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Amyotrophe Lateralsklerose: Stecken Giftpilze hinter einer Häufung neurologischer Erkrankungen?

In einem kleinen französischen Alpendorf traten in kurzer Abfolge mehrere Fälle von amyotropher Lateralsklerose auf. Die Suche nach möglichen Ursachen liefert einen Verdächtigen: ein giftiger Waldpilz, der unter manchen Einwohnern als Delikatesse gilt.
Ein bräunlicher Pilz - eine Art Giftlorchel - mit einer unregelmäßigen, gewellten Oberfläche wächst auf einem moosbedeckten Baumstumpf im Vordergrund eines nebligen Nadelbaumwaldes.
Manche Pilze sollte man besser im Wald stehen lassen. Giftlorcheln wie dieses Exemplar zählen dazu.

Eine Departementstraße schlängelt sich nach Montchavin hinauf, das in den französischen Alpen auf einer Höhe von 1250 Metern über dem Meeresspiegel liegt. Das einst verschlafene Bergdorf wurde in den 1970er Jahren zu einem touristischen Zentrum ausgebaut. Holzhäuser im Chaletstil reihen sich aneinander und der Ort befindet sich inmitten des riesigen Skigebiets Paradiski, das zu den größten der Welt zählt.

Das macht Montchavin bei vielen Wintersportfans bekannt. Der Ort hat jedoch auch die Aufmerksamkeit der Medizinforschung auf sich gezogen. Denn in der Bevölkerung findet sich eine höchst ungewöhnliche Häufung der verheerenden amyotrophen Lateralsklerose (ALS).

Die neurologische Krankheit bedingt einen fortschreitenden Verlust von Nervenfunktionen im Gehirn, im Rückenmark und in Motoneuronen sowohl in den Gliedmaßen als auch im Brustkorb. Das führt zu Lähmungen, die sich mit der Zeit ausweiten und verstärken, und schließlich zum Tod durch Atemstillstand. ALS ist ein seltenes Leiden, das sich relativ gleichmäßig über den Globus verteilt: Jährlich erkranken zwei bis drei von 100 000 Menschen neu daran. Obwohl Montchavin in der Winter- und mittlerweile auch in der Sommersaison von Besuchern überrannt wird, leben dort ganzjährig nur ein paar hundert Personen. Die Nachbardörfer sind ebenfalls nicht viel größer. Das macht die Wahrscheinlichkeit, in der unmittelbaren Umgebung mehr als den einen oder anderen vereinzelten ALS-Patienten zu finden, äußerst gering. Dennoch haben Fachleute in den zehn Jahren zwischen 2009 und 2019 in der Gemeinde mehr als ein Dutzend Betroffene identifiziert.

»Das erste, was die Dorfärztin sagte, war: ›Ich weiß genau, was das bedeutet; es ist der vierte Fall in unserem Ort‹«Emmeline Lagrange, Neurologin

Die erste Patientin aus dem Montchavin, die die Neurologin Emmeline Lagrange 2009 untersuchte, war eine Frau Ende dreißig. Sie war Skilehrerin und Skiliftkartenkontrolleurin und stammte ursprünglich aus Polen. In der Nebensaison arbeitete sie im örtlichen Fremdenverkehrsamt. Eine Ärztin im Dorf hatte sie an Lagrange überwiesen, die 135 Kilometer südwestlich am Universitätskrankenhaus von Grenoble praktiziert. Sie stellte die Diagnose ALS und erinnert sich, wie sie anschließend ihre Kollegin in Montchavin anrief, um ihr die Folgen der Erkrankung zu erklären: »Das Erste, was sie sagte, war: ›Ich weiß genau, was das bedeutet. Es ist der vierte Fall in unserem Ort. Meine Nachbarin ist vor 20 Jahren an ALS gestorben, und zwei ihrer Freunde leiden daran.‹«

Lagrange, die in der Folge die Untersuchung des Clusters leitete, hatte erst nicht damit gerechnet, noch mehr Fälle in der Umgebung zu finden. Doch ein Zeitungsbericht über einen Mann, der Spendengelder für einen benötigten Rollstuhl sammelte, führte sie zu einem zusätzlichen Patienten. Ein Apotheker wies sie auf einen sechsten Betroffenen hin. Lagrange habe »große Angst« gehabt, als sich die Fälle weiter häuften: Sie fand einen weiteren Erkrankten im Jahr 2009, 2010 waren es drei, 2012 zwei, 2013 bis 2015 jeweils einer pro Jahr, und der vorerst letzte kam 2019 dazu. Insgesamt erfasste sie 16 Menschen. Neun männliche und fünf weibliche Betroffene im Alter von 39 bis 75 Jahren erklärten sich dazu bereit, weiter medizinisch begleitet zu werden. Lagrange selbst untersuchte 13 von ihnen.

Überschaubares Alpendorf | Der Ort Montchavin liegt im Skigebiet Paradiski in den französischen Alpen. Einige hundert Menschen leben hier – und mehr als ein Dutzend von ihnen erkrankten seit 2009 an ALS.

Die Mehrheit der Patienten hatte mindestens ein Jahrzehnt in Montchavin verbracht, einige sogar ihr gesamtes Leben. Meistens handelte es sich um Franzosen, aber auch Menschen aus Polen, der Türkei, Kanada und dem Vereinigten Königreich fanden sich in der Gruppe. Unter den Betroffenen gab es ein Ehepaar – der Mann war Skilehrer und verdiente in der Nebensaison als Holzfäller Geld. Der gebürtige Montchaviner erhielt die Diagnose 2005 im Alter von 63 Jahren. Seine Frau arbeitete in einem Restaurant und acht Jahre später im Alter von 67 Jahren wurde bei ihr die Krankheit diagnostiziert. Alle bis auf eine Person waren körperlich sehr aktiv gewesen. Einige lebten durchgehend im Dorf, andere nur saisonal.

Welche Umstände zu der Motoneuronkrankheit führen, ist großteils noch ungeklärt. Manchmal tritt ALS mit einer gewissen Häufung in Familien auf; auf erbliche Faktoren lassen sich jedoch nur 10 bis 15 Prozent aller Erkrankungen zurückführen. Fachleute haben zahlreiche Gene identifiziert, die an solchen familiären Fällen beteiligt sein können. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Gefahr steigt, wenn eine Person viel Zigarettenrauch, erhöhter Luftverschmutzung sowie bestimmten Industriechemikalien ausgesetzt ist. Veteranen des US-Militärs haben Studien zufolge ein um 50 Prozent höheres ALS-Risiko als die Zivilbevölkerung. Doch die Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen diesen Faktoren und der Krankheit sind bislang nicht entschlüsselt.

Welche Umstände zu ALS führen, ist großteils noch ungeklärt

Keiner der Montchavin-Patienten, so erfuhr Lagrange, hatte eine familiäre Vorgeschichte von ALS. Von zwölf Betroffenen, deren Blut getestet wurde, besaß niemand eines der bekannten Gene, die ihn anfälliger gegenüber der Krankheit machen könnten. Also wandten sich Lagrange und ihre Kollegen möglichen Umweltfaktoren zu. Beispielsweise analysierten sie Trinkwasser und Gartenerde auf toxische Substanzen. Sie untersuchten eine Chemikalie, die in Skigebieten dem Wasser für die Beschneiungsanlagen zugesetzt wird. Sie testeten auf Schwermetalle, da sich in der Nähe des Dorfs eine seit Langem stillgelegte Bleimine befindet. Sie maßen die Radonkonzentration in den Haushalten – Radon ist ein radioaktives Gas, das mancherorts vermehrt aus dem Boden und aus Gestein austritt. Hier und da tauchten Hinweise auf mögliche Zusammenhänge auf, aber die Wissenschaftler entdeckten keinen einzigen offensichtlichen Risikofaktor, den alle Patienten gemeinsam hatten.

2017 fassten Lagrange und fünf Kollegen ihre bis dahin gesammelten Ergebnisse zusammen. Sie betonten, dass es nach acht Jahren der Untersuchung immer noch keine zufrieden stellende Antwort darauf gab, wie die Häufung von Fällen zu Stande kam. In der Zwischenzeit veröffentlichten Beamte der französischen Gesundheitsbehörde ihre eigene Analyse. Darin erklärten sie, dass sie keine Beweise für einen gemeinsamen Risikofaktor gefunden hätten und dass die Häufung von ALS »wahrscheinlich mit einer zufälligen Verteilung der Fälle zusammenhängt«.

»Wir waren in einer Sackgasse. Wir hatten keine Ideen mehr«Emmeline Lagrange, Neurologin

Rückblickend sagt Lagrange in einem Interview: »Wir waren in einer Sackgasse. Wir hatten keine Ideen mehr.« Doch die Zusammenfassung ihres Teams enthielt eine Phrase, die sich als ausschlaggebend erweisen sollte: Sechs der Patienten, so hieß es darin, »aßen früher einheimische Pilze«.

Eine Insel giftiger Samen

Der Gedanke, dass etwas in der Nahrung ALS verursachen könnte, kommt nicht von ungefähr. Er entstand bereits gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf der mikronesischen Insel Guam. US-amerikanische Mediziner dokumentierten damals einen Ausbruch neurologischer Erkrankungen unter den dort ansässigen Chamorro. Inzwischen ist die Epidemie weitgehend abgeflaut. Auf ihrem Höhepunkt war sie jedoch so schwerwiegend, dass die National Institutes of Health eine Forschungsstation auf dem Eiland eröffneten. Die Rate von ALS-ähnlichen Beschwerden in der Bevölkerung betrug zu dem Zeitpunkt mehr als das 100-Fache der Norm. Die Fälle waren zudem äußerst komplex und beinhalteten Anzeichen einer zweiten neurologischen Störung, der Parkinson-Demenz. Die neue Krankheit bekam den Namen westpazifisches ALS-PDC.

Eine Reihe von Forschenden schlug ganz unterschiedliche Erklärungen für den Ausbruch von ALS-PDC vor – von Aluminium im Boden über Viren und genetischen Faktoren bis hin zu abnormen fehlgefalteten Proteinen, so genannten Prionen. Die vielleicht am weitesten verbreitete Theorie dreht sich jedoch um die Palmfarne, die einst in großer Zahl wild auf der Insel wuchsen. In der Vergangenheit verzehrten die Chamorro deren pflaumengroßen, stärkehaltigen Samen oder mischten sie in ihre Medizin. Da die Samen giftig sind, zerkleinerten sie sie und weichten sie anschließend unter mehrmaligem Wasserwechseln ein, bevor sie daraus Mehl mahlten oder eine Paste herstellten. Diese traditionelle Zubereitung entfernte aber nicht unbedingt alle Giftstoffe. Und genau darin lag die Gefahr.

Der Verdacht, dass der Kontakt mit den Samengiften zu ALS-PDC führen könnte, wurde als Palmfarn-Hypothese bekannt. Vertreten wird sie etwa durch den Umweltneurowissenschaftler Peter Spencer von der Oregon Health & Science University in Portland. Rund vier Jahrzehnte lang beschäftigt sich sein Team bereits mit dem Zusammenhang, und zwar sowohl in Studien vor Ort als auch durch Experimente im Labor. Heute gehen die Fachleute davon aus, dass ALS-PDC in einem ähnlichen Prozess entsteht wie Krebs, der sich infolge von Kontakt mit bestimmten Chemikalien entwickelt. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: In letzterem Fall verändert sich die DNA einer sich teilenden Zelle, woraufhin diese sich unkontrolliert vermehrt und einen Tumor bildet. Das Gift aus dem Palmfarn wirkt hingegen auf das Erbgut von Nervenzellen ein, die sich nicht teilen, und tötet sie ab.

Tückische Samen | Die Samen von Palmfarnen enthalten ein Gift, das bei traditioneller Verarbeitung großteils – jedoch nicht gänzlich – aus ihrem Fleisch gewaschen wird. Die Chemikalie steht im Verdacht, ALS auszulösen.

Spencer und Kollegen konzentrieren sich insbesondere auf einen Inhaltsstoff in Palmfarnsamen, das Cycasin. Im Körper wandelt ein Enzym es in Methylazoxymethanol (MAM) um. Die hochreaktive Substanz entsteht auch beim Abbau von Hydrazin – einer flüchtigen Chemikalie, die unter anderem in Raketentreibstoffen verwendet wird. Versuche zeigen, dass MAM das Erbgut verändert, indem es Methylgruppen an den DNA-Bestandteil Guanin anhängt. Körperzellen verfügen aber über ein Molekül, das solche Schäden rückgängig machen kann. »Im erwachsenen menschlichen Gehirn kommen oft nur sehr geringe Mengen dieses wichtigen DNA-Reparaturenzyms vor«, schrieb Spencer 2019 in einem Fachartikel, in dem er seine Überlegungen zu ALS-PDC darlegte. »Die DNA-Schäden sammeln sich an und aktivieren Zellsignalwege, die mit Neurodegeneration in Verbindung stehen.«

Wer sich mit einer Häufung von ALS-Fällen beschäftigt, die in einem bestimmten Zeitraum in einem kleinen Gebiet auftreten, wird zwangsläufig an Guam denken. Lagrange war deshalb gespannt, als ihr Forschungspartner, der Neurologe William Camu, die Gelegenheit hatte, sich persönlich mit Peter Spencer auszutauschen. Die beiden trafen sich 2017 auf einer Konferenz in Straßburg.

Spencer hatte die von Lagrange und Camu vorbereitete Zusammenfassung gelesen, die Letzterer auf der Tagung präsentierte. »Ich bemerkte, dass Pilze unter den Lebensmitteln waren, über die sie berichteten«, erinnert er sich. »Ich fragte sie, um welche Art es sich handelte, denn eine bestimmte Sorte enthält Gifte, die mit dem Guam-Problem in Verbindung gebracht werden.«

»Sie sind alle Teil einer Gruppe, und sie essen die Pilze – und sie wussten, dass es verboten ist«Bewohner von Montchavin

Lagrange begann daraufhin, mit Spencer und seiner Ehefrau und Kollegin Valerie Palmer, die ebenfalls an der Oregon Health & Science University tätig war, zusammenzuarbeiten. Sie nahm die Untersuchung in den Alpen wieder auf, traf Patienten und deren Angehörige und befragte sie. Dabei stellte sie fest, dass alle Betroffenen Giftlorcheln gegessen hatten. Jene Pilze sprießen im Frühjahr in den Wäldern Europas, Nordamerikas und Asiens. Sie sind so giftig, dass sie in Frankreich nicht verkauft werden dürfen.

Lagranges Team fand heraus, dass die Betroffenen die Giftlorcheln absichtlich zu sich genommen hatten – wegen ihrer angeblich verjüngenden Eigenschaften und ihres Geschmacks. Tatsächlich kannten sich die Patienten als Feinschmecker untereinander und tauschten aktiv Informationen darüber aus, wo sie Exemplare finden konnten. »Sie sind alle Teil einer Gruppe, und sie essen die Pilze«, erklärte ein Dorfbewohner gegenüber Lagrange. »Und sie wussten, dass es verboten ist.« Bezeichnenderweise hatte die Hälfte der französischen ALS-Patienten auch akute Beschwerden entwickelt, nachdem sie entsprechende Pilze gegessen hatten.

Um zu belegen, dass der Verzehr der Giftlorcheln und die Entwicklung von ALS in dieser Gruppe mehr als nur Zufall war, erweiterten die Fachleute ihre Untersuchung um eine Kontrollgruppe. Sie bezogen 48 weitere Personen aus derselben Gegend in ihre Studie mit ein, die ungefähr das gleiche Alter wie die Patientinnen und Patienten hatten. Die Kontrollpersonen aßen ebenfalls Wildpilze – jedoch keine Giftlorcheln. Es gibt mehrere Arten dieser Pilze, aber die bekannteste und giftigste ist die Frühjahrs-Giftlorchel (Gyromitra esculenta). Sie ist eine derjenigen, welche die Betroffenen in Montchavin sammelten und verzehrten. »Da keine andere signifikante chemische oder physikalische Exposition gefunden wurde«, schrieb die Arbeitsgruppe um Lagrange 2021, »scheint der primäre Risikofaktor für ALS in dieser Gemeinschaft der wiederholte Konsum dieser neurotoxischen Pilze zu sein. .... Das ist in der Tat das Unterscheidungsmerkmal zwischen den Betroffenen und der Kontrollgruppe.«

»Könnte es da einen Zusammenhang geben? Sicher. Aber man muss mehr bieten als diese Art von loser Assoziationsstudie, um das zu beweisen«Jeffrey D. Rothstein, Neurowissenschaftler

Noch sind nicht alle Fachleute überzeugt. Jeffrey D. Rothstein, Neurologe und Neurowissenschaftler an der Johns Hopkins University School of Medicine hat sich auf ALS spezialisiert. Er ist skeptisch, ob die Fälle in den französischen Alpen eine gemeinsame Ursache haben. Die Häufung könnte sich auch einfach so ergeben haben. »Es gibt immer Zufälle, die passieren können«, sagt er und weist darauf hin, dass es in der Vergangenheit bereits mehrere derartige ALS-Cluster gab, die sich später als zufällig herausstellten. Er unterstütze zwar die Palmfarn-Hypothese. Dennoch habe er wenig Vertrauen in die meisten anderen Theorien, denen zufolge Stoffe in der Nahrung oder Umwelt die neurologische Erkrankung auslösen. Er vermutet, dass selbst sporadische ALS letztlich weitgehend auf die Genetik zurückgehe. Dennoch ist er der vorgeschlagenen Erklärung für den Ausbruch in Frankreich gegenüber nicht völlig abgeneigt. »Könnte es da einen Zusammenhang geben? Sicher. Aber man muss mehr bieten als diese Art von loser Assoziationsstudie, um das zu beweisen.«

Andere schreiben der Untersuchung mehr Tragweite zu. Evelyn Talbott, Umweltepidemiologin an der University of Pittsburgh und Mitverfasserin des Kapitels über ALS-Epidemiologie im 2016 erschienenen Handbook of Clinical Neurology, hält die Studie für solide. Beeindruckt hätte sie vor allem das Beispiel der Ehepartner, die Giftlorcheln gegessen hatten und an ALS erkrankt waren. Derartige eheliche ALS-Fälle sind außergewöhnlich selten. Das Studienfazit sieht sie als Warnzeichen und sie fragt sich, warum die Weltgesundheitsorganisation noch keine Stellungnahme veröffentlicht hat, die von dem Verzehr von Giftlorcheln abrät. Carmel Armon, Neurologe an der Loma Linda University in Kalifornien und Experte für ALS-Epidemiologie, hält den französischen Cluster für gut erforscht und glaubwürdig. Der vorgeschlagene pathogene Prozess, der dem zu Grunde liegen könnte, »ergibt für mich absolut Sinn«, sagt er.

Letzteren legten Lagrange, Spencer und ihre Mitarbeitenden in mehreren Veröffentlichungen dar. Der Pilz Gyromitra esculenta ist bereits seit Langem dafür bekannt, Krankheitssymptome auszulösen und sogar den Tod herbeizuführen. Sein Name weist auf die unter Anbetracht dieser Tatsache seltsame Vorliebe der Menschen für ihren Konsum hin, denn esculenta bedeutet essbar. Traditionell kochten Pilzsammler die Delikatesse vor dem Verzehr ab oder trockneten sie, um möglichst viele ihrer Giftstoffe zu entfernen. 1968 wurde das Haupttoxin der Frühjahrslorcheln isoliert und Gyromitrin genannt. Umfangreiche Untersuchungen ergaben, dass die Chemikalie sowohl Krebs fördernd als auch akut giftig ist. Im menschlichen Körper wandeln Enzyme sie in Monomethylhydrazin (MMH) um, welches die Blut-Hirn-Schranke überwinden und die DNA schädigen kann.

»Die Mechanismen bei Krebs sind denen bei neurodegenerativen Erkrankungen wahrscheinlich ziemlich ähnlich«Peter Spencer, Umweltneurowissenschaftler

Für Spencer sind die Parallelen zwischen dem ALS-Cluster in Guam und dem rund um Montchavin unübersehbar, denn beide folgen demselben Muster: Eine Person nimmt ein giftiges natürliches Lebensmittel zu sich, das ein Toxin aus einem Hydrazin oder einem Hydrazin-Metaboliten enthält und die DNA chemisch verändert. In der Folge entsteht eine neurologische Störung. In mehreren Arbeiten argumentiert er, dass die Erkenntnisse aus Guam die französischen Ergebnisse unterstützen. Außerdem würden beide Cluster die Bedeutsamkeit von Erbgutschädigungen (die bekanntermaßen zur Krebsentstehung beitragen) in dem Prozess verdeutlichen. Bei dieser so genannten Genotoxizität schädigen Chemikalien die DNA auf spezifische Weise und verursachen darüber Monate, Jahre oder Jahrzehnte später Krankheiten. »Die Mechanismen bei Krebs sind denen bei neurodegenerativen Erkrankungen wahrscheinlich ziemlich ähnlich«, erklärt Spencer.

Für Lagranges Team ist eindeutig, dass der Verzehr von G. esculenta ein derartiges Risiko mit sich bringt. »Es wäre ratsam, die Öffentlichkeit weltweit über den Zusammenhang mit ALS zu informieren«, schrieben die Fachleute in ihrer 2021 veröffentlichten Arbeit, »und zu empfehlen, dass Giftlorcheln (Gyromitres) nicht nur eine kurz-, sondern möglicherweise auch eine langfristige Gefahr für Gesundheit und Leben darstellen und daher nicht verzehrt werden sollten.«

Lecker, aber riskant

Während der Verkauf der Giftlorcheln in Frankreich verboten ist, ist er in Finnland erlaubt – und die Finnen genießen die Pilze. Auf den Märkten werden im Frühjahr frisch gesammelte Exemplare verkauft. Gyromitra esculenta wurde 1974 sogar auf einer Briefmarke abgebildet. Die finnische Lebensmittelbehörde befürwortet den Konsum und weist Pilzköche und -köchinnen an, frische oder getrocknete Giftlorcheln vor dem Verzehr mehrmals zu kochen und zu waschen.

»Sie sehen aus wie etwas aus einem Alien-Film, aber sie sind köstlich«, sagte Kim Mikkola, damals Chefkoch eines Sternerestaurants in Helsinki, in einem Video aus dem Jahr 2020, das ihn beim Sammeln und Zubereiten von Giftlorcheln zeigt. Er erklärt darin, dass die Pilze Neurotoxine enthalten und demonstriert den Entgiftungsprozess. »Wenn man sie richtig behandelt, sind sie sehr gut – säuerlich und ein bisschen nussig. Sie haben diesen feinen Waldpilzgeschmack ... eine sehr elegante Delikatesse.«

»Sie sehen aus wie etwas aus einem Alien-Film, aber sie sind köstlich«Kim Mikkola, Sternekoch

In Nordamerika sind Giftlorcheln ebenfalls beliebt, zumindest bei einem Teil der Pilzsammler. Doch ein Arzt warnte bereits 2020 in der amerikanischen Zeitschrift »Fungi« davor, dass Menschen, die die Pilze konsumieren, lediglich russisches Roulette spielen würden.

Die Gefahr besteht auch für jene, die Giftlorcheln versehentlich verspeisen, weil sie sie mit echten Morcheln (Morchella) verwechseln – obwohl diese ihrem giftigeren Cousin nur oberflächlich ähneln. In Michigan ist das Risiko ausführlich dokumentiert. Hier ist die Waldpilzsuche so beliebt, dass in Boyne City jährlich ein Morchelfestival stattfindet.

Verwechslungsgefahr! | Unerfahrene Pilzsammler verwechseln gelegentlich Vertreter der Gattung der essbaren Morcheln, wie die hier gezeigte Spitzmorchel, mit jenen der gefährlichen Giftlorcheln, wie der hier dargestellten Frühjahrs-Giftlorchel (wenig hilfreich auch »Speiselorchel« genannt).

In einer im Juni 2024 veröffentlichten Studie listen Forscher um Varun Vohra von der Wayne State University 118 Fälle von Vergiftungen mit Giftlorcheln auf, die dem Michigan Poison & Drug Information Center zwischen 2002 und 2020 gemeldet worden waren. Vohra ist klinischer Pharmakologe und leitender Direktor des Zentrums. In 90 Prozent der Fälle ließ sich der Verursacher als Gyromitra esculenta identifizieren. Gastrointestinale Beschwerden – Erbrechen, Durchfall, Magenschmerzen – waren die häufigsten Folgen. Bei mehr als einem Dutzend Menschen traten Leberschäden auf. Einer erlitt eine Nierenschädigung, andere berichteten über neurologische Symptome wie Kopfschmerzen und Schwindelgefühl.

Die Gruppe in Michigan kannte den französischen ALS-Cluster natürlich. Eines ihrer Mitglieder, der an der Universität Michigan ausgebildete Mykologe Alden Dirks, hatte sogar zur Studie in Frankreich beigetragen. Dirks erforscht eingehend gyromitrinhaltige Pilze. Er war der Wissenschaftler, der endgültig bestimmte, welche Pilze die Patienten in Montchavin verzehrt hatten.

Es ist eine große Herausforderung, einen Zusammenhang zwischen Umweltfaktoren und neurodegenerativen Erkrankungen nachzuweisen

Das US-amerikanische Team schrieb in ihrem Bericht, immer mehr Veröffentlichungen gäben Anlass zur Besorgnis über die chronische Toxizität der Giftlorcheln. Es gäbe einen möglichen Zusammenhang sowohl mit dem Giftstoff Gyromitrin als auch mit neurodegenerativen Erkrankungen. Zukünftige Forschungen seien erforderlich, um genaue Ursache-Wirkungs-Beziehungen nachzuweisen. Wichtig sei dies »insbesondere in Anbetracht der hohen Prävalenz von ALS im Mittleren Westen der USA und der regionalen Beliebtheit des (Morchel-)Konsums«. In ihrer Analyse zu ALS in der Bevölkerung stuften die CDC (Centers for Disease Control and Prevention) Michigan an sechster Stelle im Ranking der Bundesstaaten ein. Hier betrug die altersbereinigte Häufigkeit 5,3 Fälle pro 100 000 Einwohner, der US-Durchschnitt lag bei 4,4.

Es ist eine große Herausforderung, einen Zusammenhang zwischen Umweltfaktoren und neurodegenerativen Erkrankungen nachzuweisen. Spencer und andere Forscherinnen und Forscher sind sich der Schwierigkeit bewusst, insbesondere angesichts der vielen Jahre, die von der Exposition bis zum Symptombeginn vergehen. Erst nach dem Krankheitsausbruch hergestellte Verbindungen sind für viele nicht überzeugend genug. Lagrange räumt ein, dass sie mit ihrem Hintergrund in klinischer Neurologie nicht in der Lage ist, die Art von Untersuchungen durchzuführen, die für eine stringentere Argumentation nötig wären. Dazu braucht es vor allem Experimente in Zellkulturen und Versuchstieren sowie genetische Studien. Ihr Kollege Camu hat jedoch begonnen, die Ideen des Teams an Labormäusen zu testen.

Im Moment, so sagt sie in einem Zoom-Interview, »glaube ich, dass ich meine Arbeit getan habe. Ich bin nur eine lokale Ärztin, die sich Sorgen um mögliche neue Fälle im Dorf macht«. Und bislang hat es keine neuen Betroffenen mehr gegeben, erzählt sie. »Hoffentlich gibt es auch keine weiteren.«

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  • Quellen
Lagrange, E. et al.: An amyotrophic lateral sclerosis hot spot in the French Alps associated with genotoxic fungi. Journal of the Neurological Sciences 427, 2021 Spencer, P. S.: Hypothesis: Etiologic and molecular mechanistic leads for sporadic neurodegenerative diseases based on experience with western pacific ALS/PDC. Frontiers in Neurology, 2019 Vohra, V. et al.: A 19-year longitudinal assessment of gyromitrin-containing (Gyromitra spp.) mushroom poisonings in Michigan. Toxicon 247, 2024

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