeit, Appetitverlust und der Energiemobilisierung eine Rolle zu spielen.

Obwohl GDF15 von vielen Organen freigesetzt wird, fanden sich Rezeptoren für den Botenstoff nur an einem einzigen Ort – im Gehirn

Obwohl GDF15 von vielen Organen freigesetzt wird, fanden sich Rezeptoren dafür nur an einem einzigen Ort – im Gehirn. Das führte zu der Annahme, dass der Botenstoff dem Gehirn zellulären Stress signalisiert. In einer 2025 veröffentlichten Pilotstudie konnte ein Team um Cynthia C. Liu und Picard zeigen, dass die Spiegel des Zytokins im Blut und Speichel von Menschen als Reaktion auf beruflichen Stress ansteigen. Das könnte dem Gehirn einen erhöhten Energiebedarf anzeigen, woraufhin dieses den Verbrauch in anderen Körperregionen drosselt und dadurch Alterserscheinungen auslöst. Das Gehirn-Körper-Energieeinsparungs-Modell sei aus vielen Gründen attraktiv, sagt Bartolomucci, unter anderem, weil es so viele Alterungsphänomene unter einen Hut bringe. Dass nur ein einzelnes Molekül wie der untersuchte Wachstumsfaktor einen so komplexen Prozess wie das Altern antreibe, sei zwar unwahrscheinlich, doch GDF15 diesbezüglich zumindest »eines der interessantesten Moleküle«.

Das Gehirn als Energiemanager | Das Gehirn-Körper-Energieeinsparungs-Modell versteht das Gehirn als Ressourcenverwalter. Wenn sich in den Zellen Schäden ansammeln, treten manche in einen Zustand der Seneszenz ein. Sie hören auf, sich zu teilen, und lösen energieintensive Prozesse wie Entzündungen aus. Dabei setzen sie Signalmoleküle wie Zytokine frei, darunter GDF15, die dem Gehirn einen erhöhten Energiebedarf signalisieren. Das Gehirn registriert den Alarm und reagiert, indem es den Energieverbrauch in anderen Körperbereichen drosselt. Dies könnte zu typischen Alterserscheinungen wie ergrauendem Haar, einer Abnahme der maximalen Herzfrequenz und der Insulinempfindlichkeit sowie einer verringerten Produktion von Schilddrüsenhormonen führen.

Bewegung verlängert Telomere

Weltweit wird fieberhaft nach Rezepten für ein längeres, gesünderes Leben gesucht. Manche Studien deuten darauf hin, dass körperliche Aktivität in der Lage ist, den Tod hinauszuzögern. Epel und ihr Team untersuchten beispielsweise, ob Bewegung einige der Stresswirkungen auf das Altern abmildern kann. Tatsächlich vermochte ein aerobes Training in einer ihrer Studien bei chronisch gestressten Pflegenden die Telomere wieder zu verlängernBislang sind aber noch viele Fragen offen, was den Einfluss der verschiedenen Belastungsfaktoren auf das Altern angeht. »Wir wollen immer eine einfache Antwort. Wir wollen ein Maß für das Altern, wie die epigenetische Uhr oder Telomere«, sagt Epel. »Doch so einfach ist Biologie nicht.«

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  • Quellen

Epel. E.S. et al., PNAS 10.1073/pnas.040716210, 2004

Liu, C.C. et al., bioRxiv 10.1101/2025.02.27.640377, 2025

Lyons, C.E. et al., Nature Aging 10.1038/s43587–024–00743–8, 2025

Shaulson, E. D. et al., Nature Aging 10.1038/s43587–024–00716-x, 2024

Snyder-Mackler, N. et al., Science 10.1126/science.aah3580, 2016

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