Atlantische Umwälzzirkulation: Expedition zum Treiber des europäischen Klimas

Rund 800 Kilometer nördlich vom Polarkreis treibt das Forschungsschiff »Kronprins Haakon« in einem dichten Schollenfeld aus rundlichem Pfannkucheneis, als Doktorandin Alexandra Stephens von der University of Toronto in Mississauga, Kanada, auf das verschneite Deck tritt. Sie lässt eine Kameradrohne in den violetten Himmel steigen, um über dem vereisten Ozean nach Wärmeinseln zu suchen. Auch wenn es nicht so aussieht, sind die Temperaturen der arktischen Gewässer im Februar geradezu mild im Vergleich zur Lufttemperatur, die zu dieser Jahreszeit unter minus 30 Grad Celsius fallen kann. Auf dem Bildschirm von Stephens' Fernsteuerung erscheinen die rundlichen Schollen in den Wärmebildern der Drohne als dunkle Kreise, während offenes Wasser und dünnes Neueis hellorange leuchten – ein Hinweis darauf, dass hier Energie aus dem Meer in die kalte Polarluft entweicht.
Die Abgabe von Wärme aus dem Ozean an die Atmosphäre bildet das Herzstück einer der wichtigsten Komponenten des Erdklimas: ein Strömungssystem, das sich über die gesamte Länge des Atlantischen Ozeans schlängelt und warmes, salzreiches Wasser aus den Tropen in den hohen Norden transportiert. Dieses Netzwerk von Meeresströmungen hat den etwas sperrigen Namen »Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation« oder im Englischen »Atlantic Meridional Overturning Circulation«, kurz AMOC. Es beeinflusst das Klima unseres gesamten Planeten. So sorgt es zum Beispiel dafür, dass die Winter in Nordwesteuropa relativ mild und viel wärmer sind als die im kanadischen Labrador, das auf einem ähnlichen Breitengrad liegt.
Forschungsteams weltweit sind jedoch zunehmend besorgt, dass dieses wichtige Strömungssystem angesichts des sich stetig erwärmenden Planeten schwächer wird. Klimasimulationen deuten darauf hin, dass die AMOC im Lauf des 21. Jahrhunderts einen Kipppunkt erreichen und in der Folge einen Großteil ihrer Kraft verlieren könnte.
Das hätte katastrophale Folgen: Eine im Jahr 2024 veröffentlichte Studie prognostiziert, dass die Temperaturen in Nordwesteuropa dabei um bis zu 15 Grad Celsius fallen und die Region in eine neue Eiszeit stürzen könnten, während die Südhalbkugel unter zunehmender Hitze leiden würde. Außerdem könnte ein weitgehender Kollaps der AMOC zu verheerenden Veränderungen der Regenmuster im Amazonasbecken führen sowie zu einem zusätzlichen Meeresspiegelanstieg im Atlantik um mehr als einen halben Meter. »Die Auswirkungen eines Zusammenbruchs der AMOC werden so extrem sein, dass wir uns daran nur schwer anpassen können«, sagt der Meeresphysiker Henk Dijkstra von der niederländischen Universität Utrecht, einer der Mitautoren der Studie.
Bedeutende, aber noch wenig erforschte Schlüsselregion
Trotz ihrer unbestrittenen Bedeutung für das Erdsystem ist die AMOC eine der großen Unbekannten in Prognosen zum zukünftigen Klima auf unserem Planeten. Forschende haben bisher kaum Informationen über die aktuellen Veränderungen der ozeanischen Zirkulation – vor allem im polaren Nordatlantik, einer Schlüsselregion für die AMOC. Aus diesem Grund hat sich im Februar 2025 eine Expedition mit dem norwegischen Eisbrecher »Kronprins Haakon« auf den Weg in die westliche Grönlandsee aufgemacht, im Rahmen eines von der Europäischen Union finanzierten Projekts namens ROVER. Das Akronym steht für »resilient northern overturning in a warming climate«. Mit seinem verstärkten Rumpf kann das Schiff in die eisbedeckte und nur schwer zugängliche Region vordringen.
»Dies ist ein sehr spärlich untersuchtes Gebiet, besonders im Winter, wenn kaum jemand hier rausfährt«, sagt Kjetil Våge, der das ROVER-Projekt leitet. Der Meeresphysiker forscht an der Universität Bergen und dem Bjerknes Centre for Climate Research in Norwegen. Er vermutet, dass der Meereisrückgang entlang der grönländischen Ostküste durch die starke Erwärmung der Arktis dazu beitragen könnte, die AMOC zu stabilisieren – und verhindern könnte, dass sich diese tatsächlich so stark verlangsamt wie befürchtet. Våge und sein Team wollen auf der ROVER-Expedition wertvolle Daten sammeln, die den Puls der AMOC messen. Sie sollen den Forschenden helfen, besser zu verstehen, wie sich die Umwälzzirkulation in den kommenden Jahrzehnten verändern wird.
Als die »Kronprins Haakon« den Hafen von Longyearbyen der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen verlässt, ist die Arktis noch in die tiefe Dunkelheit der Polarnacht gehüllt. Wie weitreichend der Einfluss der AMOC ist, zeigt sich beim Überqueren der Framstraße, die Spitzbergen und Grönland trennt (siehe »Winterreise«). Auf dem ersten Teil der Reise durchpflügt das Schiff nach Norden strömendes Atlantikwasser, das Spitzbergens Westküste ganzjährig eisfrei hält. Doch kaum hat die »Kronprins Haakon« diese Strömung verlassen, stößt sie bereits auf dichtes Packeis aus dem Arktischen Ozean, das südwärts treibt.
Oft wird die AMOC mit einem Förderband verglichen – eine stark vereinfachte, aber treffende Beschreibung, da die Strömungen an der Meeresoberfläche und in der Tiefsee in entgegengesetzte Richtungen fließen. Auf der Nordhalbkugel transportieren die Oberflächenströmungen, zu denen auch der Golfstrom gehört, warmes und salzhaltiges Wasser vom Äquator in Richtung Arktis. Dabei gibt das Wasser enorme Wärmemengen an die Atmosphäre ab und dient auf diese Weise Teilen Europas in den Wintermonaten als Fernheizung.
Wenn sich das Oberflächenwasser auf dem Weg nach Norden abkühlt, nimmt seine Dichte zu. Dadurch sinkt es bei Grönland in die Tiefe ab. Weil kaltes Wasser mehr Kohlendioxid (CO2) aufnehmen kann als warmes, wird durch diesen Prozess sehr viel Kohlendioxid in der Tiefsee gespeichert. Gleichzeitig wird diese so mit lebenswichtigem Sauerstoff versorgt. Die abgesunkenen Wassermassen strömen zurück gen Süden, ehe sie in der Nähe der Antarktis wieder auftauchen (siehe »Ozeanbewegungen rund um den subpolaren Wirbel«).
Klimawandel hemmt die Tiefenwasserbildung
Computermodelle zeigen, dass die Erderwärmung das Strömungssystem gleich auf mehrere Arten durcheinanderwirbeln könnte: Aufgrund der steigenden Lufttemperaturen in der Arktis und Subarktis kühlt das Oberflächenwasser im Winter weniger stark ab, sprich, es erreicht eine geringere Dichte als normalerweise. Ein weiterer Faktor ist das Abschmelzen des arktischen Meereises und des grönländischen Eisschilds. Dadurch gelangt Süßwasser in den Ozean, was die Dichte des Oberflächenwassers noch weiter verringert. Diese Veränderungen hemmen die Tiefenwasserbildung, welche die AMOC antreibt.
Die Sorge um eine deutliche Abschwächung der Umwälzzirkulation ist nicht nur theoretischer Natur: Belege aus der Erdgeschichte weisen darauf hin, dass die Stärke der AMOC auch früher schon beim Wechsel von Eis- und Warmzeiten Schwankungen unterlag – mit jeweils dramatischen Folgen.
Beunruhigt über die zukünftige Entwicklung, begannen Fachleute bereits Anfang der 2000er-Jahre damit, den Atlantik zu überwachen. Um zu verfolgen, ob sich die AMOC abschwächt, verankerten mehrere internationale Teams in verschiedenen Breiten Instrumente am Meeresgrund, die Wassertemperatur, Salzgehalt und Strömungsgeschwindigkeit messen. Das am längsten laufende Programm, RAPID-MOCHA, erfasst seit 2004 die Stärke der Oberflächen- und Tiefenströmungen der AMOC nördlich des Äquators am 26. Breitengrad. Ein anderes Programm, OSNAP, überwacht diese an mehr als 50 Positionen entlang einer Kette, die von Labrador über Südgrönland bis nach Schottland reicht.
»Vor 25 Jahren wurde darüber debattiert, ob sich der Ozean erwärmt. Jetzt stecken wir mitten in dieser unübersichtlichen Phase, in der wir versuchen zu verstehen, was mit der Umwälzzirkulation geschieht«Susan Lozier, Ozeanografin
Bislang zeigen die Aufzeichnungen im Hinblick auf die von der AMOC bewegte Wassermenge zwar erhebliche Schwankungen, aber keine anhaltenden Veränderungen. Die Beobachtungszeitraum sei aber ohnehin zu kurz, um einen klaren Trend zu erkennen, sagt Susan Lozier, Ozeanografin am Georgia Institute of Technology in Atlanta und Leiterin von OSNAP. »Vor 25 Jahren wurde darüber debattiert, ob sich der Ozean erwärmt. Jetzt stecken wir mitten in dieser unübersichtlichen Phase, in der wir versuchen zu verstehen, was mit der Umwälzzirkulation geschieht.«
Da die Wissenschaft nur auf Strömungsmessungen aus zwei Jahrzehnten zurückgreifen kann, ist sie auf indirekte Methoden angewiesen, um die Stärke der AMOC zu früheren Zeitpunkten zu bestimmen. So zeigen beispielsweise Aufzeichnungen von Temperaturen an der Meeresoberfläche, dass sich der subpolare Nordatlantik seit den 1950er-Jahren abgekühlt hat – während sich der Ozean insgesamt erwärmt hat. Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler deuten die Abkühlung als Anzeichen dafür, dass die AMOC weniger warmes Wasser aus den Subtropen nach Norden transportiert, und haben eine Abschwächung um etwa 15 Prozent berechnet. Andere hingegen kommen zu dem Schluss, dass die Umwälzzirkulation in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend stabil geblieben ist.
Indizien dafür, dass sich die AMOC langfristig verlangsamt, liefern wiederum die Schalen planktischer im Meeresgrund konservierter Mikroorganismen sowie die Korngrößen mariner Sedimente. Sie geben Aufschluss über die einstigen Oberflächentemperaturen und die Stärke von Tiefseeströmungen. Laut dem Paläoklimaforscher David Thornally vom University College London in England sind die Veränderungen der atlantischen Zirkulation seit der industriellen Revolution, die durch solche Klimaproxies aufgezeichnet werden, »außergewöhnlich für das gesamte Holozän«. Mit dem Begriff wird die seit knapp 12 000 Jahren anhaltende Warmzeit bezeichnet, in der wir leben.
In etlichen Studien aus den vergangenen Jahren warnen Forscherinnen und Forscher auf der Basis von Computermodellen davor, dass sich die AMOC in naher Zukunft drastisch verlangsamen könnte – bis hin zu einem fast völligen Stillstand. Ein Zusammenbruch erfolge jedoch nicht abrupt, sondern ziehe sich über 50 bis 100 Jahre hin, erklärt Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, der die atlantische Zirkulation seit mehr als drei Jahrzehnten untersucht. Jenseits eines kritischen Kipppunkts sei ein weiterer Rückgang jedoch unaufhaltsam. »Ich denke, die Chancen stehen 50 zu 50, dass wir diesen Kipppunkt noch in diesem Jahrhundert überschreiten werden«, sagt er.
Ozeanbeobachtungen sind unerlässlich
Die Annahme, dass die AMOC auf einen Kollaps zusteuert, ist nicht unumstritten. So wird etwa angezweifelt, dass Klimamodelle in der Lage sind, die Gegenwart realistisch zu simulieren und somit verlässliche Prognosen zu liefern. Dafür seien Forschende auf Messungen angewiesen, mit denen sie ihre Modelle überprüfen und verfeinern können, sagt Ben Moat, Ozeanograf am National Oceanography Centre in Southampton, England, und einer der Leiter von RAPID-MOCHA. »Ozeanbeobachtungen sind unerlässlich, um die Zukunft der AMOC zu verstehen.«
Kjetil Våge vermutet, dass Prozesse im Nordmeer nördlich von Island, die von aktuellen Klimamodellen nicht ausreichend berücksichtigt werden, über das Schicksal der Umwälzzirkulation im Atlantik mitentscheiden könnten. Aus diesem Grund haben er und sein Team sich im Februar in die eisigen Gewässer jenseits des Polarkreises gewagt.
An einem Nachmittag macht die »Kronprins Haakon« knapp 250 Kilometer vor der grönländischen Küste Halt. Die Schiffscrew öffnet eine hydraulische Luke im großen Hangar auf dem Hauptdeck und lässt einen Metallrahmen mit 24 leeren Probenbehältern und einer Reihe von Sensoren – eine so genannte CTD-Rosette – ins tiefblaue Meer hinab. Die Abkürzung CTD steht für »conductivity, temperature and depth«, was übersetzt »Leitfähigkeit, Temperatur und Tiefe« bedeutet. Im wissenschaftlichen Kontrollraum beobachtet Doktorandin Erika Giorgi von der norwegischen Universität Bergen am Bildschirm die aufgezeichneten Daten, während die Sonde an einem langen Draht langsam gut zwei Kilometer gen Meeresboden sinkt. »Es ist aufregend, mitten im Winter hier draußen zu sein und die Messungen in Echtzeit zu verfolgen«, kommentiert sie. Sie sieht, wie die Wassertemperatur von minus 1,8 Grad Celsius an der Oberfläche – dem Gefrierpunkt von Meerwasser – auf etwa plus zwei Grad in 200 Meter Tiefe ansteigt, bevor sie zum Grund hin wieder auf unter null Grad Celsius sinkt.
Das Hauptinteresse der Fachleute gilt der Schicht aus relativ warmem und salzigem Wasser. Dieses ist zuvor durch den Atlantik nach Norden geflossen, hat in der Framstraße eine 180-Grad-Wende gemacht oder eine Runde im Arktischen Ozean gedreht und drängt nun im Ostgrönlandstrom wieder nach Süden. Westlich von Island, in der Dänemarkstraße, passiert das dichte, schwere Wasser einen untermeerischen Gebirgszug, der sich von Grönland bis nach Schottland erstreckt. Südlich davon ergießt es sich als eine Art unterseeischer Wasserfall in die Tiefe des Nordatlantiks. Dies macht den Ostgrönlandstrom zu einer wichtigen Quelle für die Tiefenströmung der AMOC und zu einem der bedeutendsten Untersuchungsobjekte des ROVER-Projekts.
»Wir wissen nicht, wie viel Wärme aufgrund des schmelzenden Eises in die Atmosphäre entweicht oder wie wichtig dieser Prozess ist«Kjetil Våge, Meeresphysiker
In der Vergangenheit war der Ostgrönlandstrom im Winter vollständig von Meereis bedeckt, sodass kaum Wärme aus dem Ozean in die Atmosphäre entweichen konnte. Aufgrund steigender Temperaturen in den zurückliegenden Jahrzehnten schrumpft die winterliche Eisdecke jedoch auch in diesem Teil der Arktis. Dadurch ist die Meeresoberfläche nun extrem kalter Polarluft ausgesetzt. Das könnte das Absinken dichter Wassermassen in die Tiefe und somit einen zentralen Bestandteil der Umwälzzirkulation ankurbeln. Für Meeresphysikerin Giorgi ist das »ein Hoffnungsschimmer«, verglichen mit all den anderen, meist düsteren Zukunftsszenarien der AMOC.
Våge vermutet, dass die Tiefenwasserbildung, die durch den starken Wärmeverlust in dieser Region angetrieben wird, die AMOC widerstandsfähiger gegenüber dem Klimawandel machen könnte, als einige Wissenschaftler bisher angenommen haben. Er verweist auf die Daten einer früheren Pilotstudie, die seine Hypothese stützen. »Aber wir wissen nicht, wie viel Wärme in die Atmosphäre entweicht oder wie wichtig dieser Prozess ist«, sagt er.
Um solche Fragen zu beantworten, kreuzt die Expedition wiederholt den grönländischen Kontinentalhang und dringt dabei teilweise weit in die Packeiszone über dem Schelf vor. Das Forschungsteam arbeitet im Schichtbetrieb. Rund um die Uhr sammelt es Daten und Wasserproben, bei Temperaturen von bis zu minus 22 Grad Celsius, bei Schneestürmen und unter Polarlichtern.
In manchen Gegenden erlauben offene Wasserflächen der Expedition eine ungehinderte Durchfahrt. Anderswo lässt dickes, mehrjähriges Eis die »Kronprins Haakon« nur langsam vorankommen. Nachts hält oft das Rütteln des Schiffs die Forschenden in ihren Kojen wach, wenn es frontal auf dicke Schollen stößt. Mehr als einmal bleibt es im Packeis stecken und muss zurücksetzen, um einen schiffbaren Weg durch das eisige Labyrinth zu finden.
Substanzen verraten das »Alter« der Wassermassen
Alle paar Seemeilen lassen die Wissenschaftler die CTD-Rosette ins Wasser und holen sie dann mit Proben aus verschiedenen Tiefen wieder an Bord. Der Meereschemiker Emil Jeansson vom Norwegian Research Centre in Bergen etwa füllt dann zahlreiche überdimensionale Glasspritzen mit Wasser aus den Probenflaschen. Er analysiert die Konzentration menschengemachter und schwer abbaubarer Gase wie die des heute verbotenen, weil ozonschädigenden Kältemittels Freon-12. Die Substanzen verraten das »Alter« von Wassermassen, also wie lange es her ist, dass sie zuletzt mit der Atmosphäre in Kontakt standen. Anhand dieser Informationen können die Forschenden die Tiefenwasserbildung in der Region abschätzen.
Andere Expeditionsteilnehmer lassen Drohnen und Wetterballons gen Himmel steigen, um die Wechselwirkungen zwischen Ozean und Atmosphäre zu untersuchen. Ihre Instrumente messen unter anderem den Wärmeaustausch und erfassen kurzzeitige Ausbrüche kalter, trockener Luftmassen, die vom grönländischen Eisschild herabwehen und dem offenen Wasser nahe der Meereiskante effizient Wärme entziehen können.
Die detaillierten Untersuchungen der Winterexpedition werden ergänzt mit Daten von sechs Messketten, die Våge und sein Team bereits im Herbst 2024 am 71. Breitengrad am grönländischen Kontinentalhang auf dem Meeresboden verankert haben. An den Ketten befestigte Sonden messen Strömungsgeschwindigkeit, Temperatur sowie Salzgehalt und werden die saisonalen Veränderungen des Ostgrönlandstroms rund zwei Jahre lang in unterschiedlichen Tiefen aufzeichnen. Autonome Unterwassergleiter, die im Zickzackkurs zwischen der Ozeanoberfläche und einer Tiefe von 1000 Metern pendeln, sammeln im gleichen Zeitraum weitere Daten über die Dichtestruktur der Grönlandsee und übermitteln diese bei jedem Aufstieg per Satellit.
Obwohl die Meereisbedeckung in der gesamten Arktis im März 2025 ein neues Rekordtief seit Beginn der Satellitenbeobachtungen erreichte, lag sie in der Grönlandsee über dem Mittelwert der vergangenen Jahre. Folglich fanden die Forschenden während der Expedition keine direkten Beweise für die Bildung von Tiefenwasser in der Region. Erst im Sommer 2026 werden sie mehr wissen. Dann wollen sie die am Boden verankerten Messinstrumente mit den Daten aus zwei kompletten Wintern bergen.
Schicksalsfragen
Unterdessen widmen sich verschiedene wissenschaftliche Vorhaben anderen zentralen Fragen zum Schicksal der AMOC. So wollen beispielsweise Forschende aus Europa, Kanada und den USA im Rahmen eines EU-Projekts namens EPOC (Explaining and Predicting the Ocean Conveyor) die räumlichen und zeitlichen Schwankungen der AMOC besser verstehen. Dazu kombinieren sie Feldbeobachtungen und Computersimulationen. Im Februar 2025 hat die britische Advanced Research and Invention Agency den Startschuss für ein millionenschweres Forschungsprogramm gegeben, das einen möglichen Zusammenbruch des grönländischen Eisschilds und des subpolaren Wirbels im Nordatlantik – eines Schlüsselgebiets für die Tiefenwasserbildung – untersuchen wird.
Alle befragten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betonen, dass längere Beobachtungsreihen nötig seien, um beurteilen zu können, wie sich die AMOC entwickeln wird. Grund dafür sind natürliche Klimaschwankungen und die Tatsache, dass die Ozeane langsamer auf die globale Erwärmung reagieren als die Atmosphäre und die Landmassen. Sie warnen jedoch: Bis sich ein statistisch signifikanter Trend in den Daten abzeichnet, könnte sich die AMOC bereits erheblich abgeschwächt haben.
»Wenn mit der AMOC etwas passiert, wird das sehr weitreichende und ernste Konsequenzen haben«, sagt Våge auf der Brücke der »Kronprins Haakon« und blickt über die raue Grönlandsee. Während ein Sturm mit Orkanböen auf das Schiff zukommt, denkt er über die noch größeren Gefahren nach, die der Erde in nicht allzu ferner Zukunft drohen könnten. »Wenn nur eine geringe Möglichkeit besteht, dass etwas passieren könnte, müssen wir alles daransetzen, es zu verhindern.«
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