Direkt zum Inhalt

Insektengemeinschaften: »Ameisen gehören zu den sozialen Superstars«

Ameisen gelten geradezu als Inbegriff von Kooperation. Doch warum wurden sie in der Evolution so viel sozialer als etwa Taufliegen – obwohl sich ihre Gehirne nur wenig voneinander unterscheiden? Welche Rolle Pheromone dabei spielen, erklärt der Biologe Daniel Kronauer im Interview.
Mehrere Wanderameisen sitzen auf einer toten Heuschrecke
Zu sehen sind Wanderameisen. Sie sind nahe Verwandte der »clonal raider ant«.

Daniel Kronauer und sein Team erforschen die soziale Evolution in komplexen Insektengemeinschaften. Sie interessieren sich für Fragen wie diese: Wie kann in einer Kolonie von genetisch identischen Klonen so etwas wie Arbeitsteilung entstehen? Wir haben Kronauer in seinem New Yorker Labor an der Rockefeller University getroffen.

Herr Kronauer, Sie wollen herausfinden, wie sich komplexe Sozialgemeinschaften bei Insekten entwickelt haben. Weshalb sind Ameisen für Sie so spannend?

Ameisen gehören zu den sozialen Superstars. Sie sind sogar viel sozialer als wir Menschen, denn bei ihnen findet man diese unglaubliche Integration in den Ameisenstaat – man spricht hier auch von einem Superorganismus.

Daniel Kronauer | Der Biologe wurde in Heidelberg geboren und studierte an den Universitäten Heidelberg und Würzburg. Nach seiner Promotion an der Universität Kopenhagen über Wanderameisen begann er seine Arbeit über die klonale Räuberameise an der Harvard University. 2011 wechselte er an die Rockefeller University in New York. Hier leitet er das Laboratory of Social Evolution and Behavior.

Können Sie das genauer erläutern?

Die Tiere differenzieren sich derart, dass sie wie verschiedene Organe eines multizellulären Organismus agieren. Die Ameisenkönigin ist dabei so etwas wie die Keimbahn des Körpers und die Arbeiterinnen sind das somatische Gewebe. Letztere pflanzen sich also nicht fort und erfüllen unterschiedlichste Aufgaben: Einige gehen auf Nahrungssuche, andere ziehen die Larven auf oder arbeiten auf der »Müllhalde«. Und bei Wanderameisen gibt es Arbeiterinnen mit säbelartigen Mandibeln – es sind Soldatinnen, die selbstständig gar keine Nahrung mehr aufnehmen können. Die natürliche Selektion greift hier auf der Ebene der Kolonie, die einzelne Ameise hat ihre Individualität größtenteils aufgegeben.

Aus menschlicher Sicht ist das keine angenehme Vorstellung.

Ameisen werden immer wieder als Beispiel für menschliche Staatsformen herangezogen. Das macht mich nervös, denn sie sind viel extremer als wir. Daher bin ich auch vorsichtig mit Vergleichen. Für uns wäre es Horror, in so einer Kolonie zu leben.

Eine Spezies interessiert Sie besonders, nämlich Ooceraea biroi – die klonale Räuberameise, auf Englisch »clonal raider ant«. Was ist an ihr so speziell?

Bei ihr gibt es keine Königin. Alle Arbeiterinnen legen Eier und daraus entstehen wieder Arbeiterinnen. Sie verpaaren sich nicht und alle Nachkommen entstehen aus unbefruchteten Eizellen. Ihr Staat besteht also aus genetisch identischen Klonen. Dadurch ist es fast so, als habe man es mit einer Bakterienkultur zu tun.

Mit der man gut experimentieren kann?

Das ist der Punkt. Es gibt etwa 15 000 Ameisenarten – mit den meisten von ihnen ist es schwierig zu arbeiten, denn sie haben nur eine Königin, die die ganzen Eier legt. Die Anzahl der Kolonien, mit denen man experimentieren kann, ist somit durch die Anzahl der Königinnen begrenzt. Zudem lassen sich die meisten Ameisen nicht im Labor verpaaren. Viele Wissenschaftler holen die Insekten daher jedes Jahr aus der Natur. Da fehlt es dann aber an Kontinuität: Man kann nie dasselbe Experiment an einem Ameisenstaat reproduzieren und hat auch keine Kontrolle über die genotypische Zusammensetzung. Mit der »clonal raider ant« haben wir diese Probleme nicht. 2008 sammelte ich meine ersten eigenen Kolonien auf der Insel Okinawa in Japan.

Themenwoche: Wie Tiere denken und fühlen

Natürliche Neugier

Wenn die Verhaltensforschung der letzten Jahre eines sehr deutlich zeigt, dann dass wir die kognitiven und emotionalen Leistungen zahlreicher nichtmenschlicher Lebewesen lange unterschätzt haben. Dabei nicht zu vergessen: jene der so genannten »Nutztiere«. Wollen wir das gesamte Spektrum des tierischen Verhaltens und Denkens begreifen, dann dürfen wir uns Menschen dabei nicht in den Mittelpunkt stellen. Wie kann das gelingen? Antworten auf diese und weitere Fragen liefert »Spektrum.de« in einer Themenwoche.

Intelligenz: Nicht das Maß aller Dinge

Hunde: Die Welt mit der Nase sehen

Soziale Kognition: Sind Tiere empathisch?

Verhaltensbiologie: Nutztieren gerecht werden

Insektengemeinschaften: »Ameisen sind soziale Superstars«

Alle Inhalte zur Themenwoche »Wie Tiere denken und fühlen« finden Sie auf unserer entsprechenden Themenseite.

Und aus ihnen sind mittlerweile zahlreiche geworden?

Ja. Im Labor können wir die großen Kolonien in viele kleine, identische Gruppen teilen und haben somit hervorragende Kontrollbedingungen. Wir halten die Tiere in Schalen, in denen sie sich vermehren. In einem Behälter befinden sich bis zu 20 000 Klone. Im Vergleich dazu sind die Kolonien im freien Feld recht klein, sie bestehen vielleicht aus ein paar hundert Individuen.

Das heißt, die Tiere sind genetisch alle identisch. Wie kann es dann sein, dass sich bei ihnen eine komplexe Sozialität mit Arbeitsteilung entwickelt?

Das ist eine der Fragen, die wir in Zukunft beantworten möchten. Wir vergleichen die Art dabei mit einem anderen gut untersuchten Modellorganismus – der Taufliege Drosophila melanogaster. Ihr Gehirn ist nicht so viel anders als das der klonalen Räuberameise, auch von der Anzahl der Neurone her. Trotzdem unterscheiden sich beide deutlich im Sozialverhalten. Setzt man Taufliegen in eine Kulturschale mit Nährmedium, dann verpaaren sich einige von ihnen, andere sind aggressiv; sonst passiert nicht viel. Ameisen hingegen fangen direkt an, ein Nest zu bauen und die Arbeitsteilung zu organisieren. Bei ihnen entsteht spontan ein größeres Ganzes. Wie entwickelt sich in der Evolution ausgehend von Drosophila etwas derart Soziales? Wir denken, dass Pheromone da eine Rolle spielen.

Inwiefern?

Ameisen kommunizieren stark über Gerüche. Im Lauf der Evolution ist bei ihnen das olfaktorische System enorm expandiert, das sieht man auch im Genom. Sie haben bis zu 500 verschiedene Geruchsrezeptoren in ihren Antennen. Die Taufliege hat dagegen nur ungefähr 50. Das war wohl einer der wichtigen Schritte in der Evolution der Sozialität: Das Insektenhirn ist komplexer geworden, inklusive des Geruchssinns. Da gibt es eine interessante Parallele zum Homo sapiens. Bei uns betraf die Expansion jedoch vor allem Hirnregionen für die Gesichtserkennung und die Sprache.

Im Labor | Daniel Kronauer betrachtet eine Kolonie klonaler Räuberameisen unter dem Mikroskop.

Pheromone spielen für den Menschen aber keine Rolle, oder?

Es gab 2023 eine Studie zu weiblichen Tränen, die den Testosteronspiegel von Männern senkten. Diese waren dann weniger aggressiv. Also kann das schon sein, spielt bei uns allerdings eine eher untergeordnete Rolle. Sprechen, Hören und Sehen sind für Menschen wichtiger. Was ich sagen will: Bei Organismen, die in der Evolution sehr sozial wurden, fanden Expansionen in Bereichen der Kommunikation statt. Bei Ameisen betraf das vor allem das olfaktorische System.

In einer Studie haben wir gezeigt, dass die Ameisen »asozial« werden, wenn man ihnen den Geruchssinn nimmt. Wir schalteten ein Gen namens orco aus. Das Gen codiert für einen Korezeptor, ohne den die olfaktorischen Rezeptoren nicht funktionieren. Die Ameisen konnten dann keine Duftspuren mehr verfolgen und sind nur noch im Kreis gelaufen. Es gab auch keinerlei soziale Interaktion mehr.

Können Sie konkrete Beispiele für soziale Interaktionen von Ameisen nennen, bei denen Pheromone eine Rolle spielen?

Es gibt bei den klonalen Räuberameisen ein Rekrutierungs-Pheromon, welches Artgenossen anlockt. Ähnliches findet man bei Wanderameisen, die eng mit ihnen verwandt sind und die Brut anderer Ameisenkolonien rauben. Wenn ein Individuum eine Beutekolonie entdeckt, dann sondert es einen Duftstoff aus. Einige der Ameisen verlassen daraufhin das Nest und eilen zur Hilfe, andere bleiben bei den Larven.

Kolonie | In einer einzigen Plastikschale können die Forschenden mehrere tausend klonale Räuberameisen halten. Die Schale ist mit Gips ausgegossen, auf dem sich die Tiere wohl fühlen.

Wie entscheidet sich, wer mitgeht, wer im Nest bleibt? Also wie entsteht hier Arbeitsteilung?

Es gibt hierfür die grundlegende Idee, dass Arbeitsteilung bei Ameisen durch Verhaltensschwellenwerte entsteht. Ich gebe mal ein anschauliches Beispiel: Man stelle sich eine WG vor, in der sich die dreckigen Teller im Spülbecken stapeln. Einer der Mitbewohner hat eine niedrige Schwelle, das Geschirr zu spülen. Er macht sich deshalb als Erster an die Arbeit – und der Stapel wird wieder kleiner. Für denjenigen, der eine höhere Schwelle hat, wird diese somit nie erreicht. Wenn die erstgenannte Person aus der WG auszieht und in der Folge der Tellerstapel stark anwächst, dann würde der Reiz aber so stark, dass der oder die Verbleibende auch damit anfängt, Teller abzuwaschen.

»Bei Ameisen entsteht spontan ein größeres Ganzes«

Es handelt sich demnach um ein sich selbst organisierendes System.

Ja, es entsteht Arbeitsteilung ohne die Notwendigkeit zur Absprache. Es gibt keine Ameise, die den anderen sagt, was zu tun ist. In manchen Fällen unterdrücken einzelne Individuen das Verhalten ihrer Artgenossen. Doch die Arbeitsteilung an sich ist selbst organisiert. Unterschiedliche Ameisen haben verschieden starke Tendenzen, auf soziale Reize zu reagieren. Und das ist erstaunlich, denn sie sind ja genetisch identisch.

Wie werden diese Unterschiede im Gehirn festgelegt?

Vieles wird hier über das Alter organisiert. Wir haben in dem Zusammenhang zum Beispiel Neuromodulatoren erforscht, wie das Neuropeptid Inotozin. Es ist verwandt mit dem Oxytozin der Säugetiere, das der Brutpflege und dem Paarungsverhalten dient. Bei Ameisen steigt im Alter der Inotozinspiegel im Gehirn. Verabreichten wir jüngeren Individuen das Neuropeptid, dann verhielten sie sich eher wie ältere Tiere und gingen vermehrt auf Nahrungssuche, um die hungrige Brut zu versorgen. Das Peptid legt also eine Reaktionsschwelle für bestimmte soziale Signale fest, bei denen es sich um Pheromone handeln könnte.

Was ist der nächste Schritt in Ihrer Forschung?

Als Nächstes wollen wir wissen: Wie genau wirken sich die Neuromodulatoren im Detail auf die neuronalen Schaltkreise aus? Wir haben hierzu ein größeres Projekt am Laufen. Dabei rekonstruieren wir das Ameisengehirn per Elektronenmikroskop – samt aller Axone, Dendriten, sogar bis hin zu den Mitochondrien.

Unter dem Zwei-Photonen-Mikroskop | Eine einzelne transgene Klonale-Räuberameisen-Puppe, umgeben von Wildtyp-Ameisen. Die genveränderte Ameise stellt in ihren olfaktorischen Nervenzellen einen fluoreszierenden Stoff her. Damit ist es möglich, die neuronale Aktivität im Geruchssystem aufzuzeichnen.

Haben Sie bereits Ergebnisse?

Wir haben erste Studien mit transgenen Ameisen durchgeführt und ein fluoreszierendes Protein ins olfaktorische System eingebaut. Das Molekül reagiert auf den Einstrom von Kalzium beim Feuern einer Nervenzelle. Bei den Versuchen liegt eine Ameise unter einem Zwei-Photonen-Mikroskop und bekommt einen Geruchsstoff verabreicht – etwa ein Alarmpheromon. Ältere Tiere reagieren stärker darauf als jüngere. Wir konnten zeigen, dass die Pheromone im jungen Gehirn andere Areale im Geruchssystem aktivieren als bei älteren Ameisen. Wie genau wandert die Information dann vom olfaktorischen System in höhere Regionen? Das wollen wir im nächsten Schritt elektronenmikroskopisch kartieren. Die andere Frage lautet: Warum ändert sich das im Leben der Ameise? Welche Neuromodulatoren spielen hier eine Rolle?

Könnte man die Erkenntnisse auch auf Säugetiere, vielleicht sogar auf den Menschen übertragen?

In der Tat gibt es interessante Parallelen zu Säugern, etwa in Bezug auf das Brutpflegeverhalten. Das haben Drosophila und viele andere Wirbellose nicht. Hier die neuronalen Schaltkreise zu verstehen, zu untersuchen, wie sie entstanden sind, welche Neuromodulatoren wirken und wie sich das durch Erfahrung verändert – das ist interessant! Bei Menschen ändern sich die Vorlieben und das Verhalten im Lauf des Lebens ebenfalls. Es gibt viele Studien zum hohen Alter und zur Pubertät. Aber was passiert hormonell im Gehirn zwischen den Jahren 20 und 60? Dazu weiß man bislang wenig. Ameisen sind ein sehr gutes Modellsystem für solche Fragen. Insofern können sie die Forschung an Säugetieren echt nach vorne bringen.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

  • Quellen

Fetter-Prundea, I. et al.: An oxytocin/vasopressin-related neuropeptide modulates social foraging behavior in the clonal raider ant. PLOS Biology 19, 2021

Frank, D., Kronauer, D.: The budding neuroscience of ant social behavior. Annual Review of Neuroscience 47, 2024

Hart, T. et al.: Pheromone representation in the ant antennal lobe changes with age. Current Biology 34, 2024

Trible, W. et al.: Orco mutagenesis causes loss of antennal lobe glomeruli and impaired social behavior in ants. Cell 170, 2017

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.