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Anthropogene Evolution: Wie der Mensch in die Evolution eingreift

Evolution gilt als langwieriger Prozess, der sich in Zeiträumen von Jahrmillionen erstreckt. Doch inzwischen verändert der Mensch immer schneller die Lebensräume auf der Erde und greift damit direkt in die Entwicklung von Tierarten ein.
Vier Birkenspanner mit unterschiedlichen Flügelmustern ruhen auf einer rauen Birkenrinde. Zwei Falter haben helle, gesprenkelte Flügel, die sich gut in den Hintergrund einfügen, während die anderen beiden dunklere Flügel haben. Die Szene zeigt die natürliche Tarnung der Birkenspanner in ihrer Umgebung.
Vor der Industrialisierung war der Birkenspanner (Biston betularia) perfekt an die helle Rinde einer Birke angepasst und damit für Vögel kaum sichtbar. Als sich jedoch die Bäume vom Kohlenruß schwarz färbten, setzten sich zunehmend dunklere Varianten des Falters durch. Aufgrund von Umweltschutzmaßnahmen haben inzwischen wieder heller gefärbte Exemplare bessere Chancen.

Als Paradebeispiel für Charles Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Auslese gilt der Birkenspanner(Biston betularia). Mit seinen hellen Flügeln war der in Europa heimische Schmetterling auf der hellgrauen Birkenrinde, auf denen er tagsüber rastet, hervorragend getarnt und blieb für Fressfeinde praktisch unsichtbar. Doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Rauch der industriellen Revolution in den Wäldern um Manchester das Umfeld verändert. Nun besaßen dunkler gefärbte Varianten des Birkenspanners einen Vorteil, da sie auf den inzwischen vom Ruß verfärbten Bäumen besser getarnt waren als ihre Artgenossen mit helleren Flügeln. Wie Evolutionsbiologen in den 1950er- und 1960er-Jahren beobachteten, waren in industrialisierten Gebieten 80 Prozent der Falter dunkel gefärbt, und diese wiesen gegenüber den helleren eine zweifach höhere Überlebensrate auf. Dank molekulargenetischer Analysen wissen wir inzwischen, dass die dafür wohl verantwortliche Erbgutveränderung um 1819 auftrat. Verursacht wurde sie von »springenden Genen«. Solche Transposonengenannte DNA-Abschnitte können ihre Position im Genom verändern und dabei Mutationen hervorrufen.

Die Farbveränderung des Birkenspanners veranschaulicht ein Phänomen, das zunehmend in den wissenschaftlichen Fokus gerät: die anthropogene Evolution. Der Begriff bezeichnet evolutionäre Veränderungen, die der Mensch mit seinen Eingriffen in die Umwelt hervorruft. In den letzten Jahren haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zahlreiche weitere derartige Fälle beschrieben. Nur allmählich kristallisieren sich das volle Ausmaß und die Tragweite der anthropogenen Evolution heraus. Schon jetzt erscheint sicher, dass Homo sapiens weltweit die evolutionäre Entwicklung von etlichen Tierarten beeinflusst. Infolgedessen wandeln sich wichtige Aspekte deren Verhaltens: wo die Tiere leben und sich fortpflanzen, was sie fressen, welchen anderen Spezies sie schaden und welchen sie nützen. Dabei gestalten wir nicht nur die Umwelt der Organismen, sondern verändern auch die Arten selbst, da diese sich als Reaktion auf unsere Einflüsse anpassen.

In der Folge stören wir das Gleichgewicht zwischen den vorangegangenen Anpassungen der Tierarten und der Umgebung, in der sie heute existieren. Lebewesen, die gut gerüstet waren, um die Herausforderungen ihrer Umwelt zu meistern, sehen sich plötzlich einer Welt gegenüber, in der ihre bewährten Verhaltensweisen nicht mehr funktionieren. Bei einigen Arten stellt sich das Verhalten zwar aufgrund natürlicher Auslese allmählich um, sodass die Tiere dann besser an die neuen Umstände angepasst sind. Dabei bleibt aber offen, ob das schnell genug geschieht, um mit der weltweiten Umgestaltung der Lebensbedingungen durch den Menschen Schritt zu halten.

Riskante Schwalbenbrut

Bei vielen Vögeln hat sich über lange Zeiträume eine enge Kopplung zwischen der Umgebungstemperatur und dem Beginn der Brutsaison herausgebildet: Fortpflanzungshormone fangen an zu wirken, wenn das Wetter wärmer wird. Dann balzen die Vögel, bauen Nester und bringen Nahrung herbei, um ihre Jungen zu füttern. Bei den in Nordamerika heimischen Sumpfschwalben (Tachycineta bicolor) setzt das Tauwetter im Frühling die Fortpflanzungskaskade in Gang – aber dieser Auslöser kommt jetzt zu früh.

Zu früher Vogel | Die Sumpfschwalbe (Tachycineta bicolor) brütet in den nördlichen Bundesstaaten der USA sowie in Kanada und überwintert meist in Mexiko oder anderen mittelamerikanischen Ländern. Da es durch den Klimawandel immer wärmer wird, beginnen die Vögel früher im Jahr mit der Brut – und riskieren damit, dass sie ihren Nachwuchs durch plötzliche Kälteeinbrüche verlieren.

Vor allem wegen des erhöhten Kohlenstoffdioxidausstoßes ist die mittlere Lufttemperatur während des Frühjahrs im Norden des US-Bundesstaats New York zwischen 1972 und 2015 um 1,9 Grad Celsius angestiegen. Im selben Zeitraum verschob sich der Brutbeginn der Sumpfschwalben um 13 Tage nach vorn. Der Umweltindikator, den die Vögel als Auslöser für den Nestbau verwenden, passt damit nicht mehr zu den veränderten Bedingungen. Denn nun steigt das Risiko für plötzliche Kälteeinbrüche während der Brutperiode. Diese gefährden zwar kaum die erwachsenen Vögel, doch sie verringern die Flugaktivität der Insekten, welche die Schwalben für ihre hungrigen Jungen fangen. Die Elterntiere finden dann unter Umständen nicht genügend Futter für ihre Brut, was deren Überlebens- und Reproduktionschancen mindert.

Anhand der Daten von 11 236 Schwalbenküken aus mehr als 2000 Nestern fanden Ryan Shipley, der heute an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in der Schweiz tätig ist, und seine Kollegen heraus: Sumpfschwalben, die zwischen 2011 und 2015 geschlüpft waren, mussten mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit einen Kälteeinbruch erdulden wie ihre Artgenossen in den 1970er-Jahren. Als Folge davon kam es immer öfter zu einem vollständigen Brutausfall, bei dem sämtliche Jungvögel eines Nests verendeten. Im Mittel überlebte in Gelegen, in denen die Vögel vor dem letzten Temperatursturz geschlüpft waren, ein Küken weniger als in der Vergleichsgruppe ohne späteren Wetterumschwung.

Natürlich reagiert nicht jede Schwalbe auf den Einsatz des Tauwetters exakt gleich. Einige beginnen früher mit der Brut als der Durchschnitt, andere später. Falls diese Unterschiede auf genetischen Faktoren beruhen, dann sollte die natürliche Selektion Individuen begünstigen, die später brüten. Doch so einfach ist es nicht. Anders als etwa die Anpassung der Gefiederfärbung erweist sich eine Neukalibrierung des Zusammenhangs zwischen Temperatur und Paarungsbeginn als hochkomplex und beinhaltet hormonelle, neurobiologische sowie verhaltensbezogene Aspekte. Dieser Prozess könnte mehr Zeit in Anspruch nehmen, als den Schwalben bleibt.

Lichtverschmutzung irritiert Glühwürmchen

Der Klimawandel stellt nicht die einzige anthropogene Störung der Kopplung zwischen Umweltreizen und Fortpflanzung dar. Nächtliches Kunstlicht von Straßenlaternen, Autoscheinwerfern, Wohn- und Geschäftsgebäuden wirkt sich ähnlich problematisch aus. Dabei geht es nicht nur um nachts ziehende Vögel, die gegen beleuchtete Gebäude prallen.

Sowohl die Männchen als auch die Weibchen der Käferspezies Photuris versicolor senden Lichtsignale aus. Um die Auswirkungen der Lichtverschmutzung auf das Balzverhalten dieser Glühwürmchen zu analysieren, richteten Ariel Firebaugh und Kyle Haynes von der University of Virginia in Charlottesville (USA) Versuchsflächen ein, auf denen je ein Gitterkäfig stand. In zehn aufeinanderfolgenden Nächten setzten die beiden Forscher von 21:30 Uhr bis 23:30 Uhr Weibchen in jeweils einen Käfig und registrierten, wie oft diese blinkten, sowie die Anzahl der heranfliegenden Männchen und deren Blinkfrequenz. Einige Versuchsareale waren von zwei weißen Scheinwerfern beleuchtet, während andere kein künstliches Licht empfingen.

Unter nächtlichem Kunstlicht gaben die Glühwürmchen ihr normales Balzritual völlig auf

Unbeleuchtete Flächen zogen zwar relativ wenige Glühwürmchen an, doch unter den dort gezählten Individuen blinkten während der Balz etwa 90 Prozent der Weibchen und 65 Prozent der sie besuchenden Männchen. Beleuchtete Parzellen wurden von deutlich mehr Käfern aufgesucht, aber kein Tier – weder Männchen noch Weibchen – blinkte hier auch nur ein einziges Mal. Demnach gaben unter nächtlichem Kunstlicht die Glühwürmchen ihr normales Balzritual völlig auf. Genau wie der Klimawandel die Brutzeit der Sumpfschwalbe verändert, setzt künstliche Beleuchtung die Glühwürmchen neuen Umgebungsbedingungen aus, die sich dramatisch von denen unterscheiden, unter denen sich ihre Vorfahren entwickelt haben. Ob sich Photuris versicolor rasch genug an diese Veränderungen anpassen kann, bleibt abzuwarten.

Einsiedlerkrebse tappen in ökologische Falle

Evolutionär ungeeignete Umweltbedingungen sind die eine Folge des anthropogenen Wandels – die Bildung ökologischer Fallen stellt eine weitere dar. Diese entstehen, wenn Tiere aufgrund einer raschen Umweltveränderung Lebensräume besiedeln, die ihren Fortpflanzungserfolg schmälern. Dabei muss es sich nicht unbedingt um eine physische Falle handeln, aber auch das ist möglich.

Eine solche entsteht etwa durch Altreifen. Die Menschheit entsorgt davon jedes Jahr schätzungsweise 30 Millionen Tonnen. Viele werden recycelt, ein Großteil landet jedoch – oft illegal – einfach in der Umwelt. Atsushi Sogabe und Kiichi Takatsuji von der Universität Hirosaki in Japan untersuchten die Rolle ausrangierter Autoreifen als ökologische Fallen für Einsiedlerkrebse. Da deren Hinterleib nicht durch ein verkalktes Exoskelett geschützt ist, nutzen die Tiere leere Schalen von Schnecken oder anderen Mollusken als Ersatzpanzer und minimieren damit Verletzungsgefahren. Durch das Körperwachstum werden die Gehäuse jedoch mit der Zeit zu klein, sodass die Krebse immer wieder nach einer besser passenden Schale suchen.

Sogabe und Takatsuji hatten nun in der japanischen Mutsu-Bucht beobachtet, wie zahlreiche Einsiedlerkrebse in den Schneckenschalen stöbern, die sich im Innern von ausrangierten Autoreifen angesammelt hatten. Die Forscher befürchteten, dass die Tiere nicht in der Lage sind, die konkave Innenwand des Pneus zu erklimmen, um wieder hinauszugelangen, und daher schließlich in dem Reifen verenden. Also brachten die beiden Biologen einen Altreifen in ihr Labor und setzten Einsiedlerkrebse hinein: Tatsächlich gelang es keinem einzigen Krebs, herauszuklettern.

Sogabe und Takatsuji platzierten daraufhin in einem Feldversuch sechs Reifen auf dem Meeresboden der Mutsu-Bucht. Eineinhalb Jahre später hatten die Pneus lange genug an Ort und Stelle gelegen, um eine Menge Schalen anzusammeln – Überreste von Schnecken, die höchstwahrscheinlich den Altreifen aufgesucht hatten, um den Algenrasen darauf abzuweiden. Nun begannen die Forscher, jeden Monat die Einsiedlerkrebse zu entnehmen, die sie im Reifen fanden. Im Lauf des folgenden Jahres sammelten sie insgesamt 1278 Krebse ein, die darin gefangen waren. Unklar bleibt auch hier wieder, ob sich die Tiere mit der Zeit im Körperbau oder in ihrem Verhalten derart anpassen, dass sie dieser ökologischen Falle entkommen können.

Tiere in der Stadt

Eine der treibenden Kräfte der anthropogenen Evolution ist die Urbanisierung. Messen lässt sie sich anhand des »menschlichen Fußabdrucks« (Human Footprint Index), der Bevölkerungsdichte, Landnutzung, Lichtverschmutzung, Straßennetze, Eisenbahnlinien, schiffbare Flüsse und vieles mehr berücksichtigt. Marlee Tucker von der niederländischen Radboud-Universität in Nimwegen analysierte gemeinsam mit Kollegen GPS-Daten von 803 mit Sendern markierten Landtieren, die zu 57 weltweit vorkommenden Säugetierarten gehören, darunter Wildesel, Giraffe, Braunbär, Reh und Feldhase. Wie die Auswertung ergab, streifen die Tiere in Städten und anderen Gebieten mit hohem menschlichen Fußabdruck nur halb so viel umher wie solche, die in einer wenig vom Menschen beeinflussten Landschaft leben.

Das Leben der Tiere im Bereich von Städten unterscheidet sich grundlegend von dem ihrer Artgenossen in den umliegenden ländlichen Räumen. Sie finden hier andere Nahrung, treffen auf andere Raubtiere, sind anderer Beleuchtung ausgesetzt und bewegen sich auf anderen Oberflächen. Auch die Geräuschkulisse gestaltet sich in den Städten völlig anders, wo die Kommunikation der Tiere oft durch menschlichen Lärm überlagert, verzerrt oder anderweitig behindert wird (siehe »Umzug in die Stadt«, »Spektrum«Dezember 2019, S. 42).

Das Leben der Tiere in Städten unterscheidet sich grundlegend von dem ihrer Artgenossen in ländlichen Räumen

Ein wichtiger Faktor hierbei betrifft die Temperatur. Wie eine Studie in 57 skandinavischen Städten ergab, ist es innerstädtisch um bis zu fünf Grad Celsius heißer als im angrenzenden ländlichen Raum. Insbesondere schwarzer Asphalt und Metallverkleidungen an Gebäuden tragen dazu bei, dass Wärmeinseln entstehen.

Mutierte Echsen in urbanen Hitzeinseln

Evolutionsbiologen um Shane Campbell-Staton von der US-amerikanischen Princeton University erforschten, wie solche urbanen Hitzeinseln eine neue Form der ökologischen Selektion auf die dort lebenden Tierarten ausüben. Die Wissenschaftler prüften diese Effekte bei Kammanolis-Echsen (Anolis cristatellus) in Puerto Rico an vier verschiedenen Standorten mit jeweils einer städtischen sowie einer nahegelegenen bewaldeten Zone. Wie erwartet, wiesen alle urbanen Standorte höhere Lufttemperaturen auf als die im zugehörigen Wald. Nicht nur die Sitzplätze der Echsen, wo sie einen Großteil des Tags verbrachten, waren in der Stadt heißer, sondern auch deren Körpertemperaturen lagen höher.

Wärmeliebend | Bei den Kammanolis (Anolis cristatellus) haben sich hitzetolerante Varianten in Städten durchgesetzt, wo es deutlich wärmer ist als im Wald.

Urbane Hitzeinseln sollten bei städtischen Anolispopulationen im Vergleich zu den im Wald lebenden Individuen einen größeren Selektionsdruck auf Wärmetoleranz hin ausüben. Um dies zu überprüfen, fingen Campbell-Staton und sein Team an allen Studienorten einzelne Exemplare ein und brachten sie ins Labor, wo sie die Verhaltensreaktionen der Tiere auf steigende Temperaturen untersuchten. Dabei platzierten die Forscher ihre Anolis unter Wärmelampen und erhöhten die Temperatur jede Minute um ein Grad Celsius. Während es wärmer wurde, legte ein Untersucher das Versuchstier wiederholt auf den Rücken und berührte es dann mit einer Pinzette, um zu sehen, ob es sich zurückdrehte. Dieses Experiment mag seltsam anmuten, doch für Echsen in freier Wildbahn ist es höchst gefährlich, auf dem Rücken zu liegen. Sich rasch genug wieder umzudrehen, kann über Leben und Tod entscheiden, wenn sich Raubtiere in der Nähe aufhalten. Wie Campbell-Staton und seine Kollegen herausfanden, lag die maximale Temperatur, bei der ein Tier noch in die normale Bauchlage zurückkehren konnte, für Exemplare aus städtischen Hitzeinseln höher als für ihre im Wald lebenden Artgenossen.

Die anthropogene Evolution hat das Verhalten und die genetische Konstitution der Stadtechsen bereits verändert

Ein Genomvergleich von Anolisechsen aus städtischen und bewaldeten Standorten ergab, dass eine Genvariante, die eine erhöhte Toleranz gegenüber Temperaturschwankungen ermöglicht, bei den Stadtechsen häufiger vorkommt als bei ihren Artgenossen aus dem Wald. Wir wissen nicht, ob diese Variante erst in jüngerer Zeit entstanden ist – ähnlich wie beim Gen für die dunkle Pigmentierung des Birkenspanners – oder ob sie in der Anolispopulation schon seit Langem in geringer Frequenz vorlag und erst kürzlich häufiger wurde. In jedem Fall hat die anthropogene Evolution das Verhalten und die genetische Konstitution der Stadtechsen bereits verändert.

Gestörte Fortpflanzung bei Stadtamseln

In den Städten ist es nicht nur wärmer, sondern auch heller als auf dem Land. Analog zu verfrühtem Tauwetter kann künstliche Beleuchtung ebenfalls in die Irre führen. Wie sich nächtliches Kunstlicht auf die Fortpflanzung von Tieren in der Stadt auswirkt, untersuchten 2013 Davide Dominoni, damals am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell, und seine Kollegen an Singvögeln. Hierzu statteten die Forscher wild lebende Amselmännchen (Turdus merula) im Stadtgebiet von München sowie in einem 40 Kilometer südwestlich der Landeshauptstadt gelegenen Forst mit winzigen Lichtsensoren aus, die alle zwei Minuten die Helligkeit erfassten. Im Wald waren die Vögel nachts einer sehr niedrigen Umgebungshelligkeit ausgesetzt (im Mittel 0,00006 Lux), während diejenigen in der Stadt viel hellere nächtliche Bedingungen vorfanden (durchschnittlich 0,2 Lux).

Stadtbewohner | Die Amsel (Turdus merula) bevorzugte einst dichte Wälder. Als Kulturfolger ist sie inzwischen auch in unseren Städten heimisch. Hier muss sie sich an neue Umweltbedingungen wie durch Kunstlicht erhellte Nächte anpassen.

Anschließend setzten die Wissenschaftler für ein Langzeitexperiment männliche Amseln von beiden Standorten in eine gemeinsame Voliere und teilten die Tiere in eine Versuchs- sowie eine Kontrollgruppe auf. Jede Gruppe umfasste zehn Vögel aus der Stadt sowie zehn aus dem Wald, die jeweils in einem eigenen Käfig untergebracht wurden. In beiden Gruppen erlebten die Amseln tagsüber das gleiche Beleuchtungsregime. Nachts jedoch hatten die Vögel der Kontrollgruppe gerade genug Licht, um sich im Käfig zu orientieren (0,0001 Lux), während die Versuchsgruppe in einer viel helleren Umgebung saß (0,3 Lux).

Die Effekte waren erstaunlich: Die Vögel der Versuchsgruppe erreichten die Geschlechtsreife 26 Tage früher als die Kontrolltiere. Im Verlauf des insgesamt siebenmonatigen Experiments wiesen die unter Kunstlicht gehaltenen Stadtvögel eine um zwölf Tage längere Fortpflanzungszeit auf als ihre Pendants in der Dunkelheit. Bei den Waldvögeln ergab sich in der Versuchsgruppe eine neun Tage längere Paarungszeit.

Für die verlängerte Fortpflanzungsphase zahlten die Amselmännchen einen hohen Preis

Für die verlängerte Fortpflanzungsphase zahlten die Amselmännchen jedoch einen hohen Preis: Im folgenden Jahr, in dem beide Gruppen abermals den jeweils gleichen Bedingungen ausgesetzt waren, zeigten die Männchen der Versuchsgruppe keine Anzeichen von Fortpflanzungsaktivität. Das Kunstlicht, das unsere Städte nachts erhellt, stört also offenbar die Fortpflanzung der Amseln und wahrscheinlich auch die vieler anderer Tierarten.

Mutige Mäuse

Die Urbanisierung beeinflusst ebenfalls die »Persönlichkeit« von Tieren. In der Verhaltensforschung versteht man darunter einen Satz von Verhaltensweisen, die ein einzelnes Tier über lange Zeiträume hinweg gleichbleibend aufweist und die sich bei Individuen derselben Art unterscheiden.

2020 untersuchten Valeria Mazza, damals an der Universität Potsdam, und ihre Mitarbeiterinnen die Persönlichkeiten von Brandmäusen (Apodemus agrarius) in vier städtischen Örtlichkeiten in Berlin und fünf ländlichen Gebieten nördlich der Metropole. Die Wissenschaftlerinnen fingen 96 Mäuse aus diesen neun Populationen ein und setzten sie jeweils in Gehege im Bereich ihres bisherigen Lebensraums. An den verwendeten Behausungen war jeweils ein undurchsichtiges Kunststoffrohr befestigt, das in einen natürlich beleuchteten Außenbereich mündete. Um den Wagemut ihrer Versuchstiere zu messen, notierten die Forscherinnen, wann die Mäuse das dunkle Rohr verließen und die Umgebung erkundeten. Dabei zeichnete das Team auf, wie lange die Nager brauchten, um sich in die Mitte des Außenbereichs vorzuwagen, und wie viel Zeit sie im Ganzen mit der Erforschung dieses Areals verbrachten.

Stadtmäuse erwiesen sich als tendenziell mutiger und erkundeten den Außenbereich intensiver als ihre Artgenossen vom Land – vielleicht, weil sich neugierigere Tiere eher in städtische Gebiete hineinwagen. Auch in der Stadt selbst könnten sich solche Eigenschaften vorteilhaft auswirken, da urbane Flächen durch Straßen und Neubauten oft in weitere kleinere Parzellen zerteilt werden. Bei diesem Fragmentierungsprozess haben die Entdeckerpersönlichkeiten höhere Chancen, in neue Lebensräume mit besserer Nahrung oder mit weniger Raubtieren vorzudringen. Und da sich gezeigt hat, dass Kühnheit und Entdeckerlust bei verschiedenen Tierarten zumindest teilweise genetisch bedingt sind, dürften wagemutige Mäuse weitere kühne Nachkommen hervorbringen. Das könnte die beobachteten Verhaltensunterschiede von Stadt- und Waldmäusen auf Populationsebene erklären.

Papageien lernen, mit widrigen Umweltbedingungen umzugehen

Doch nicht alle Reaktionen der Tiere auf anthropogene Veränderungen sind angeboren. Einige Arten können lernen, wie sie negative menschliche Einflüsse abmildern – einschließlich widriger Umgebungsbedingungen, ökologischer Fallen oder spezifischer Probleme durch das Leben in einer urbanen Umwelt. Inwieweit das bei den verschiedenen Tierarten der Fall ist, lässt sich nur schwer abschätzen, vor allem, weil Verhaltensforscher dieser Fragestellung erst seit Kurzem in freier Wildbahn nachgehen. Allerdings gibt es bei Vögeln einige Hinweise darauf, dass sie lernen, negative Auswirkungen anthropogener Störfaktoren zu verringern.

Die meisten Papageienarten in Süd- und Mittelamerika bauen ihre Nester in Baumhöhlen und brüten ausschließlich dort. Die Holzindustrie fällt jedoch unterschiedslos auch Bäume, in denen die Vögel nisten könnten.

Pedro Romero-Vidal von der spanischen Universität Pablo de Olavide in Sevilla und seine Kollegen erfassten systematisch höhlenbrütende Spezies an acht Standorten in Argentinien, Bolivien, Costa Rica und Panama. Wie das Forscherteam beobachtete, gingen Papageien beim Nestbau innovativer vor, wenn sie in Gebieten lebten, in denen es wegen der Abholzung zum Schaffen von Weideland besonders wenige Baumhöhlen gab. In Buenos Aires bauten sich die Vögel Höhlen in Gebäudewänden oder in Bahnhofshallen. Und wie eine Auswertung der Daten von 148 Vogelpaaren aus acht verschiedenen Papageienarten ergab, nisteten sie außerhalb der Städte in den Deckblättern von Palmen, die von der Abholzung verschont blieben, anstatt in den sonst von ihnen bevorzugten Eichen, Buchen oder Kiefern. Solche Flexibilität könnte dem bedrohten Artenreichtum angesichts der fortschreitenden Entwaldung eine gewisse Atempause verschaffen. Aber für wie lange? Und für welche Arten?

Schlaue Stare

Vögel können neue Überlebensstrategien erlernen, wie beispielsweise einem neu auftretenden Raubtier auszuweichen. Das zeigt das Beispiel der Hirtenmaina (Acridotheres tristis), die vor etwa 150 Jahren in Australien eingeschleppt wurde. Heute gilt die zu den Staren gehörende Singvogelart weithin als invasiver Schädling, weil sie einheimische Vögel im Wettbewerb um Nistplätze verdrängt. Um die angestammten Arten zu schützen, hat Australien Programme zur Kontrolle von Hirtenmainas entwickelt. So erlagen zwischen 2005 und 2012 mehr als 50 000 dieser Vögel einem besonders raffinierten und rücksichtslosen Raubtier: dem Menschen.

Eindringling | Die zu den Staren gehörende Hirtenmaina (Acridotheres tristis) stammt ursprünglich aus Südasien, wurde jedoch weltweit in vielen Regionen wie Nordamerika, Südafrika oder Australien eingebürgert. Hier breitete sie sich als invasive Art schnell aus und verdrängt zunehmend die einheimische Vogelwelt.

Die Überlebenden und ihre Nachkommen haben sich allerdings inzwischen gut auf die neue Bedrohung eingestellt. In Gebieten mit intensiverer Fallenjagd schützen sich die Stare mit einem angepassten Verhalten, etwa indem sie die bejagten Areale eher meiden.

Dabei blieb zunächst unklar, ob die Vermeidungsreaktion der Hirtenmainas als angeborenes Verhalten durch die natürliche Auslese begünstigt wird, oder ob die Vögel während ihres Aufenthalts in Risikogebieten gelernt haben, die erhöhte Gefahr zu erkennen. Um das herauszufinden, ersannen Marie Diquelou und Andrea Griffin von der University of Newcastle in Australien einen geschickt konzipierten Versuch: Vier Tage lang legten die Forscherinnen Vogelfutter aus, wobei sie entweder eine Maske, einen weißen Laborkittel sowie einen schwarzen Zylinder trugen oder alternativ ohne Maske und Hut, aber mit dunkler Jacke erschienen. Am fünften Tag kamen sie erneut zum Futterplatz in dem einen oder dem anderen Kostüm. Diesmal hatten sie jedoch einen Käfig mit zwei lebenden Vögeln sowie einen tragbaren Lautsprecher dabei, der aufgenommene Alarmrufe von Hirtenmainas abspielte.

Nun begann das eigentliche Experiment: Abermals näherte sich eine der Wissenschaftlerinnen kostümiert der Futterstelle und beobachtete nun, wie die auf Futter wartenden Hirtenmainas in der Umgebung reagierten. Wie Diquelou und Griffin dabei feststellten, schlugen die Stare dann Alarm, wenn die Forscherin genauso gekleidet war wie am fünften Tag. Offensichtlich hatten die wild lebenden Vögel den Auftritt dieser Person mit den Alarmrufen ihrer gefangenen Artgenossen verknüpft. Die Hirtenmainas hatten gelernt, dass von Menschen mit bestimmten Merkmalen (hier ihre spezielle Kleidung) eine mögliche Gefahr ausgeht.

Unterwasserlärm vertreibt Wale

Auf Basis der wachsenden Erkenntnisse zu den Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Umwelt versuchen Wissenschaftler vorherzusagen, welche Spezies am ehesten von anthropogener Evolution betroffen sein werden. Zum Beispiel könnten auch bereits vorhandene Verhaltensanpassungen Tiere empfindlicher gegenüber menschlichen Störeinflüssen machen.

Lärmempfindlich | Unterwasserlärm stört Buckelwale (Megaptera novaeangliae) beim Fressen und vertreibt sie.

Patrick Miller von der schottischen University of St Andrews erforschte 2022 mit seinem Team, inwieweit das Fressverhalten verschiedener Walspezies von technischem Unterwasserlärm gestört wird – etwa durch seismische Untersuchungen, unterseeische Bohrungen oder militärische Sonarsignale. Dabei beobachteten die Wissenschaftler Verhaltensänderungen von Nördlichen Entenwalen (Hyperoodon ampullatus), Buckelwalen (Megaptera novaeangliae), Pottwalen (Physeter macrocephalus) und Grindwalen (Globicephala melas), wenn diese Meeressäuger entweder Töne von Marinesonargeräten oder Laute von Schwertwalen (Orcinus orca) hörten, die gerade ein Säugetier erbeutet hatten. Um zu überprüfen, ob unspezifischer Lärm ebenfalls das Verhalten negativ beeinflusst, wurde den vier getesteten Arten auch Breitbandrauschen oder die Geräusche einer Gruppe fischfressender Schwertwale vorgespielt.

Die Ergebnisse der Studie waren verblüffend: In dem Ausmaß, in dem die vier Walspezies die Dauer ihrer Nahrungsaufnahme bei Anwesenheit eines natürlichen Räubers reduzierten, verringerten sie auch beim Unterwasserlärm durch Sonar ihre Fressdauer. Entenwale zogen sich sogar vollständig zurück, wenn sie entweder die Laute von säugetierfressenden Orcas oder aber technische Sonargeräusche vernahmen. Menschengemachter Lärm beeinträchtigt also die Nahrungssuche der Meeressäuger, da er bei ihnen ein Schutzverhalten auslöst.

Die anthropogene Evolution geschieht hier und jetzt

Die meisten Menschen betrachten die Evolutionsbiologie als eine Wissenschaft von Prozessen, die in einer fernen Vergangenheit stattfanden und dabei sehr langsam voranschritten. Doch die anthropogene Evolution geschieht hier und jetzt. Wir beschleunigen massiv evolutionäre Veränderungen der Arten um uns herum. Wollen wir die unerwünschten, oft unbeabsichtigten Folgen unseres Handelns abmildern, dann müssen wir so viel wie möglich darüber erfahren, wie Tiere auf den Wandel reagieren, den wir in unserer gemeinsamen Umwelt verursachen.

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