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Archäologie: Das Rätsel um den Nestorbecher

In dem frühgriechischen Grab eines Jungen entdeckten Archäologen ein Trinkgefäß – und darauf eine Inschrift, die auf Wein, Liebeslust und »Ilias« anspielt. Wie Toter und Text zusammenpassen, war lange ein Rätsel. Nun haben Fachleute eine Erklärung für den Fund von der Insel Ischia. Dabei half eine selten verwendete Analysemethode.
Der »Nestorbecher« aus dem späten 8. Jahrhundert v. Chr. ist gut zehn Zentimeter hoch und fasst etwas mehr als einen Liter. Auf der Außenseite hatte man einen Text im Versmaß eingeritzt.
Das Gefäß aus dem späten 8. Jahrhundert v. Chr. ist gut zehn Zentimeter hoch und fasst etwas mehr als einen Liter. Es handelt sich der Form nach um eine so genannte Kotyle. Auf der Außenseite hatte man einen Text im Versmaß eingeritzt.

Mit seinen Sandstränden und heißen Quellen ist Ischia ein touristisches Highlight im Golf von Neapel. Wohl weniger die Sonne und Erholung lockten vor rund 2800 Jahren Griechen auf die Insel: Sie suchten Eisenerz, den Werkstoff einer neuen Zeit. Dafür kamen sie von der rund 1000 Kilometer entfernten Insel Euböa nach Pithekoussai, wie sie ihre neue Heimat nannten. Es war die erste griechische Koloniegründung im westlichen Mittelmeerraum.

Als Archäologen dort in den 1950er Jahren zu graben begannen, erforschten sie vor allem die Nekropole. Inzwischen widmen sie sich auch der Siedlung und einem alten Bekannten: dem »Nestorbecher« von Pithekoussai aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr.

Der tönerne Trinkbecher fand sich 1954 im Grab mit der Fundnummer 168, in dem laut Untersuchung der Knochen ein maximal 14-jähriger Junge begraben lag. Bald nach der Entdeckung erregte der Behälter viel Aufmerksamkeit in der Archäologengemeinde. In die Wandung war einst ein Gedicht geritzt worden, das die Mythenfigur Nestor nennt und auf den Sagenkreis um Troja hinweist. Deshalb galt das Gefäß lange als Zeitmarke für die Entstehung von Homers »Ilias«: Das Epos musste offenbar zum Zeitpunkt der Becheranfertigung bekannt gewesen sein. Über die Bedeutung der Zeilen, die von Trunkenheit und Lust handeln, diskutieren Experten seit Langem (siehe Kasten »Rätselhafte Zeilen von Homer?«).

Wie passen Grab und Beigabe zusammen? Ein Kind, bestattet mit einem Trinkbecher, der auf Wein und Liebe anspielt – kann das sein? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um die Bioarchäologin Melania Gigante von der Universität Padua und die Anthropologin Alessia Nava von der University of Kent haben daher die Überreste des feuerbestatteten Toten mit neuen Methoden untersucht. Wie sie im Fachblatt »Plos One« schreiben, lässt sich ihres Erachtens die bisherige Deutung des Grabs wohl nicht mehr aufrechterhalten.

Was über Pithekoussai bekannt ist

Der italienische Archäologe Giorgio Buchner (1914–2005) widmete Pithekoussai sein Leben. Dank seiner Forschungen ist heute viel über die antike Insel bekannt, etwa dass Griechen dort mit Phöniziern und Einheimischen zusammenlebten. In der Literatur der Antike spielte der Ort hingegen keine sonderlich große Rolle. Der Geograf Strabon (zirka 63 v. Chr.–23 n. Chr.) erwähnte die Insel fast 700 Jahre nach der Koloniegründung, er nannte Eretria und Chalkis auf Euböa als Heimatstädte der Siedler. Dafür fand Buchner tatsächlich Hinweise in Form von euböischer Keramik.

Mehr als 1300 Gräber hat der Archäologe dokumentiert, darunter Körper- und Brandbestattungen. Für Erstere hatte man einst einen Graben ausgehoben und darin den Sarg oder eine große Amphore mit dem Leichnam versenkt. Andere Tote wurden auf einem Scheiterhaufen verbrannt, die Überreste anschließend unter Feldsteinhügelchen bestattet.

Buchner beschrieb Grab 168 als ein großes Oval dunkler Erde, typisch für eine Brandbestattung, etwa vier Meter lang und zwei Meter breit. Im Erdreich verteilt lagen verbrannte Knochenreste. Bei den Grabungen kamen auch zahlreiche Gefäßfragmente zu Tage, darunter Teile des »Nestorbechers«. Am Grund des Ovals fand Buchner dann drei Gruben, die er als drei weitere Gräber deutete.

Die Anthropologen Marshall Joseph Becker von der West Chester University und T. F. Spence von der University of Birmingham untersuchten den geborgenen Leichenbrand. Sie wogen die Überreste, begutachteten Zähne sowie Knochenstücke anatomisch und glichen ihre Ergebnisse mit den Grabbeigaben ab – denn bestimmte Funde hielt man für typisch weiblich, andere würden aus dem Besitz von Männern stammen. Nach Ansicht von Becker und Spence gehörte der Leichenbrand zu einem Knaben von 10 bis 14 Jahren. Buchner folgerte daraus: Es waren doch nicht drei Gräber, sondern nur eines, das für ein Kind auffällig reich ausgestattet war. Die drei Vertiefungen mussten also später entstanden sein.

Die Knochen aus dem Grab zeigen typische Brandspuren

Die Forschergruppe um Gigante und Nava hat 2021 den Leichenbrand erneut begutachtet. Sie zählten 195 Knochenfragmente, manche kleiner als ein Zentimeter. Alle zeigten die typischen Folgen des Feuers wie Risse oder das Ablösen von Schichten. Aufschlussreich war auch die Farbe: Nur 15 Prozent der Stücke waren schwarz verkohlt, der Rest weiß oder grau. Die helle Färbung entsteht durch das Mineral Hydroxylapatit, das dem Knochen Härte verleiht und gut 40 Prozent seiner Masse ausmacht. Es bleibt zurück, wenn die organischen Verbindungen bei sehr hohen Temperaturen aufgebrochen werden und der Kohlenstoff als Kohlendioxid oder -monoxid entweicht.

Leichenbrand | Diese Funde aus Grab 168 von Pithekoussai haben Fachleute als menschliche Knochen und Zähne identifiziert. Ebenso kam Knochenmaterial von Tieren zum Vorschein.

Für seine Analyse griff das Team auf Studien von Forschern zurück, die Anfang des 21. Jahrhunderts experimentell untersucht haben, wie Körper und Skelette verbrennen. So wirkt das Feuer eines Scheiterhaufens vor allem von unten auf einen Leichnam ein; das Brennmaterial und Wind sorgen ebenfalls für eine ungleiche Temperaturverteilung. Wasser- und fetthaltiges Gewebe schützt zudem die Knochen eine Weile gegen die Hitze. Auf Grundlage all dieser Daten schätzten die Forscher die Verbrennungstemperatur im Nestorgrab auf 600 bis 900 Grad Celsius. Das bedeutete jedoch: Erbsubstanz lässt sich aus den Knochenstücken nicht mehr extrahieren. Ob Becker und Spence mit ihrem Befund damals richtiglagen, mussten Gigante und Co also anders prüfen.

Stammten die Knochen von einem oder mehreren Menschen?

Obwohl die Fragmente von der Hitze stark beschädigt wurden, ließen sie sich anhand ihrer Form in drei Kategorien unterteilen: eindeutig menschlich, eindeutig tierisch und unklar. Die Archäozoologin Kerstin Pasda vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Erlangen-Nürnberg erklärt das Verfahren: »Man muss das [Knochen-]Stück in die Hand nehmen und im Licht drehen, um einen räumlichen Eindruck zu erhalten.« Anschließend vergleicht man den Knochen mit den Exemplaren in einer Beispielsammlung, sagt die Forscherin. »Mitunter ist es bloß eine Biegung an einer bestimmten Stelle, die für eine Spezies typisch ist.« Wobei verbrannte und daher verformte Gebeine besonders schwer zu beurteilen seien – »insgesamt erfordert dieser Prozess sehr viel Erfahrung«. Dass Becker und Spence die tierischen Knochen nicht erkannten, wundert Pasda aber nicht. Erst in den 1980er und 1990er Jahren haben Fachleute ihre Kenntnisse über Leichenbrand stark erweitert.

Bei seiner Auswertung stellte das italienische Team jedenfalls fest: 45 Fragmente sind tierisch. Sie stammen recht sicher von einem Schaf oder einer Ziege, einem Hund und von Vögeln. Wie der Zustand der Knochen verrät, dürften die Tiere oder Teile davon beim Totenritual auf dem Scheiterhaufen verbrannt sein. Solche kultischen Opfer haben Gigante und ihr Team bei mehr als 45 Prozent der Gräber von Pithekoussai für die Zeit um 700 v. Chr. nachgewiesen. Zudem stellten sie fest: Während in Pithekoussai Ziegenknochen auch in Frauengräbern zu Tage kamen, waren Hunde wohl auf die Bestattungen von Männern beschränkt. Demnach könnte der Tote von Grab 168 männlich gewesen sein.

Die menschlichen Knochen aus der Grablege umfassen 130 Fragmente, allerdings fehlen bestimmte Skelettpartien: der Gesichtsschädel, die Hände, Füße und der Brustkorb. Erhalten sind die übrigen Teile des Schädels, die Knochen der Extremitäten sowie wenige Fragmente der Wirbelsäule und des Beckens.

Das Gewicht des Leichenbrands war mit 166 Gramm auffällig gering. Das kremierte Skelett einer Frau wiegt normalerweise etwa 1,5 bis 2,2 Kilogramm, das eines Mannes zirka 2 bis 3,2 Kilogramm. Doch die Überreste aus zeitgleichen Gräbern von Pithekoussai sind ebenfalls deutlich leichter – im Durchschnitt zirka 150 Gramm bei Frauen und etwa 250 Gramm bei Männern. Offenbar klaubte man für die Beisetzung nur bestimmte Knochen aus dem Scheiterhaufen.

Weil die Gebeine verbrannt waren, konnten Gigante und Nava auch das Sterbealter nicht mit Hilfe der klassischen Forensikmethoden eingrenzen. Einzig ein Stück Oberkiefer lieferte einen klaren Hinweis: Eine Naht im Gaumenbereich war vollständig geschlossen – der Knochen stammte also von einem Erwachsenen. War der Tote demnach gar kein Kind gewesen?

Die Mikrostruktur verrät Sterbealter und Spezies

In den vergangenen Jahren haben Fachleute ihr Spektrum an Methoden deutlich erweitert – unter anderem zur Mikrostruktur der Knochen, aus der sich Sterbealter und Spezies ablesen lassen. Eine der wenigen Deutschen auf diesem Gebiet ist Julia Gresky, Paläopathologin im Referat Naturwissenschaften an der Zentrale des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin. Sie erklärt: »Insbesondere die kompakte Rinde der Langknochen bei erwachsenen Menschen hat einen ganz charakteristischen Aufbau.« Es geht dabei um Lamellenknochen. In ihrer Rinde verlaufen Osteonen, die auch Havers-Systeme heißen. Der Durchmesser eines Osteons beträgt etwa 0,2 Millimeter. Es besteht aus ungefähr 5 bis 20 Lamellen, die einen Havers-Kanal mit Blutgefäßen und Nerven ummanteln. Die Lamellen setzen sich teils aus organischen Stoffen wie Kollagenfasern zusammen und teils aus anorganischen Substanzen, vor allem aus dem genannten Hydroxylapatit.

Krater | Das mehr als einen Meter hohe Gefäß stand im 8. Jahrhundert v. Chr. auf einem Grab. Die Form entspricht einem Krater, einem Weinmischgefäß. Darauf sind Szenen von Grabfeierlichkeiten abgebildet: Der aufgebahrte Tote ist umgeben von Trauernden, darunter verläuft eine Prozession von Kriegern und Streitwagen. Der Fund aus Attika befindet sich heute im Metropolitan Museum of Art in New York.

Diese Feinstruktur entwickelt sich beim Heranwachsen. Das Skelett eines Kinds sowie das nach Brüchen neu gebildete Knochengewebe besteht aus so genannten Geflechtknochen – die Bestandteile sind darin uneinheitlich angeordnet. Mit Älterwerden bilden sich dann Osteonen, die die Gebeine stabiler machen.

Tierknochen enthalten ebenfalls Osteonen, doch sind sie meist lockerer gepackt als beim Menschen. Allgemein kommen noch Lamellen ohne klare Faserausrichtung oder Knochen ohne Gefäßversorgung hinzu. Gibt es dennoch eindeutige Unterscheidungsmerkmale zwischen Menschen- und Tierknochen? »Letztlich findet man verschiedene Knochentypen auch im menschlichen Skelett«, meint Gresky. »Geflechtknochen gibt es etwa dort, wo Sehnen ansetzen, und in Teilen der Schädelbasis.« Mit der entsprechenden Expertise könne eine genaue Zuweisung gelingen.

Dreierlei Analysen für die Gebeinfragmente

Wenn Fachleute Knochen untersuchen, fertigen sie Dünnschliffe an. Sie trennen dazu feine Scheiben von den Knochen ab und schleifen sie glatt, um anschließend die Struktur im Mikroskop beurteilen zu können. Damit keine Fehler unterlaufen, gilt es laut Gresky eines zu beachten: »Um Mensch und Tier anhand von Dünnschliffen voneinander zu trennen, sollten Proben aus korrespondierenden [Knochen-]Regionen entnommen werden.«

Genau das haben Gigante und Nava getan. Für die Dünnschnitte von menschlichen Knochen wählten sie ausschließlich Fragmente von Oberschenkel und Oberarm. Die Proben zeigten unter dem Mikroskop durchgängig die Osteonenstruktur von Erwachsenen. Ebenso gingen die Forscherinnen bei den Dünnschliffen der Tierknochen vor. Hier erkannten sie unter dem Mikroskop typisch tierische Geflechtknochen und Havers-Systeme.

Nach dieser qualitativen Analyse erfolgte an den menschlichen und tierischen Dünnschnitten eine quantitative Untersuchung. Zunächst ermittelte die Arbeitsgruppe den Flächenanteil der Osteonen und Havers-Kanäle und verglich ihn mit Referenzwerten. Das Ergebnis: Bis auf wenige Ausnahmen hatte man die Knochenstücke richtig als Mensch oder Tier identifiziert.

An den Schnitten ermittelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler abschließend die Zahl der Osteonen pro Fläche – der Wert nimmt mit dem Alter zu. Und so stellten Gigante und Nava fest: Die Proben stammen von drei unterschiedlich alten Individuen.

Feine Unterschiede | Im Mikroskop lassen sich die verschiedenen Knochenstrukturen erkennen: Die Probe A stammt von einem menschlichen Knochen aus dem Grab 168 von Pithekoussai, B und C gehörten zu Tieren.

Mit dieser Methode lässt sich auch das Sterbealter abschätzen. Doch genaue Vergleichswerte liegen bisher nur für unverbrannte Knochen vor. Die Forscher vermuten aber, dass es sich bei den drei Toten um Erwachsene gehandelt hatte – Kinder waren es jedenfalls ganz sicher nicht. So viel lässt sich aus der Osteonenzahl per Fläche ablesen. Buchner hatte anfangs also richtiggelegen, dass an der Stelle von Grab 168 drei Verstorbene verbrannt und bestattet worden waren.

Von Totenbanketten und Opferritualen

Der »Nestorbecher« von Pithekoussai galt demnach keinem Kind. Die Zeilen, die von Trunkenheit und Liebeslust handeln, waren offenbar auf erwachsene Menschen gemünzt. Doch selbst nach der speziellen Knochenanalyse sind nicht alle Experten überzeugt. Die Frage lautet: Lag der Becher wirklich als Beigabe im Grab?

Buchner berichtete von einem komplexen Neben- und Übereinander mehrerer Körper- und Brandgräber. Zudem: Wie der Archäologe Erich Kistler von der Universität Innsbruck anmerkt, stammen die Scherben des »Nestorbechers« aus der ovalen Schicht, die sich zwischen mehreren Grabhügeln erstreckte. Darin lagen viele Bruchstücke von Gefäßen, die für Trinkgelage bestimmt waren. Laut Kistler bezeugen sie ein Opferfest bei der Bestattung. Dabei sei es Teil des Rituals gewesen, dass man das verwendete Geschirr zerschlug und verbrannte, ergänzt die Homer-Expertin Barbara Patzek. »Wir finden bei Homer entsprechende Schilderungen von den Beisetzungen gefallener Helden«, erklärt Patzek. Vermutlich ging so der »Nestorbecher« zu Bruch.

Jenes Gefäß, die Toten, das Grabritual – wie hing alles zusammen? Erich Kistler richtet dazu den Blick auf die Hinterbliebenen. Seines Erachtens galt das Tongeschirr nicht allein den Toten, sondern es stellte auch den Status der Familie zur Schau. Die Botschaft des »Nestorbechers« an die Trauergemeinschaft lautete dann: Der oder die Toten entstammen einem Haushalt, in dem Männer beim Wein zusammensitzen und Verse rezitieren. Und die Dichtkunst zu kennen, war damals Ausweis für hohe Bildung und Zugehörigkeit zu einer vornehmen Familie.

Rätselhafte Zeilen von Homer?

»Nestors Becher [bin ich – oder: gab es mal], aus dem sich gut trinken lässt. Wer aber aus diesem Becher trinkt, den wird sogleich Verlangen, [die Gabe] der schön bekränzten Aphrodite, ergreifen.«

Nur drei Zeilen umfasst die Inschrift auf dem Trinkgefäß, das als »Nestorbecher« von Ischia bekannt ist. Es handelt sich um eines der frühesten Beispiele der griechischen Alphabetschrift. Stilistischen Merkmalen zufolge kam das Gefäß als Importstück von der Insel Rhodos nach Pithekoussai. Experten datieren es ans Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr.

Die von den Klassischen Philologen Klaus Rüter und Kjeld Matthiessen 1968 publizierte Übersetzung legt nahe, dass die Verse unterschiedlich interpretiert werden können. Das liegt auch daran, dass Gefäß und Text nicht vollständig erhalten sind. Spielen die Zeilen aber tatsächlich auf die »Ilias« an und liefern ein Entstehungsdatum für das Epos?

Eher nicht. Homers »Ilias« beruht auf jahrhundertealten, mündlich überlieferten Liedern. Nach heutigem Wissen war es die erste schriftliche Fassung der Dichtung zum Trojanischen Krieg, noch dazu eine sehr umfangreiche und kunstfertige. Welcher Quelle genau sich der Besitzer des Bechers bediente, ist daher unklar. Zudem zitiert die Inschrift keinen Text direkt, der aus der Frühzeit des antiken Griechenlands bekannt ist.

Was in der »Ilias« vom Gefäß des mythischen Nestors überliefert ist, hilft ebenfalls nur wenig weiter. Homer erwähnt den Becher in wenigen Zeilen, die viel Raum für Interpretationen lassen:

»Dazu den überaus schönen Becher, den von zu Hause mitgebracht der Alte, mit goldenen Nägeln beschlagen; und Henkel hatte er vier; und zwei [goldene] Tauben pickten auf beiden Seiten eines jeden; und zwei Standbeine waren darunter. Jeder andere bewegte ihn mit Mühe vom Tisch, wenn er voll war, Nestor aber, der Alte, hob ihn ohne Mühe.«

So übersetzte der Tübinger Altphilologe Wolfgang Schadewaldt die Verse Mitte des 20. Jahrhunderts. Schon in der Antike rangen Gelehrte um die Bedeutung: Offenbar ging es bei dem Becher nicht um ein Trinkgefäß, sondern um einen Krater, also einen großen Behälter zum Mischen von Wein, Wasser und anderen Zutaten. Warum aber taten sich junge Krieger vom Schlage eines Achill oder Aias schwer damit, ihn vom Tisch zu heben, nicht hingegen der greise Nestor? Verwendete Homer das Gefäß vielleicht als Symbol für dessen legendäre Trinkfestigkeit? War das Kräftemessen nur eine Metapher für: Wenn alle anderen längst lallten, brachte Nestor seine Ideen ein und setzte sie mühelos durch?

Was heißt das für den Trinkbehälter von Ischia? Da die erste Zeile in einem anderen Versmaß verfasst wurde als die beiden folgenden, sollte der Anfang vielleicht tatsächlich auf die »Ilias« oder eine weitere Dichtung aus dem Troja-Kontext anspielen. Die beiden anderen Zeilen beziehen sich dagegen konkret auf den Tonbecher. Und der sei offenbar besser als Nestors mythisches Gefäß, denn er verspricht nicht nur Trinkfestigkeit, sondern auch eine aphrodisierende Wirkung.

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