Direkt zum Inhalt

Aphasien: Am Rande der Glaubwürdigkeit

Rund 90 000 Menschen in Deutschland leiden an einer Sprachstörung, meist infolge eines Schlaganfalls. Sprachtherapien sollen ihnen helfen, im Alltag besser klar zu kommen. Doch die Wirksamkeit der Therapien ist umstritten.
Alle drei Minuten erleidet ein Mensch in Deutschland einen Schlaganfall. Zwanzig Prozent der Betroffenen sterben daran, ein Drittel der Überlebenden sind dauerhaft auf fremde Hilfe angewiesen. Eine der häufigsten Folgen von Schlaganfall sind Sprachstörungen – so genannte Aphasien. Sie werden durch Schädigungen der Sprachregion verursacht, die bei mehr als neunzig Prozent der Menschen in der linken Großhirnhemisphäre liegt. Sprachstörungen können sich auf alle sprachlichen Fähigkeiten auswirken, auf Sprechen und Schreiben ebenso wie auf Verstehen und Lesen.

Sprachzentren des Großhirns | Lokalisation bestimmter Teilbereiche der Sprachfähigkeit: Die Sprachfunktionen sind über einen großen Bereich des Großhirns verteilt. Außerdem existieren mehrere, teilweise unabhängige "Kanäle" für die Sprachfunktionen: für die Verarbeitung von visuellem und auditivem Material, für die Generierung von Verben (Syntax) und Substantiven, für automatisches und für geplantes Sprechen sowie für die Produktion einzelner und multipler Phoneme. So wie sich nicht auf eine bestimmte Hirnregion deuten lässt, die "sieht" oder sich "erinnert", lässt sich auch kein Ort lokalisieren, der "redet". Die Sprachfähigkeit hängt von einem komplexen Gefüge sensorischer Integration, symbolischer Assoziation, motorischer Fertigkeiten, gelernter syntaktischer Muster und dem verbalen Gedächtnis sowie dem begrifflichen und kategoriespezifischen Wissen ab.
Aphasien beeinträchtigen das gesamte Leben der Betroffenen: In der Familie und im sozialen Umfeld bringen sie meist einschneidende Veränderungen mit sich, oft behindern sie die Rückkehr in den Beruf. Umso wichtiger ist eine intensive Sprachtherapie, die je nach Allgemeinzustand der Betroffenen bereits in den ersten Tagen nach einem Schlaganfall einsetzen sollte.

Ein- bis zweimal täglich

In der akuten Phase, also den ersten Wochen nach dem Schlaganfall, empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) in ihrer Leitlinie zur Aphasiebehandlung ein- bis zweimal täglich Sprachtherapie. Im ersten halben Jahr soll laut DGN bei aphasischen Patienten mindestens drei- bis viermal wöchentlich eine Sprachtherapie durchgeführt werden. Behandlungen mit einer Frequenz von zwei Wochenstunden oder weniger "sind unwirksam", so die Leitlinien.

In den neuen Leitlinien der DGN, die Wolfram Ziegler von der Gesellschaft für Aphasieforschung und -behandlung derzeit federführend überarbeitet, soll diese Empfehlung noch verschärft werden. "Im ersten drei viertel Jahr sind fünf Behandlungen pro Woche Minimum", fordert Ziegler. "Die Literatur sagt eindeutig, dass weniger als fünfmal wöchentlich nichts bringt." Nach seiner Beobachtung wird das jedoch in vielen Kliniken anders gehandhabt, da der personelle und finanzielle Aufwand zu hoch sei.

Schwieriger Nachweis der Wirksamkeit

Die DGN reagiert mit ihren Empfehlungen auf Therapiestudien, die Erfolge von Sprachtherapie nur bei häufiger und regelmäßiger Behandlung bestätigen. In den vorliegenden Leitlinien formuliert die DGN vorsichtig, dass "ein gesicherter empirischer Nachweis der Wirksamkeit" der Aphasietherapie "schwer zu erzielen" sei. So ist ein gut Teil der Behandlungserfolge auf spontane Heilungen zurückzuführen.

In zahlreichen Studien und Meta-Studien versuchten in den vergangenen Jahren Mediziner und Sprachtherapeuten, die Effektivität von Aphasietherapie statistisch gegenüber derartigen Spontanremissionen abzusichern. Doch die Ergebnisse bleiben widersprüchlich: Während einige Meta-Analysen den Sprachtherapien messbare Erfolge zubilligen, sprechen andere davon, dass die Effektivität oder Ineffektivität von Sprachtherapie für Schlaganfall-Patienten in kontrollierten Studien nicht nachweisbar sei.

Erklärungszwang

Der Berufsstand der Sprachtherapeuten, Logopäden und Sprachheillehrer gerät damit zunehmend in Erklärungszwang. Nach Ansicht der Konstanzer Neurolinguisten Georg Greitemann und Dolores Claros Salinas ist "die Frage nach der allgemeinen Wirksamkeit von Aphasietherapie nicht sinnvoll", da Therapien, Krankheitsbilder und Patienten zu vielfältig sind.

Je häufiger die Behandlungen – darin sind sich Fachleute einig – desto eher profitieren Aphasiker über den Zufall hinaus von der Therapie. Durchaus üblich vor allem in der ambulanten Behandlung sind jedoch wöchentliche Therapie-Sitzungen. "Es gibt Patienten, die sehr wohl von wöchentlicher Behandlung profitieren", meint Ulrike de Langen-Müller vom Deutschen Bundesverband der akademischen Sprachtherapeuten, die ebenfalls fünf Behandlungen pro Woche fordert.

Es fehlt nicht nur das Geld

Die schlechte Versorgung ambulanter Aphasiepatienten ist laut Frank Ostermann, Vorsitzender des Bundesverbandes Klinische Linguistik, jedoch nicht in erster Linie ein Problem des Geldes. Obwohl die neuen Heilmittelrichtlinien zur Deckelung der Kosten therapeutischer Tätigkeiten Sprachtherapie nur "mindestens einmal wöchentlich" empfehlen, würden gesetzliche und private Kassen eine häufigere Behandlung von Aphasikern mittragen. Ostermann sieht das Problem vor allem aufseiten der Logopäden, die "zu wenig Erfahrung mit Aphasikern" haben und über eine wöchentliche Behandlung hinaus nichts mit ihren Patienten anzufangen wissen.

Damit spitzt sich die Diskussion um die Wirksamkeit der Sprachtherapie zu. Auf Grund der Datenlage fordern medizinische und sprachtherapeutische Spitzenverbände im Sinne der evidenzbasierten Medizin hochfrequente Behandlungen.

Doch die Praxis sieht anders aus. Praktiker fürchten, dass am Ende die Schlaganfall-Patienten auf der Strecke bleiben. Denn die Verlockung ist groß, dass die Krankenkassen die teuren, hochfrequenten Behandlungen auf schwere Fälle beschränken. Bei den übrigen Patienten, so die Befürchtung, könnte eine niederfrequente Behandlungen als unwirksam ganz eingestellt werden. Doch die Erfahrung vieler Sprachtherapeuten zeigt, dass hochfrequente Behandlungen zwar das Optimum darstellen, aber auch von weniger häufigeren Behandlungen profitieren die Patienten – auch wenn der wissenschaftliche Nachweis schwierig bleibt.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.