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News: Antisemitismus als Protesthaltung

Antisemitismus von Jugendlichen kann eine Form von Gegenkultur, eine reine Protesthaltung sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die von 1996 bis 1998 in vier Bundesländern durchgeführt wurde. Dreißig Prozent der befragten Jugendlichen sind fremdenfeindlich eingestellt, und die Hälfte davon ist sogar gewaltbereit. Zwischen Ost- und Westdeutschland zeigen sich dabei keine Unterschiede.
"Antisemitismus ist mit einem Tabu belegt, genau dieses Tabu macht den Antisemitismus aber für einen Teil der Jugendlichen wieder interessant", sagt Wolfgang Frindte von der Friedrich Schiller-Universität Jena. Mit antisemitischen Äußerungen können Jugendliche heute noch Aufmerksamkeit erregen, was ihnen sonst kaum mehr gelingt, weist der Kommunikationspsychologe auf eine "sehr gefährliche" Tendenz hin. Dabei spielt es für die Jugendlichen kaum eine Rolle, wenn sie keinerlei Erfahrungen mit Juden gemacht haben. Sie suchen sich – unabhängig vom Intellekt – die 'passenden' Inhalte. "Und es sind nicht nur die Inhalte", ergänzt Frindte, "es ist auch die Darstellung von Autoritärem, das die Jugend spannend findet".

Dies wird in der jüngst erschienenen, von Wolfgang Frindte herausgegebenen Publikation "Fremde – Freunde – Feindlichkeiten" (Westdeutscher Verlag) prägnant präsentiert. Diese neue Analyse der Fremdenfeindlichkeit, des Rechtsextremismus' und des Antisemitismus' deutscher Jugendlicher ist das Ergebnis einer umfassenden, 1996 bis 1998 in vier Bundesländern (Brandenburg, Bayern, Schleswig-Holstein, Thüringen) durchgeführten Jugendstudie. Im Ergebnis konnten die Psychologen bekannte Daten untermauern: dreißig Prozent der Jugendlichen sind fremdenfeindlich eingestellt, davon ist die Hälfte sogar gewaltbereit. "Es gibt jedoch auch Gewalt ohne Fremdenfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit muss nicht zwangsläufig mit Gewalt einhergehen", differenziert Frindte.

In diesem Problemfeld existieren zwar Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, "aber Fremdenfeindlichkeit ist kein besonderes Problem in den neuen Bundesländern", unterstreicht der Psychologe. Die Gegensätze bestehen in den einzelnen Bundesländern selber. So sind etwa Hauptschüler fremdenfeindlicher als die Jugendlichen an anderen Schultypen, haben die Jenaer ermittelt – darin gibt es keinen Unterschied zwischen Bayern und Thüringen. Aber auch Thüringen selber weist starke Schwankungen zwischen den Regionen auf. Und selbst für einzelne Städte stellten die Psychologen fest, dass in den Vororten die Gewaltbereitschaft höher liegt als in den Innenstädten.

Allerdings reagieren Jugendliche, die sich fremdenfeindlich, antisemitisch und rechtsextrem äußern, damit nicht einfach auf ihre Umwelt. "Sie konstruieren sich vielmehr neue Sichtweisen über scheinbar fremde Wirklichkeiten, und diese Sichtweisen können lebensbedrohend für andere sein", erläutert Frindte.

"Wenn wir alles zusammen betrachten, dann ergibt sich für uns psychologisch betrachtet das Bild von Jugendlichen, die auf der Suche sind, sich gesellschaftlich und persönlich zu verorten, die ihre eigene Geschichte suchen und uns einige der möglichen Geschichten anbieten", fasst Frindte zusammen. Die Repertoires, auf die ihre Geschichten dabei zugreifen, sind historisch (durch eine spezifische deutsche Geschichte, einem besonderen Verhältnis zu den Juden), moralisch (durch spezifische vermittelte Wertorientierungen), politisch (durch Einstellungen zur Politik und Identifikation mit Parteien) oder einfach durch die Gruppe oder Jugendkultur, mit der sich die Jugendlichen identifizieren, mitbestimmt. Zu all diesen Elementen verhalten sich die Jugendlichen. Sie lehnen sie ab oder finden sie anziehend, interessieren sich und bewerten. "Die befragten Schüler machten deutlich, dass sie Erklärungen suchen auf die Fragen danach, warum sie sind, wer sie sind und wer sie werden wollen", so Frindte.

Entgegentreten sollte man den fremdenfeindlichen Tendenzen möglichst früh. "Dabei spielt die Familie eine ganz entscheidende Rolle", sagt Frindte, der für eine politische wie finanzielle Förderung und Stärkung der Familie – in all den unterschiedlichen Ausprägungen – plädiert. Außerdem muss die Schule gestärkt werden, fordert der Psychologe weiter, um Demokratie leben zu können. "Den Jugendlichen geht es darum, dass sie in ihren Aktionskreisen demokratisch handeln können". Gelebte Demokratie hilft gegen Fremdenfeindlichkeit, ist sich der Psychologe sicher. Allerdings muss das einmal begonnene demokratische Einbeziehen der Schüler auch konsequent umgesetzt werden. Wenn die Schüler ihre demokratisch legitimierten Ansätze dann nicht verwirklicht sehen, kann aus dem positiven Ansatz rasch Politikverdrossenheit entstehen – und das wäre kontraproduktiv, warnt Wolfgang Frindte.

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