Altes Ägypten: Das Farbwunder von Esna

In der Zeit, als Ägypten eine Provinz des Römischen Reichs war, von 30 v. Chr. bis ungefähr 330 n. Chr., wandelte sich das Land am Nil. Zahlreiche neue Entwicklungen hielten Einzug – auf administrativer, militärischer, wirtschaftlicher und nicht zuletzt auf religiöser Ebene. Neben der alten pharaonischen Religion folgten die Menschen neuen Strömungen, hingen hellenistischen Kulten an, dem Judentum, der Gnosis oder dem Christentum. Über das religiöse Leben in diesen bewegten Zeiten, als sich die Ägypter allmählich neuen Vorstellungen zuwandten, sind wir erstaunlich gut an einem Ort im Süden des Landes informiert: der einstigen Provinzmetropole Esna, zirka 60 Kilometer südlich von Luxor am Westufer des Nils gelegen. Dort ist von einem ehemals sehr viel größeren Heiligtum noch die Vorhalle des zentralen Tempelgebäudes erhalten, der sogenannte Pronaos, der heute mitten im modernen Ort Esna steht.
Bei dem Pronaos handelt sich um eine große Säulenhalle aus Sandstein – 37 Meter lang, 20 Meter breit. Insgesamt 24 Säulen tragen das Dach und ragen 14 Meter in die Höhe. Von den Säulen stehen 18 Stück frei im Raum des Pronaos, die übrigen sechs sind durch massive Schranken aus Stein miteinander verbunden und bilden einen Teil der Außenfassade. In der Mittelachse des Baus öffnet sich der Hauptzugang. Wahrscheinlich war die Säulenhalle innerhalb der Regierungszeit von Kaiser Tiberius (14–37) errichtet worden, die Ausgestaltung mit Inschriften und Darstellungen nahm jedoch die folgenden zwei Jahrhunderte in Anspruch. Die jüngste sicher datierbare Dekorationseinheit stammt aus der Zeit von Kaiser Trajan Decius, der von 249 bis 251 herrschte.
Innen wie außen sind die Wände des Pronaos mit Opferszenen, Bildern von Ritualen und mit Hieroglyphen bedeckt. Anders als bei vielen Tempeln der römischen Kaiserzeit sind die 18 freistehenden Säulen von oben bis unten beschriftet. Die Texte berichten nicht nur ausführlich über die lokalen Götter, sondern auch über die Feste zu ihren Ehren. Jene Feierlichkeiten dürften das religiöse und soziale Leben in Esna maßgeblich strukturiert und geprägt haben. Denn in den Schilderungen klingt immer wieder durch, wie intensiv die Stadtgemeinschaft an dem Geschehen teilgenommen hat.
Anlässlich der Feste waren einige Bereiche des Tempelbezirks, den sonst nur Priester und Tempelbedienstete betreten durften, der allgemeinen Bevölkerung zugänglich. Hier begannen die Prozessionen, denen zahlreiche Menschen beiwohnten – dann, wenn die Götterbilder in ihren Barken vom Heiligtum aus durch die Stadt getragen wurden. Allen voran die Bildnisse der beiden Hauptgottheiten: des widderköpfigen Schöpfergotts Chnum-Re und der menschengestaltigen Schutzgöttin Neith. Von den Prozessionen zeugen auch Graffiti, die wir 2024 an der Fassade des Pronaos entdeckt haben: In die unteren Mauerlagen hatte man Bilder von Barken geritzt, jenen Tragegestellen für die Götterbilder in Form damaliger Nilschiffe.
Ein Lager für Baumwolle und Schießpulver
Der Pronaos von Esna ist seit Langem für seine Inschriften bekannt. Vor allem wegen des eigentümlichen Schreibstils der Hieroglyphen, den die Priester von Esna offenbar eigens entwickelt hatten. Jedenfalls ist dieser spezielle Schriftstil nur von dort überliefert. Als Erster damit auseinandergesetzt hatte sich der französische Ägyptologe Serge Sauneron (1927–1976), der die Inschriften von Esna in jahrelanger Arbeit dokumentierte, übersetzte und veröffentlichte. Was Sauneron jedoch nicht wissen konnte: Ihm war eine Fülle an Informationen verborgen geblieben.
Denn bis vor Kurzem war weitgehend unbekannt, dass sich im Inneren des Baus die originale Farbgebung der Dekoration, die sogenannte Polychromie, seit der Antike nahezu vollständig erhalten hat. Allerdings war sie durch Ruß, Staub und Vogelexkremente fast vollkommen verdeckt. Vor allem Ruß haftete dicht auf den Wänden und Decken. Der Grund: Das Gebäude war über Jahrhunderte hinweg weiter genutzt worden. Aber nicht mehr als Tempel: Im 19. Jahrhundert etwa lagerte man im Pronaos Baumwolle, zeitweise wahrscheinlich sogar Schießpulver. Wenn also nicht allein durch den Gebrauch von Fackeln, so könnte auch ein Brand oder eine Explosion – ausgelöst durch das Schießpulver – die Wände, Decken und Säulen geschwärzt haben. Aus der durchgängigen Nutzung erklärt sich, warum der Pronaos nicht wie so viele andere Bauten der Antike abgerissen wurde, sondern glücklicherweise bis heute erhalten geblieben ist.
Um die ursprüngliche Polychromie wieder sichtbar zu machen, hat das ägyptische Ministerium für Tourismus und Altertümer zusammen mit der Universität Tübingen 2018 ein ägyptisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt ins Leben gerufen. Unser Ziel ist es, die antiken Farben freizulegen und zu konservieren sowie unsere Ergebnisse zu dokumentieren und zu publizieren. Unter der Leitung des Chefrestaurators Ahmed Emam konnte ein Team von zeitweise bis zu 30 Restauratoren innerhalb von fünf Jahren – nachdem es zur Vorbereitung zahlreiche Tests durchgeführt hatte – die gesamte Deckengestaltung und die freistehenden Säulen vollständig in ihren früheren Zustand versetzen.
Damit fand im Frühjahr 2024 eine wichtige Phase des Projekts ihren Abschluss, sodass wir uns seit Herbst 2024 auf die zweite Phase konzentrieren können, die Restaurierung sowie Dokumentation der Innenwände und Außenseiten der sechs vorderen Säulen, die Teil der Fassade sind. Parallel hat das Dokumentationsteam, das neben den Autoren dieses Beitrags aus den Fotografen Ahmed Amin und Mohamed Saad besteht, mehrere zehntausend Fotos für die wissenschaftliche Auswertung aufgenommen.
Unser Projekt ist noch nicht abgeschlossen, doch schon jetzt dürfte jeder, der heute den Pronaos betritt, von der Lebendigkeit der Farben beeindruckt sein und einen guten Eindruck davon erhalten, wie die polychrome Ausgestaltung eines ägyptischen Heiligtums der griechisch-römischen Zeit (um 323 v. Chr. bis 330 n. Chr.) tatsächlich ausgesehen hat.
Es ist ein überraschender Anblick. Anfangs hatten wir selbst nicht mit dieser Fülle gerechnet. Und es ist erstaunlich, wie viele bislang unbekannte Informationen wir inzwischen aus der antiken Polychromie herauslesen konnten. Daraus ergibt sich für uns eine gänzlich neue Herangehensweise, Tempeldekorationen zu erforschen und ihre Bedeutung zu verstehen. Viel mehr noch: Die einstige Farbigkeit hat unser Wissen über die religiösen und astronomischen Vorstellungen in Esna und ganz Ägypten enorm erweitert.
So ließen sich bislang zahlreiche Forschungsfragen überhaupt nicht stellen, da nur sehr wenig über die farbige Ausgestaltung der Tempel aus griechisch-römischer Zeit bekannt war. Nun können wir Studien zum Farbkanon durchführen und erforschen, warum sich dieser offenbar von Tempel zu Tempel unterschieden hat – ob es etwa an der Verfügbarkeit der Farbpigmente lag oder die Farben eine bestimmte religiöse Bedeutung trugen. Ebenso lässt sich jetzt untersuchen, welchen Zweck die Polychromie erfüllen sollte. Ging es beispielsweise darum, die Texte über weite Entfernungen hinweg lesbar zu machen?
Die gemalten Texte von Esna
Schon jetzt haben wir eine unerwartet große Zahl von Texten und Details der Dekoration dokumentiert, die man einst nicht aus dem Stein gehauen, sondern lediglich aufgemalt hatte. Diese Neufunde, die wir erst nach den Restaurierungsarbeiten entdecken konnten, haben unser Wissen beträchtlich erweitert.
Die vielleicht beeindruckendsten Beispiele dafür finden sich auf der Decke und den daran anschließenden Architekturelementen, den Querbalken (Architrave) und den darunterliegenden Säulenkapitellen. Allgemein lässt sich feststellen, dass die antike Farbgebung in den höher gelegenen Bereichen besser erhalten ist als in den bodennahen Bereichen. Die gesamte Decke und große Teile der Säulenschäfte erwecken seit der Restaurierung den Eindruck, als hätten die Künstler von einst ihr Werk erst vor Kurzem vollendet. Hingegen finden sich an den unteren Wand- und Säulenpartien, bis zu einer Höhe von ungefähr zwei bis drei Metern, kaum noch Reste der ursprünglichen Farbgebung. Der unterschiedliche Erhaltungszustand hat mit der Lage des Gebäudes zu tun: Dieses befindet sich gut zehn Meter unterhalb des heutigen Laufniveaus und damit in nächster Nähe zum Grundwasser. Das Gestein saugt das Wasser auf – samt den darin enthaltenen Salzen, die auf der Steinoberfläche ausblühen und diese mit der Bemalung absprengen können.
Die Decke des Pronaos ruht auf 18 freistehenden Säulen. Auf jeweils drei Säulen lastet je ein Architrav. Dementsprechend verfügt der Pronaos über sechs Architrave, die parallel zur Hauptachse des Tempels verlaufen und die Decke in sieben Zonen – nach Sauneron »Travées« genannt – einteilen (Grafik »Himmel im Tempel«). Mit Ausnahme der mittleren Zone geben alle Bereiche Himmelskörper und Himmelsphänomene wieder wie den täglichen Sonnenzyklus, die Phasen beziehungsweise Tage des Mondmonats, die Planeten und Figuren des Tierkreises (Zodiakos).
Vermutlich, weil die meisten Deckenabschnitte erst relativ spät, um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert, dekoriert wurden, hatte man die Namen zahlreicher Figuren, die Sternbilder symbolisieren, nur aufgemalt. Oft sind die Beischriften summarisch in roter Farbe ausgeführt, sodass wir den Eindruck haben, es handelt sich um Vorzeichnungen, die aus bislang unbekannten Gründen nicht vollständig farbig gefasst wurden. Jedenfalls haben uns die Beischriften die Namen vieler Sternkonstellationen verraten, auch wenn uns die Bilder dazu – etwa eine Mumie auf einer Barke oder zwei Gänse – nicht genügend Hinweise liefern, um die Sternbilder am Nachthimmel lokalisieren zu können.
Einige Schwierigkeiten, das Dargestellte sinnvoll zu interpretieren, bereitete bislang die Deckenzone mit dem Mondmonatszyklus. Bis wir auch hier die Polychromie freilegen konnten. Jetzt liefert sie uns nicht nur einige der vielleicht wichtigsten neuen Informationen, sondern unterstreicht überdies die weitentwickelte naturwissenschaftliche Beobachtungsgabe der Ägypter, freilich präsentiert in einem mythologischen Gewand. Zu sehen ist der zu- beziehungsweise abnehmende Mond (siehe »Mondphasen«). Im alten Ägypten ist der Mond mit der Sage um den Falkengott Horus verbunden, genauer gesagt mit einem seiner Augen, das vom Gott Seth im Kampf um das Königserbe des Osiris, des Vaters von Horus und Seths Bruder, zerstückelt und danach wieder geheilt (ägyptisch »udja«) wird. Die Ägypter bezeichneten es daher als Udjat-Auge, als »das Unversehrte« oder »das Vollständige«.
In Esna liegt nun der Fall vor, dass jeder Tag im Mondmonat als Scheibe und darüber mit der jeweiligen Schutzgottheit dargestellt ist. Die Scheiben sind aus dem Stein gemeißelt und heben sich im Relief von der Decke ab. In Saunerons Edition der Deckendekoration aus dem Jahr 1969 sind in einem Teil jener 28 Mondscheiben Udjat-Augen zu erkennen. Nach der Restaurierung haben wir jedoch festgestellt: Tatsächlich ist in fast jedem Mondsymbol ein solches Auge eingezeichnet. Allein beim Vollmond ist es als Ganzes wiedergegeben. In den übrigen Kreisen hingegen, die Tage mit zu- oder abnehmendem Mond symbolisieren, ist das Auge entsprechend der Mondphase lediglich teilweise abgebildet. Das ist eine bislang einzigartige Darstellungsweise, die mythologische Elemente geschickt mit dem tatsächlichen Mondmonatszyklus kombiniert.
Über den Himmel und durch die Unterwelt
In einer anderen Deckenzone ist der tägliche Sonnenzyklus thematisiert. Im alten Ägypten stellte man sich vor, dass der Sonnengott jeden Tag eine immergleiche Reise absolviert: Bei Tag fährt er in einer Barke über den Himmel und tritt bei Sonnenuntergang im Westen in die Unterwelt ein, durchquert sie, um am nächsten Tag bei Sonnenaufgang wieder am östlichen Horizont hervorzukommen. Dementsprechend konnte der Sonnengott in der Morgenbarke als kleines Kind, in der Mittagsbarke als Erwachsener und in der Abendbarke als alter Mann dargestellt sein. Damit war der tägliche Sonnenzyklus dem Leben eines Menschen angeglichen, der in der Vorstellung der Ägypter nach seinem Tod ebenfalls in die westliche Unterwelt eintritt.
Anstelle eines Kindes wurde der morgendliche Sonnengott auch als Skarabäus wiedergegeben, was auf der Beobachtung beruht, dass die Mistkäfer aus Tierkot eine Kugel formen, darin ein Ei ablegen und den Dungball im Boden vergraben, aus dem irgendwann ein neuer Käfer hervorkrabbelt. Die Ägypter verstanden das Verhalten der Käfer als Symbol für das Hervorkommen der regenerierten Sonne aus der Unterwelt. In Esna ist jene Morgensonne ebenfalls abgebildet (siehe »Skarabäus«): ein Skarabäus auf einer weißen Scheibe an Bord einer Barke. Seit den Konservierungsarbeiten erstrahlt dieser Skarabäus in einem bemerkenswerten Detailreichtum, der vollständig auf der farbigen Ausgestaltung basiert – im Relief hatte man nur die wichtigsten Umrisse ausgeführt.
Bereits vor der Restaurierung widmeten Ägyptologen einem Deckenbereich große Aufmerksamkeit: dem Zodiakos. Die Tierkreiszeichen in Esna sind nämlich aus mehreren Gründen außergewöhnlich. So handelt es sich um eines der seltenen Beispiele für einen rechteckig angeordneten Tierkreis. Normalerweise reihte man die Figuren der zwölf Sternzeichen in runder Form auf. Doch nicht nur deshalb sind die Darstellungen in Esna von einigem Interesse. Die Figuren entsprechen den griechischen und babylonischen Ausformungen der Tierkreiszeichen. Offenbar hatte man diese Versionen in Ägypten übernommen, lediglich »Aquarius« (Wassermann) und »Gemini« (Zwillinge) sind in einer ägyptischen Fassung wiedergegeben. Nach der Restaurierung hat uns erneut erstaunt, wie detailreich die Figuren gestaltet worden waren – und zwar allein durch die Farbgebung wie im Fall von »Scorpius« (Skorpion) (siehe »Vor und nach der Restaurierung«).
Hier und ebenso an anderen Stellen der Decke zeigt sich, wie meisterhaft die Künstler gearbeitet haben. Das ist von einigem Belang, da die Dekoration des Tempels in der Forschung oft als qualitativ minderwertig eingestuft wurde – mit Verweis auf die »späte« Ausgestaltung des Baus in römischer Zeit. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die figürlichen Darstellungen der Deckenbereiche dürfen für kunsthistorische Untersuchungen über das römische Ägypten von nun an als maßgebliche Beispiele indigener Schaffenskraft gelten.
Palmen und Papyrus als Säulen
Wie bereits angeklungen, hatte man das Innere des Pronaos von Esna vollständig ausgestaltet – auch die Säulenschäfte, die aus einem weiteren Grund etwas Besonderes darstellen: Die am oberen Ende befindlichen Kapitelle, die bei architektonisch miteinander verbundenen Säulen normalerweise einheitlich geformt sind, wurden in Esna alle unterschiedlich ausgeführt. Zudem weisen sie einen großen Formenreichtum an Motiven auf, die allesamt der Pflanzenwelt entnommen sind und die Säulen als steingewordene Papyrusdolde, Dattelpalme oder als ein anderes Gewächs erscheinen lassen (siehe »Kapitelle«). Einige Kapitelle sind zusätzlich mit Motiven wie dem Udjat-Auge verziert, was hier als Schutzsymbol zu verstehen sein dürfte.
Unterhalb der Kapitelle setzt sich die Dekoration auf den Säulenschäften mit einem schmalen Inschriftenband und einem Fries fort (siehe »Heka im Schutz der Götter«). Künstlerisch auf sehr hohem Niveau, sind auch diese Darstellungen extrem detailreich, was wiederum durch die Polychromie bedingt ist. Der Fries im Bild »Heka im Schutz der Götter« gibt zudem das lokale Farbspektrum wieder, das aus den Tönen Gelb, Rot, Grün, Blau, Weiß und Schwarz besteht. Dabei wurden die Farben aber nicht zufällig gewählt. Hier spielten nun nicht astronomische Vorstellungen eine Rolle, vielmehr stand die lokale Götterwelt im Vordergrund.
In den Friesen der Säulen finden sich häufig Kartuschen mit den Namen von Gottheiten. Üblicherweise umschließen Kartuschen die Namen von Königen, im gezeigten Beispiel ist hingegen der Kindgott Heka genannt. Zusammen mit Chnum und Neith gehörte er zum lokalen Pantheon von Esna. Bemerkenswert ist, dass seine Kartusche grün ausgefüllt ist, was möglicherweise auf die göttliche Natur des eingeschriebenen Namens hinweisen sollte. Hekas Kartusche kann auch als Personifikation dieser Gottheit verstanden werden.
Jedenfalls ist das Oval von zwei weiteren Wesen schützend umgeben: Auf der rechten Seite breitet ein Horus-Falke namens Behedeti, dessen Kopfzeichnung und Gefieder äußerst akkurat ausgeführt sind, seine Flügel um die Kartusche aus, während links der widderköpfige Chnum mit einem Anch-Zeichen in der Hand vor Heka sitzt. Chnums Kopf und Hände sind blau ausgemalt. Die in unseren Augen seltsam wirkende Hautfarbe dürfte bewusst gewählt worden sein, um die Eigenschaften dieses Gottes bildlich zu beschreiben: Chnum galt als Wind- und Schöpfergott, der in der Vorstellung der Ägypter durch seinen Atem alle Lebewesen belebte. Darauf deutet zudem das Anch-Zeichen in seiner Hand hin – die Hieroglyphe bedeutet »Leben«.
Die Alltagssprache Demotisch in altehrwürdigen Hieroglyphen
Die Polychromie im Pronaos von Esna war kein reiner Schmuck, sondern diente auch als Bedeutungsträger, soweit wir wissen. Das trifft etwa auf eine hieroglyphische Inschrift aus der Regierungszeit von Kaiser Domitian (81–96) zu, die man mit Fug und Recht als Prachttext bezeichnen kann (siehe »Monumental-Demotisch«). In der Ägyptologie hat der Text als Beispiel für das sogenannte Monumental-Demotische einige Bekanntheit erlangt.
Demotisch ist eine kursive Schriftform des Ägyptischen, stellt aber gleichzeitig eine Stufe der altägyptischen Sprache dar. Sie wurde zu jener Zeit gesprochen, als auch die Prachtinschrift entstand. Die Texte in den Tempeln der griechisch-römischen Zeit sind hingegen fast immer in einer Art Kunstsprache formuliert, die auf einer viel älteren Sprachstufe basiert. Daher ist es etwas Besonderes, dass der Hieroglyphentext in Esna zahlreiche Elemente jener Sprachstufe aufweist, die zugleich die Alltagssprache dieser Zeit war. Uns sollen allerdings mehr die handwerkliche Ausführung der Hieroglyphen und ihre polychrome Gestaltung interessieren, genauer gesagt die Raffinesse, mit der die Handwerker zu Werke gingen.
Der Text gibt einen Hymnus wieder, der Chnum als den Erschaffer allen Lebens und aller Lebewesen anruft. Schaut man sich die einzelnen Hieroglyphen genau an, wird deutlich: Die Handwerker hatten sie nicht nur sehr sorgfältig ausgemeißelt, sondern – und das ist das eigentlich Bemerkenswerte – ihnen mit der farbigen Ausführung eine zusätzliche Bedeutung verliehen. Ein augenfälliges Beispiel stellen die Enten mit ausgebreiteten Flügeln dar, die sich mehrfach an den Zeilenanfängen rechts finden. Die im Relief herausgearbeiteten Umrisse der Vögel sind durchweg nahezu identisch, doch farblich unterscheiden sich die Tiere. Letztlich gleicht keine Ente der anderen.
Dieses Phänomen lässt sich innerhalb des Textes bei zahlreichen »belebten« Hieroglyphen beobachten, etwa den Menschen und den übrigen Vogelarten. Bedenkt man nun, dass es sich bei dem Text um den Hymnus an einen Schöpfergott handelt, so lässt sich erwägen, die Farbgebung sei bewusst verwendet worden, um die Vielfalt der Schöpfung zu verbildlichen – ohne dass sich deshalb der Wortlaut des Textes ändert. Offenbar nutzte man die Farbigkeit als Mittel, um zahlreiche weitere Informationen zu vermitteln, die sich durch die Schrift oder die Wortwahl allein kaum in einen Text integrieren ließen.
Für das Verständnis der Texte und der gesamten Dekoration von Esna ist dies immens wichtig. Schon zuvor haben Ägyptologen den Priestern vollkommen zu Recht attestiert, dass sie große Spezialisten darin waren, allein durch die Auswahl der Hieroglyphen weitere relevante Aussagen in einem Wort zu verklausulieren. Dadurch konnten sie den Text mit einer Vielzahl von Verständnisebenen anfüllen. Grundsätzlich war das möglich, weil die Hieroglyphenschrift ein sehr offenes und nahezu unbegrenztes System bietet, ein und dasselbe Wort zu schreiben – Orthografie im heutigen Sinn spielte dabei kaum eine Rolle. Mit der Farbauswahl, -anordnung und -kombination verfügten die Priester demnach über ein weiteres wichtiges Mittel, eine Bedeutungsebene zu schaffen.
Und sicherlich sollte mit der Polychromie zudem die Idee der Belebung erfüllt werden. Hieroglyphen sind keine Bilderschrift, aber in der Vorstellung der alten Ägypter waren sie sehr wohl lebendig. Diese Art von Realität in ägyptischen Tempeln war freilich immer kultisch oder mythologisch geprägt, denn offenbar gab es andere Erklärungsmuster für die Herkunft und Beschreibung der Schöpfung, als es wahrscheinlich heute der Fall wäre.
Zu den genannten Texten und Bildern im Tempel ließen sich noch dutzendfach Beispiele aus Esna hinzufügen, doch das Wenige zeigt bereits, wie bedeutend die Farbgebung war. Die Polychromie liefert uns neue Erkenntnisse über die handwerkliche Ausgestaltung ägyptischer Tempel, über die einstige Astronomie, über lokale religiöse Vorstellungen. Klar ist zudem: Ohne Kenntnis der antiken Farbgebung lässt sich der Aussagegehalt der Darstellungen und Inschriften nicht vollständig erfassen. Wie stark sie davon abhängig sind, werden wir erst nach Abschluss aller Konservierungs- und Analysearbeiten wissen. Sicher ist allerdings, dass sich unser Bild von Aussehen und Bedeutung ägyptischer Tempelinschriften schon jetzt maßgeblich verändert hat.
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