Direkt zum Inhalt

Psyche und Neurobiologie: Wie sich Angststörungen im Gehirn zeigen

Die Angststörung ist eine besonders vielschichtige Erkrankung. Betroffene unterscheiden sich untereinander stark darin, wie ihr Gehirn auf Bedrohung reagiert, und den zugehörigen neuronalen Strukturen. Therapien sollten daher besser als bisher auf die jeweilige Person zugeschnitten sein.
Eine Person schaut nachdenklich aus einem Fenster. Ihr Gesicht spiegelt sich im Glas wider, während sie in die Ferne blickt. Die Szene vermittelt ein Gefühl von Ruhe und Reflexion. Im Hintergrund sind verschwommene Details eines Innenraums zu erkennen.
Heute weiß man: Angststörungen sind keine bloße Überempfindlichkeit, sondern Ausdruck konkreter Veränderungen im Gehirn. Allerdings spielt das in der Klinik noch immer eine untergeordnete Rolle.

Jana* starrt auf die Tasse in ihrer Hand. Ihr Herz pocht, ihr Atem rast, ihre Hände zittern. Sie fühlt sich, als hätte sie gerade eine Vollbremsung auf der Autobahn hingelegt. Die Gedanken kreisen: Habe ich etwas vergessen? Was, wenn heute etwas Schlimmes passiert?Jana kämpft sich durch den Tag, ständig auf der Hut. Selbst wenn alles glattläuft, verschwindet die Anspannung nicht – denn sie hat keinen konkreten Auslöser. Was bleibt, ist die Angst vor einer diffusen Bedrohung, die vielleicht niemals eintrifft.

Für mehr als 300 Millionen Menschen gehören solche Gedanken zum Alltag, denn sie leiden unter der weltweit häufigsten psychischen Erkrankung: der Angststörung. Zu ihr zählen gemäß Klassifikation nach dem ICD-11 und DSM-5 unter anderem die generalisierte Angststörung, spezifische Phobien, die soziale Phobie und die Panikstörung. Betroffene haben ein Potpourri an Symptomen – vom Gefühl der Hilflosigkeit, über Konzentrationsschwäche, Herzklopfen, Zittern, bis hin zu Schlafstörungen und Magenbeschwerden.

Angst fühlt sich schlecht an, aber an sich ist die Emotion nicht schädlich. Sie alarmiert und schützt vor aktuellen Gefahren (dem Säbelzahntiger in der dunklen Höhle) ebenso wie vor künftigen (dem Hunger im Winter). Bei Menschen mit einer Angststörung ist der Alarm jedoch oft fehlgeleitet, tatsächliche Bedrohungen werden nicht von falsch eingeschätzten unterschieden. Es ist durchaus normal, vor einer wichtigen Prüfung oder einem Zahnarztbesuch nervös zu sein. Wenn die Sorgen aber andauern und den Tagesablauf stören, kann eine Angststörung vorliegen.

Gleiche Diagnose, unterschiedliche Hirnveränderungen

Was die Patientinnen und Patienten spüren, ist real und belastend. Lange war dabei unbekannt, was im Gehirn eigentlich genau passiert. Mittlerweile weiß man: Angststörungen sind keine bloße Überempfindlichkeit, sondern Ausdruck konkreter Veränderungen im zentralen Nervensystem. Allerdings spielt das in der Klinik noch immer eine untergeordnete Rolle. So beruht die Diagnose der verschiedenen Formen der Angststörung zwar jeweils auf ähnlichen Symptomen, nicht aber auf ähnlichen Hirnveränderungen.

»Nicht alle Betroffenen sprechen auf die gleichen Medikamente an. Bei manchen bessern sich die Symptome, bei anderen nicht«, berichtet Teddy Akiki, Clinical Assistant Professor am Department of Psychiatry in Stanford. »Zum Beispiel haben Menschen mit generalisierter Angststörung unterschiedliche neuronale Auffälligkeiten – trotz gleicher Diagnose.« Das macht die Angststörung zu einer besonders vielschichtigen Erkrankung und zu einer, bei der eine personalisierte Behandlung entscheidend helfen könnte. Patienten würden dann im Idealfall, basierend auf ihrem neurologischen Profil, die richtige Therapie zur richtigen Zeit erhalten. Noch scheitert es daran, die Hirnveränderungen im klinischen Alltag aufzuspüren. »Sie zeigen sich nicht in herkömmlichen Röntgenbildern, wir sehen bei der Angststörung keine Läsionen im Gehirn«, erklärt James Murrough, Professor für Psychiatrie und Neurowissenschaften an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York.

Personalisierte Medizin bei Angststörungen | Die Präzisionspsychiatrie treibt einen Wandel von traditionellen zu neurowissenschaftlich basierten Ansätzen voran. In der Grafik werden zwei gegensätzliche Ansätze für Patienten mit Angststörungen veranschaulicht. One-Size-Fits-It-All: Ein Kliniker stellt Diagnosen auf Basis individueller Symptome. Die Behandlung wird dann auf Grundlage des klinischen Urteils und der durchschnittlichen Wirksamkeit der Therapie festgelegt. Neurowissenschaftlicher Ansatz: Durch umfassende Bildgebung des Gehirns werden die Patienten in Biotypen mit ähnlichen Mustern neuronaler Funktionsstörungen eingeteilt. Die Auswahl der Therapie erfolgt dann anhand der Zuordnung zum Biotyp, um gezielt auf bestimmte neuronale Gegebenheiten einzuwirken.

Um die Neurobiologie hinter der Störung zu verstehen, setzen Forscherinnen und Forscher moderne Bildgebung ein. Techniken wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) machen sichtbar, welche Bereiche unseres Denkorgans normalerweise während einer bestimmten Aufgabe aktiv sind – und wie das bei Personen mit Angststörungen abweicht.

Bei Angststörungen reagiert das Gehirn übermäßig auf Bedrohungen

Schon länger ist klar, dass die Amygdala eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Angststörungen spielt. Die auch als Mandelkern bezeichnete Struktur ist Teil des limbischen Systems und hilft bei der Verarbeitung von Gefühlen. Und wir brauchen sie, wenn eine rasche Antwort auf Gefahr gefragt ist: Steht ein Eisbär vor unserem Zelt, so wird diese sensorische Information an die Amygdala übermittelt, die ihrerseits den Hypothalamus stimuliert, von wo aus die Stressachse (Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinde) und das sympathische Nervensystem aktiviert werden. Unser Körper wird dadurch auf erhöhte Reaktionsbereitschaft gestimmt, das Gehirn priorisiert schnelles Handeln über detailliertes Analysieren. Wir fliehen, statt das Verhalten des Eisbären zu studieren.

»Der Angstschaltkreis spielt eine prominente Rolle bei Angststörungen, und die Amygdala ist in diesem Kontext die am meisten untersuchte Gehirnstruktur«, erklärt Murrough. Bereits in den frühen 1990er Jahren zeigten Studien, dass Mäuse den Mandelkern benötigen, um Furcht zu erlernen. »Die Amygdala von Menschen mit Depressionen und Angststörungen reagiert übersteigert auf negative Stimuli, wie wir kürzlich wieder zeigen konnten. Je höher die Patienten ihre Furcht einschätzten, desto stärker war auch das Signal im Mandelkern«, berichtet der Psychiater. Die Überreaktion trägt vermutlich dazu bei, dass sich die Angst leichter auf ähnliche, aber harmlose Reize überträgt – die sogenannte Angstgeneralisation – oder es Betroffenen schwerer fällt, sie wieder abzubauen.

Bei der generalisierten Angst weitet sich die Furcht auf Reize aus, die dem ursprünglichen Auslöser ähneln, aber eigentlich keine Bedrohung sind. Hat etwa eine Person in der frühen Kindheit eine unangenehme Begegnung mit einem großen Hund gehabt, so meidet sie vielleicht noch Jahrzehnte später selbst kleinste Hunde. Und unter das sogenannte Extinktionsdefizit fällt, dass man zwar rational gelernt hat, dass angeleinte Hunde ungefährlich sind, das Herzrasen bei einer Hundebegegnung aber nicht dauerhaft abschalten kann.

Die Rolle der Amygdala

Anders, als landläufig angenommen, ist die Amygdala jedoch nicht das »Angstzentrum« unseres Gehirns. Sie erzeugt nicht das Gefühl der Furcht (hierfür sind Bereiche hinter der Stirn zuständig), sondern lediglich die physiologische Antwort darauf. So lässt sich mittels Bildgebung zeigen, dass die Aktivität des Mandelkerns stärker mit den körperlichen, automatischen Reaktionen auf Bedrohung in Zusammenhang steht als mit dem subjektiven Furchtempfinden. Welche Rolle sie genau bei der gefühlten Emotion spielt, gilt es noch zu klären – sie scheint hier eher eines von mehreren beteiligten Rädchen zu sein.

»Die Amygdala ist bei den meisten Betroffenen verändert. Aber: Sie ist nicht die einzige involvierte Struktur«, betont auch Teddy Akiki. »Patienten können eine Angststörung haben, ohne dass ihr Mandelkern verändert ist. Er ist also wichtig für die Entstehung der Erkrankung, allerdings nicht zwangsläufig notwendig.«

Das Gehirn nutzt nämlich auch andere Schaltkreise, um auf potenzielle Gefahren zu reagieren. Wenn wir beispielsweise mit unklaren Bedrohungen konfrontiert sind – uns also in einer Situation befinden, die weder eindeutig gefährlich noch ungefährlich ist – , so wird ein Regelkreis aktiv, der die Inselrinde und den Nucleus striae terminalis umfasst. Letzterer verbindet die Amygdala mit dem Hypothalamus. Bei Angststörungen sind diese Regionen überaktiv, weshalb Betroffene mit Unsicherheiten schlecht umgehen können: Sie interpretieren mehrdeutige Situationen eher negativ und überschätzen mögliche schädliche Konsequenzen.

»Die Amygdala ist bei den meisten Betroffenen verändert. Aber: Sie ist nicht die einzige involvierte Struktur«Teddy Akiki, Psychiater

Ein drittes Netzwerk hilft uns, auf anhaltende Gefahren zu reagieren. Hierzu gehören unter anderem zwei Regionen der Großhirnrinde: der mediale präfrontale und der dorsale anteriore zinguläre Kortex. Dauert eine bedrohliche Lage über mehrere Wochen oder sogar Monate an, hält uns das System wachsam – ohne dass unsere Stressreaktion überschießt. Bei Angsterkrankungen ist dieses Gleichgewicht gestört, die Gedanken kreisen unaufhörlich, die Alarmbereitschaft bleibt hoch. In der Folge fällt es den Patienten schwer, ihre Aufmerksamkeit bewusst zu steuern. Emotionale Informationen werden verzerrt verarbeitet: Positive Reize erhalten weniger Aufmerksamkeit, negative Reize stechen dafür hervor.

Die bereits erwähnte Inselrinde ist ebenfalls wichtig, um relevante Reize zu erkennen und unsere Aufmerksamkeit gezielt darauf zu lenken. Sie hilft, innere Körperzustände wie Herzschlag, Schmerz und Hunger zu verarbeiten. Eine Studie unter der Leitung der University of Ottawa in Kanada zeigte, dass Personen mit generalisierter Angststörung solche körperlichen Zeichen stärker wahrnehmen als neurotypische Menschen und die Schwere ihrer Symptome mit der Aktivität der Inselrinde korreliert. Sie interpretieren Körpersignale also mitunter als gefährlich, auch wenn sich diese im normalen Bereich befinden. So werden etwa normale Schwankungen des Herzschlags als Anzeichen eines Herzproblems fehlinterpretiert.

Wenn sich das Überwinden nicht lohnt

Doch nicht nur die Wahrnehmung potenzieller Gefahren ist bei Angststörungen verändert. Auch die Verarbeitung angenehmer Reize kann verzerrt sein. »Das Gehirn von Menschen mit Angststörungen reagiert oft nicht adäquat auf Positives«, erläutert Akiki. »Das macht es für sie schwerer, Freude zu empfinden, aus schönen Erfahrungen zu lernen und auf Belohnendes zu reagieren.« Die sogenannte Anhedonie, also das Unvermögen, Freude und angenehme Gefühle zu spüren, ist ein bekanntes Begleitsymptom, besonders von sozialen Ängsten.

Zentrale Strukturen des Belohnungssystems sind das ventrale Striatum im Vorderhirn sowie Teile des medialen präfrontalen Kortex. Laut Studien finden sich hier insbesondere bei sozialer und generalisierter Angststörung Veränderungen. Gerade das ventrale Striatum reagiert dann weniger auf sozial belohnende Reize, wie etwa ein Team des Virginia Polytechnic Institutes 2017 herausfand. Diese Dysfunktion kann zu Vermeidungsverhalten führen, erklärt Teddy Akiki. »Wenn sich etwas nicht lohnend anfühlt, warum sollte man es versuchen?« Dazu kommt, dass Personen mit Angststörungen verstärkt aus negativen Erfahrungen lernen. »Es ist für uns viel leichter, positive Erfahrungen zu vergessen als negative – evolutionär gesehen macht das sogar Sinn.« 

Damit facht das Belohnungssystem eine negative Spirale an: »Die hyperaktive Amygdala und das übersteuerte Angstsystem bewirken, dass man nicht zur Party gehen, sondern daheimbleiben möchte. Wenn man es dann doch zur Party schafft, fühlt sich das trotzdem nicht wie eine Belohnung an, und so verstärkt sich der negative Kreislauf«, erklärt Akiki.

Verminderte kognitive Kontrolle

Auch die kognitiven Systeme sind bei Angststörungen verändert. Die Hirnrinde ordnet unsere Emotionen und Eindrücke ein, betont James Murrough: »Der evolutionär gesehen jüngere präfrontale Kortex reguliert die schnellen, instinktiven, emotionalen Antworten, die durch Furcht ausgelöst werden. Diese Netzwerke geraten bei den Patienten aus der Balance.«

Die meisten Studien konzentrieren sich auf Probandinnen und Probanden mit generalisierter Angststörung. Sie ist gekennzeichnet durch ein andauerndes Gefühl des »sich Sorgens«. Fachleute schauen sich etwa an, wie die Patienten mit Aufgaben umgehen, die ihre Aufmerksamkeit und ihr Arbeitsgedächtnis fordern, während sie gleichzeitig mit emotionalen Reizen konfrontiert werden. In der Bildgebung zeigt sich eine veränderteFeuerrate im dorsolateralen präfrontalen Kortex, einer Schlüsselregion für kognitive Kontrolle. So fanden Fachleute der Washington University in St. Louis, Missouri, dass die Aktivität dort bei Betroffenen zwar kurzfristig erhöht, aber langfristig verringert ist. Auch scheint ihr Arbeitsgedächtnis beeinträchtigt zu sein.

Anfangs drehe der Schaltkreis für kognitive Kontrolle auf, um trotz der störenden Gefühlswelt kognitive Prozesse zu managen, erläutert Akiki. »Wenn Menschen eine Angststörung entwickeln, so fokussieren sie zu Beginn stark, um organisiert zu bleiben und ihre Aufgaben zu erledigen – sie schaffen es also, zu kompensieren«, sagt der Forscher. »Aber über längere Zeit hinweg sind diese Regionen weniger aktiv, allmählich erodiert das System.«

Während kognitiver Aufgaben gelingt es den Patienten dann oft nicht, das sogenannte Default Mode Network ausreichend zu unterdrücken. Es ist normalerweise in Ruhe aktiv, wenn wir unseren Gedanken und Tagträumen nachhängen. Läuft es dagegen auch sonst auf Hochtouren, kollidiert es mit wichtigen Aufgaben, die Konzentration erfordern. Betroffene von Angststörungen haben also möglicherweise Probleme damit, ihre Aufmerksamkeit von sorgenbezogenen Grübeleien auf äußere Anforderungen zu lenken.

Fehlinterpretation von sozialen Signalen

Bei sozialer Angst sind unter anderem Hirnbereiche verändert, mit denen wir Gesichter wahrnehmen und erkennen. Dazu gehören etwa der prämotorische Kortex, der Sulcus temporalis superioroder das fusiforme Gesichtsareal.

Häufig haben die Betroffenen Schwierigkeiten, den Blickkontakt zu halten, Emotionen zu erkennen und auszudrücken. Auch interpretieren sie mitunter soziale Signale falsch, werten etwa neutrale Gesichtsausdrücke eher als negativ. Bei ihnen reagiert das fusiforme Gesichtsareal verstärkt, wenn sie ängstliche Gesichter betrachten, außerdem entschlüsseln sie den mentalen Zustand anderer weniger genau als neurotypische Personen.

»Früher wurden soziale Angststörungen auf eine Angst vor sozialen Situationen reduziert«, erklärt Akiki. »Aber stattdessen könnten sie darauf zurückzuführen sein, dass die Handlungen und Intentionen anderer nur schwierig zu interpretieren sind – was wiederum zu einer Unsicherheit in sozialen Situationen führt.«

Auch der Hirnstamm ist bei Angststörungen involviert

Da Angst ein grundlegendes, evolutionär bedeutendes Gefühl ist, trägt möglicherweise auch der Hirnstamm zur Pathologie bei. Davon ist jedenfalls James Murrough überzeugt. Besonders der blaue Kern, auch Locus coeruleus genannt, sei hier zentral. In dieser winzigen Struktur sitzen die meisten Noradrenalin produzierenden Neurone des Gehirns. Die Nervenzellen senden lange Ausläufer aus, die sowohl den Kortex als auch das limbische System inklusive Amygdala erreichen.

»Auch Angststörungen befinden sich auf einem Spektrum«
Teddy Akiki, Psychiater

»Der Locus coeruleus kontrolliert die kognitiven Aspekte unserer Kampf- oder Fluchtreaktion«, sagt Murrough. »Bei Menschen mit Panikstörung wird der blaue Kern durch Fehlalarme aktiviert und das System bleibt anhaltend aktiv.« Murrough und sein Team fanden heraus, dass bei Personen, die unabhängig von ihrer Diagnose unter andauernder Alarmbereitschaft stehen, der Locus coeruleus verstärkt mit anderen Gehirnregionen kommuniziert, darunter auch mit der Amygdala. »Strukturen wie der Locus coeruleus oder die Raphe-Kerne ‚stimmen‘ in gewisser Weise das System und sind verantwortlich für globale Phänomene im Gehirn, wie erhöhte Erregbarkeit, Schlaflosigkeit oder übersteigerte Schreckreaktion – alles Zeichen von Angststörungen.«

Interaktion zwischen Genetik, Umwelt und akuten Auslösern

»Angststörungen befinden sich auf einem Spektrum. Bei manchen Menschen ist das Gehirn so verdrahtet, dass sie eigentlich stark auf angstauslösende Reize reagieren – aber gleichzeitig haben sie ein System, mit dem sie das gut ausgleichen können«, erklärt Akiki. Diese Personen sollte man laut dem Psychiater nicht pathologisieren: Die Gene seien nur ein erster Startpunkt, zu dem die Umwelt hinzukomme und all das, was wir während unseres Lebens erfahren.

Ein wichtiger Faktor ist Deprivation, besonders emotionale Vernachlässigung, soziale Isolation und Entbehrungen. »Bei vielen psychiatrischen Erkrankungen, darunter auch Angststörungen, haben die Patienten in ihrer Entwicklung sehr wahrscheinlich unter Unsicherheit, Traumata oder anderen Formen von Deprivation gelitten«, sagt Murrough. »Sie reagieren vielleicht über oder sind dauerhaft äußerst aufmerksam – das Gehirn möchte sich in einer unsicheren Umgebung einfach am Leben erhalten.«

Stressfaktoren können die neuronalen Schaltkreise weiter beeinflussen. In Tierstudien mit Ratten zeigt sich, dass Stress neuroplastische Veränderungen verursachen kann: Nervenzellen in der Amygdala verästeln sich übermäßig, während in manchen Bereichen des Hippocampus die Verbindungen weniger werden. »Interessanterweise verstärkt Stress jene Verbindungen, die Angst auslösen, und schwächt kortikale Projektionen, die die Furcht in Schach halten«, erläutert Akiki. Akute Auslöser wirken zusätzlich auf das System ein. »Trigger überführen Personen aus einem normalen, hilfreichen Zustand von Angst in einen problematischen. Die Angst ist dann nicht mehr funktional.«

Langer Weg bis zu etablierten Behandlungen

Noch haben sich die Erkenntnisse aus der Neurobiologie nicht in neuartigen Therapien niedergeschlagen. Doch für Akiki ist es ein Startpunkt, um über die bisherigen Strategien nachzudenken. »Momentan ist es so, dass viele Patienten mit Angststörungen zunächst einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) erhalten. Funktioniert das nicht, so bekommen sie meistens einen anderen SSRI. Aber wir können jetzt spezifischer vorgehen – denn wir wissen, wie einzelne Medikamente in bestimmten Schaltkreisen wirken.« Wenn man beispielsweise wüsste, dass das Problem bei einer Person eher im Belohnungssystem liegt, könnte man einen Wirkstoff einsetzen, der genau dort angreift. So ließen sich auch Nebenwirkungen vermeiden. 

»Wenn das limbische System außer Balance gerät, wirken Medikamente vielleicht gut. Liegt es aber am Kortex, der die Angst nicht ausreichend in Schach hält, wäre kognitive Verhaltenstherapie die bessere Wahl«James Murrough, Psychiater

Nicht medikamentöse Behandlungen könnten ebenfalls besser auf die Veränderungen im Gehirn abgestimmt werden. »Wenn das limbische System aus dem Gleichgewicht gerät, wirken Medikamente vielleicht gut. Wenn es aber am Kortex liegt, der die Angst nicht ausreichend in Schach hält, wäre kognitive Verhaltenstherapie die bessere Wahl«, stimmt Murrough zu.

Die größte Hürde in der Klinik ist momentan die geeignete Bildgebung, um solche Abweichungen in der neuronalen Verdrahtung aufzuspüren. In Teddy Akikis Klinik, die auf Präzisionspsychologie spezialisiert ist, werden fMRT-Scans angeboten, um die betroffenen Schaltkreise zu identifizieren und die Information in die Behandlung einfließen zu lassen. »Hier handelt es sich hauptsächlich um Forschungsarbeit, aber in manchen Fällen konnten wir eine Erkenntnis auch schon therapeutisch nutzen.«

*Name von der Redaktion geändert

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.