Plötzlicher Kollaps: Antarktis-Gletscher binnen weniger Wochen zertrümmert

Selten ist ein Gletscher so schnell zerbröselt wie der Hektoria-Gletscher in der Westantarktis. Auf dem Höhepunkt des Kollapses stürzten jeden Tag etwa 800 Meter der Gletscherzunge Stück für Stück ins Meer, während der Rest des Gletschers täglich um bis zu 80 Meter dünner wurde. Insgesamt verschwanden zwischen Februar 2022 und März 2023 rund 84 Quadratkilometer ursprünglich auf Gestein aufliegendes, hunderte Meter dickes Eis. Ursache des bemerkenswerten Kollapses ist ein bislang nur schlecht erforschter Mechanismus, bei dem ganze Gletscherabschnitte plötzlich zu schwimmen beginnen, berichtet nun eine Arbeitsgruppe um Naomi Ochwat von der University of Colorado Boulder in den USA. In ihrer in der Fachzeitschrift »Nature Geoscience« erschienenen Untersuchung schreibt sie anhand von Satellitenbildern, dass die Form des Untergrunds für den Kollaps entscheidend gewesen sei.
Das verlorene Eis lag demnach auf einer flachen Ebene; als stützendes Meereis vor der Gletscherfront verloren ging, wurde der Gletscher sehr schnell dünner, sodass er schließlich durch den Auftrieb des Wassers in einem Stück zu schwimmen begann und dann sehr schnell zerbrach. Ähnliche Ebenen gibt es unter mehreren sehr großen Eisströmen in der Antarktis. Das wirft die Frage auf, ob vergleichbare Mechanismen auch bei sehr großen Eisschilden wie dem Thwaites-Gletscher auftreten können, dessen Kollaps den Meeresspiegel um rund 65 Zentimeter anheben würde.
Der Prozess begann bereits 2002, als das Larsen-B-Eisschelf vor der Westantarktis binnen weniger Wochen zerfiel. Allerdings stützte in der Zeit danach noch am umliegenden Land festliegendes Meereis die Gletscher, die dadurch stabil blieben. In der ersten Phase des Kollapses selbst zerfiel 2022 dieses Meereis und daraufhin auch die rund 300 Meter dicke schwimmende Zone der Gletscherzunge. Der auf dem Felsboden aufliegende Gletscher endete nun direkt am Meer. In der zweiten Phase des Kollapses blieb diese Gletscherfront zwar vorerst stabil, doch ohne die Stütze zerlief der Gletscher wie ein Teigklumpen und wurde nach und nach dünner.
Hätte der Gletscher auf einem zum Meer hin abfallenden Hang gelegen, wäre nicht mehr viel passiert. Doch das Eis lag auf einer flachen Ebene, die 25 Kilometer ins Landesinnere reicht. Als der Gletscher immer dünner wurde, wurde der Auftrieb des Meeres schließlich so stark, dass das hunderte Meter dicke Eis auf der gesamten, 84 Quadratkilometer großen Fläche nahezu gleichzeitig zu schwimmen begann. Über mehrere Monate brachen Eisblöcke von der Vorderseite ab und lösten insgesamt sechs Erdbeben aus, die weltweit nachweisbar waren. Der ganze Prozess zertrümmerte den Gletscher bis weit den Berghang hinauf, sodass er nun nicht mehr in einer hohen Eisklippe endet, sondern eine Art Rutschbahn bis hinunter zum Meer bildet. Da das Eis ursprünglich auf dem Felsboden auflag, erhöhte der Kollaps den Meeresspiegel – allerdings ist der Gletscher zu klein für einen messbaren Effekt.
Auf andere, für den Meeresspiegel relevantere Gletscher der Antarktis lässt sich der dramatische Kollaps des Hektoria-Gletschers allerdings nicht so einfach übertragen. Der Gletscher ist insgesamt relativ klein, und Besonderheiten des Gletschers selbst und vor allem die Form des Untergrundes spielten eine entscheidende Rolle dafür, dass er sich so schnell zurückzog. Andererseits jedoch liegt der Felsuntergrund vieler Gletscher in der Antarktis weit unter dem Meeresspiegel, sodass der Auftrieb des Wassers eine große Rolle für ihre Stabilität spielt. So liegt der potenziell instabile, auch als »Doomsday Glacier« bezeichnete Thwaites-Gletscher in einem teilweise über 1000 Meter tiefen Trog, der von der Gletscherkante zum Landesinneren hin abfällt. Bisher jedoch ist – trotz einiger apokalyptischer Szenarien – nur wenig darüber bekannt, wie solche Eisschilde im Klimawandel zerfallen. Entsprechend ist die Frage offen, wie wahrscheinlich ein Kollaps wie beim Hektoria-Gletscher bei diesen gigantischen Eisströmen ist – und damit auch, wie schnell der Meeresspiegel im Extremfall steigen kann.
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