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Anwerbeabkommen: Warum das Wirtschaftswunder zündete

In den 1950er-Jahren erlebte Westdeutschland einen fabulösen Wirtschaftsaufschwung. Das war nicht zuletzt einer großen Gruppe von Menschen zu verdanken.
Eine Gruppe von Menschen steht in einem Zug und winkt fröhlich in die Kamera. Einige Personen stehen in der offenen Tür, während andere aus dem Fenster schauen. Die Szene wirkt lebhaft und zeigt eine positive Stimmung. Der Zug scheint an einem Bahnhof zu stehen.
Zwischenstopp in Hannover auf dem Weg nach Wolfsburg – italienische Männer sind 1962 mit dem Zug zum Volkswagenwerk unterwegs. Sie waren dort als »Gastarbeiter« angestellt worden.

Das Landesarbeitsamt von Baden-Württemberg veröffentlichte Kochrezepte – für Tomatensoße. Und gab Tipps: Teigwaren solle man nicht zu lange kochen und nicht abschrecken. Den Salat immer mit Essig und Öl anmachen. »Der Italiener« würde es so am liebsten mögen, heißt es in der Pressemitteilung aus dem Jahr 1960.

Die katholische Kirche dachte damals schon weiter und verkündete 1962 »Goldene Regeln für den Umgang mit Gastarbeitern«. Eine Kostprobe: »Der Südländer – der Italiener, der Spanier, der Grieche – weiß sich als Erbe einer großen Kultur und ist stolz darauf. Diesen Stolz sollte man achten und keinen mit einem Spott- oder Schmähnamen, also etwa den Italiener ›Makkaroni‹, nennen.«

Die »Gastarbeiter« waren da. Und Menschen aus Italien machten den Anfang. Vor 70 Jahren, am 20. Dezember 1955, unterzeichneten Bundesarbeitsminister Anton Storch und Italiens Außenminister Gaetano Martino das Anwerbeabkommen in Rom. Bis 1968 folgten weitere: 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien, 1968 mit Jugoslawien. Heute kaum bekannt: 1963 und 1971 wurde man auch mit Südkorea einig. Von dort kamen Tausende Bergarbeiter und Krankenschwestern.

Das Wirtschaftswunderland öffnete seine Tore und lud Menschen aus dem Ausland ein, am Aufschwung mitzuarbeiten. Die Anwerbestaaten waren damals weitgehend Länder, die wirtschaftlich schwächer aufgestellt waren. Politisch gab es teils große Unterschiede: Italien war eine demokratische Republik geworden, Portugal und Spanien hingegen waren Diktaturen. Jugoslawien akzeptierte man nur, weil sich das Land unter der Führung des Autokraten Tito (1892–1980) von der Sowjetunion und dem Ostblock distanziert hatte. Und mit der Türkei kamen Menschen erstmals aus einem außereuropäischen Land.

Insgesamt 14 Millionen sollten zwischen 1955 und 1973 kommen, von denen elf Millionen Deutschland wieder verließen. Genaue Zahlen liegen aber bis heute nicht vor.

Armando Rodrigues de Sá | Am 10. September 1964 wurde der Portugiese am Bahnhof Köln-Deutz als millionster »Gastarbeiter« geehrt. Zum feierlichen Anlass erhielt er ein Moped. Bei solchen Empfängen feierten sich meist die Behörden selbst, die Neuankömmlinge waren Statisten.

Der millionste »Gastarbeiter« saß auf dem Moped

Am 10. September 1964 war es Armando Rodrigues de Sá (1926–1979) aus Portugal, der am Bahnhof Köln-Deutz aus dem Zug stieg und verdattert als millionster »Gastarbeiter« geehrt wurde. Zur Feier des Tages erhielt er ein Moped. Sein inszeniertes Willkommen ist ikonisch geworden für eine gesamte Ära. Das Geschenk, eine Zündapp Sport Combinette, steht heute im Bonner Haus der Geschichte. Die angeblich zweimillionste »Gastarbeiterin« war Vera Rimski aus Jugoslawien. Sie war 19 Jahre alt, als sie am 8. März 1972 am Münchner Hauptbahnhof einen tragbaren Farbfernseher geschenkt bekam. Die beiden waren aber längst nicht die einzigen Geehrten. Anlässe fanden sich genug.

Ein Hoch auf den Dreimillionsten stimmte niemand mehr an. Was hingegen kam: Die Bundesrepublik stoppte die Anwerbung am 23. November 1973. Ölkrise, Rezession und Arbeitslosigkeit beherrschten Politik und Gesellschaft. Aus Sorge, die Lage am Arbeitsmarkt würde sich weiter verschlechtern, setzte Bundesarbeitsminister Walter Arendt (1925–2005) die Vermittlung aus. Wer zum Arbeiten nach Deutschland wollte, erhielt nun keine Erlaubnis mehr.

Im Jahr 1955 war die Lage noch völlig anders: Zehn Jahre nach dem Krieg erlebte Deutschland ein Wirtschaftswunder. In Wolfsburg lief der millionste Käfer vom Band. Das Wirtschaftswachstum betrug traumhafte 12,1 Prozent. Und nahezu alle Menschen, die aus den früheren deutschen Ostgebieten, der sowjetischen Besatzungszone oder der DDR geflüchtet waren, standen in Lohn und Brot. Es gab fast keine Arbeitslosen, dafür Hunderttausende offener Stellen. Das war auch eine Folge des Zweiten Weltkriegs: Viele Männer, die in den Jahren bis 1927 geboren worden waren, waren im Krieg umgekommen. Zudem lag die Geburtenrate von 1939 bis 1945 kriegsbedingt niedrig. Ab 1956 schöpften dann Wehrpflicht und Bundeswehr junge Männer ab.

Es waren solche Faktoren, die zu der Entscheidung führten, Menschen aus dem Ausland zu beschäftigen. Die ersten Ankömmlinge aus Italien kamen als Landarbeiter. Ihre Zahl stieg ab 1961. Als dann mit dem Mauerbau der Zustrom von DDR-Geflüchteten versiegte, schlug endgültig die Stunde der »Gastarbeiter«.

Zuwanderung während des Kaiserreichs

Dass die Bundesrepublik zuerst aus Italien anwarb, war kein Zufall. Schon im Kaiserreich bildeten von dort stammende Arbeitskräfte die zweitgrößte Gruppe an Zuwanderern nach Polen. In der NS-Zeit arbeiteten dann Hunderttausende in Deutschland. Sie waren freiwillig aus Italien gekommen, doch als ihr Heimatland im September 1943 mit den Alliierten einen Waffenstillstand vereinbarte, schickte die NS-Führung sie wie Millionen andere Menschen in die Zwangsarbeit. Ebenso erging es Hunderttausenden italienischen Kriegsgefangenen.

Dank den »Gastarbeitern« konnten viele Deutsche in den Mittelstand aufrücken

1955 war die Vergangenheit kein Thema, untergegangen in der »Stunde Null« von 1945. Anfangs tauchte der Begriff »Fremdarbeiter« auf, der aber mehr und mehr durch »Gastarbeiter« ersetzt wurde. Das sollte freundlicher klingen, machte allerdings auch klar: Von Gästen wird erwartet, dass sie nur vorübergehend bleiben und dort zu Hause sind, wo sie herkommen.

Staatliche Stellen haben den Begriff nie verwendet. Offiziell hießen sie dort »ausländische Arbeitnehmer«. Und als Hauptzweck für ihr Kommen galt die Arbeit. Die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung riet den Neuankömmlingen daher 1963 in einer Broschüre: »Sie haben sich entschlossen, in der Bundesrepublik zu arbeiten. Fleißige Leute sind hier gut angesehen. Die Bundesrepublik entbietet Ihnen, die Sie fleißige Leute sind, ein herzliches Willkommen und versichert Ihnen, dass Sie sich auf unsere Gastfreundschaft verlassen können.«

Unternehmen »bestellten« ihre Arbeiter im Ausland

Doch willkommen waren längst nicht alle. Das Anwerbeabkommen funktionierte so, dass Deutschland selbst entscheiden konnte, wer einreisen sollte und durfte. Die Auswahl trafen in den Anwerbeländern eingerichtete deutsch besetzte Kommissionen. Ihr Job: niemanden hereinlassen, der sich als unnütz erweisen könnte. Amtsärzte warfen einen Blick in die Münder der Bewerber und durchleuchteten ihre Körper mit Röntgenapparaten, auch auf der Suche nach Tuberkulose.

Wie man über die Bewerber dachte, legen die von deutschen Unternehmen eingehenden »Bestellungen« offen. Ein damaliger Vermittler, der Mitte der 1960er in Griechenland tätig war, erinnert sich an einen solchen Auftrag: »Bitte sofort drei Stück Hilfsarbeiter und zwei Stück Transportarbeiter.«

Baracke | Spanische Arbeiter sitzen in ihrer Firmenunterkunft in Gelsenkirchen. Das Bild stammt aus dem Jahr 1973. Meist lebten die zugewanderten Menschen in völlig unzulänglichen Wohnungen.

Hinter der »Gastarbeit« steckte auch Kalkül. Man war auf junge und gesunde Menschen aus, die in die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenkassen einzahlten. Zudem würden sie ihre Beiträge auf lange Zeit entrichten und auch lange Zeit nichts aus dem Rententopf entnehmen. Die »Gastarbeiter« sollten so das »Rentenloch« stopfen, von dem schon damals die Rede war. Überwiegend in Industrie und Großbetrieben beschäftigt und willig, mittels Überstunden und Wechselschichten ranzuklotzen, verdienten sie ihr Geld und zahlten erklecklich Lohnsteuer.

Jung, allein und ungebunden wurden die Zuwanderer zur Verfügungsmasse, die man einsetzte, wo Not am Mann war. Die »Gastarbeiter« standen an den Hochöfen der Stahlindustrie von Rhein und Ruhr, fuhren unter Tage in die Kohlenzechen ein, entsorgten den Müll, schufteten auf Baustellen und riskierten dabei ihre Gesundheit. Weil sie »in der Hierarchie der deutschen Unternehmen ganz unten einstiegen«, wie der Migrationsexperte und Journalist Karl-Heinz Meier-Braun schreibt. Dank ihnen konnten viele Deutsche in den Mittelstand aufrücken und aufgrund verkürzter Arbeitszeit – »da auf einmal genügend Personal da war«, so Meier-Braun – Freizeit und Konsum frönen.

Auslandsüberweisungen als Devisenbringer

Arbeiten und später als gemachte Leute zurückkehren, das wollten viele der Zuwanderer und Zuwanderinnen. Mit dem verdienten Geld planten sie, in der Heimat ein Haus zu bauen oder ein Geschäft zu gründen. Bis es so weit war, erduldeten sie einiges. Sparten und schickten Geld zu ihren Familien. Diese freuten sich vermutlich – ihre Staaten allemal. Im Spanien unter Diktator Francisco Franco (1892–1975) wurden die Landsmänner in der Fremde mit ihren Überweisungen harter Devisen zur zweitwichtigsten Einnahmequelle nach dem Tourismus.

1973 schickten die in Deutschland lebenden Türken – inzwischen die größte Gruppe an Arbeitsmigrantinnen und -migranten – D-Mark in Milliardenhöhe nach Hause. Anfangs glaubte die türkische Regierung, dass die auswärtig Tätigen mit dem erworbenen Wissen als Modernisierer ins Heimatland zurückkommen würden. Es war eine Illusion. Sie zu Facharbeitern auszubilden, hatten die Deutschen nicht im Sinn.

Damals prägte sich in Westdeutschland ein bestimmtes Bild vom »Gastarbeiter«: Die Deutschen holten sich Menschen zum Arbeiten ins Land und bestimmten, wer kommen und wer gehen durfte. Dank der Anwerbeabkommen schien somit alles im Griff zu sein. Zudem seien die »Gastarbeiter« Männer, die arbeiten und bald wieder heim wollten. Sie hätten Frau und Kinder zurückgelassen und kein Bedürfnis nach Integration.

Die Wirklichkeit sah anders aus. Und passte allein schon deshalb nicht zur Vorstellung von »dem Gastarbeiter«, weil Frauen ein Drittel der Arbeitsmigration ausmachten. Die Menschen kamen in erster Linie zum Geldverdienen, aber nicht nur: Viele wollten sich auch von der Bevormundung ihrer patriarchalischen Länder frei machen. Männer wie Frauen verließen Spanien, Portugal und das Griechenland der Militärdiktatur nach 1967 aus politischen Gründen. Selbst wenn es bedeutete, zunächst ohne Erlaubnis einzureisen.

Bloß keine Einbürgerung!

Und zurück wollten auch nicht alle. War der Wunsch nach einer Einbürgerung von Beginn an da, wurde er, wo nur möglich, blockiert. Dafür sollte beispielsweise die Vorgabe sorgen, dass die Menschen mindestens zehn Jahre in Deutschland gelebt haben mussten. Bereits 1962 fürchtete das Staatsministerium in München eine »Überflutung Bayerns mit Ausländern« und eine »Zunahme der Einbürgerungsgesuche«. Um nicht die Kontrolle zu verlieren, überlegte der Landtag gar, wieder die bayerische Staatsangehörigkeit einzuführen, wie die Historikerin Maria Alexopoulou von der TU Berlin und der Universität Mannheim herausfand.

Überhaupt gab es – und gibt es auch heute – nicht das eine Motiv, das Menschen zur Auswanderung bewegte. Alexopoulou schreibt von einer »großen Vielfalt an Migrationsmotiven und Lebenswünschen« hinter dem System »Gastarbeit«. Oder wie es der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911–1991) formulierte: »Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.«

Im Jahr 1955 fuhren bereits 2,3 Millionen Deutsche nach Italien in die Ferien. Gerne besuchte man das Land, wo laut Goethe »die Zitronen blühn«. Doch zu Hause sah man die Italiener weniger gerne: Meinungsforscher fanden 1957 heraus, dass 55 Prozent der Deutschen die Italiener im Land ablehnten. 1963 ist in einem Bericht des baden-württembergischen Landesarbeitsamts von »weithin in allen Bevölkerungsschichten noch bestehenden Vorurteilen« gegenüber den Zugewanderten die Rede.

Der Rassismus in Deutschland erlebte nach 1945 nie eine »Stunde Null«

Der Begriff Mikroaggression trifft das Verhalten der Deutschen gegenüber den Migrantinnen und Migranten wohl am ehesten. Die Ablehnung zeigte sich nur zu deutlich im Sprachgebrauch; man rief Menschen aus Italien mit abfälligen und rassistischen Namen. Ebenso traf es Arbeiter und Arbeiterinnen anderer Nationen. Gewalttätige Anschläge gegen Zugewanderte wie in Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen in den frühen 1990er-Jahren gab es dagegen nicht. Noch herrschte wohl die Einsicht vor, man brauche die »Gastarbeiter«, damit der eigene Wohlstand nicht gefährdet würde. Es war ein Neben-, aber kein Miteinander.

Übervorteilt, erniedrigt, unerwünscht

Der Rassismus in Deutschland erlebte nach 1945 nie eine »Stunde Null«. Alexopoulou hat über die Proteste gegen die Ansiedlung von »Gastarbeitern« im Mannheim der frühen 1960er-Jahre recherchiert, die ihres Erachtens beispielhaft für ganz Westdeutschland sind. In den Kneipenfenstern hingen Schilder: »Italiener unerwünscht«, was damals schon Menschen daran erinnerte, dass es 25 Jahre zuvor Schilder mit ähnlichem Wortlaut gegeben hatte, aber statt Italienern Juden angeprangert worden waren. In den 1960ern wurden Ängste geschürt vor angeblich gefährlichen Italienern, die den Deutschen »fremd« seien, wenn sie in Gruppen umherziehen und ihre eigene Sprache sprechen würden.

Einarbeiten | Eine Näherin aus Spanien wird in einer Bekleidungsfabrik von einer deutschen Kollegin eingewiesen. Das Foto entstand 1960 im schleswig-holsteinischen Ellerau.

Dabei lebten die Menschen oft in sehr einfachen Verhältnissen – in Dachboden- und Kellerräumen, ja sogar in Gartenlauben und Schuppen, in einzelnen Fällen auch in Garagen oder einem Taubenschlag. Übervorteilung und Mietwucher waren an der Tagesordnung. Die Empörung über solche Missstände blieb meist allerdings aus.

»Manche Südländer haben noch keinen rechten Sinn für Sauberkeit und Ordnung. Man sollte sie durch gute Unterkünfte zu diesen Tugenden ermuntern« und mit ihnen »keinen Wucher« treiben, appellieren die eingangs erwähnten »Goldenen Regeln« der katholischen Kirche. »Heute würde man das Verhalten der Deutschen gegenüber den ›Gastarbeitern‹ in weiten Teilen als paternalistisch und überheblich ansehen«, erklärt Eric Seils von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, der zur sozialen Lage der Einwanderer geforscht hat. Alexopoulou geht weiter, sie sagt: »Rassistische Haltungen waren durchgängig vorhanden.« Sie spricht von »offenem Hass«.

Schwankt die Wirtschaft, schwenken die Deutschen nach rechts

In den Jahren von 1964 bis 1968 gelang es der neu gegründeten rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), in sieben westdeutschen Landtagen die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. 1968 erreichte sie in Baden-Württemberg sogar 9,8 Prozent. Bis dahin waren die Menschen hohe jährliche Wachstumsraten der Wirtschaft gewohnt – doch in den Jahren 1966/67 genügte eine kurzzeitige Rezession, um das Vertrauen der Deutschen in die Demokratie zu erschüttern und Zugewanderte zu Sündenböcken zu machen. Erst das bald wieder anziehende Wachstum – 1969 lag es bei 7,5 Prozent – half, sie mit dem System »Gastarbeit« zu versöhnen. Zumindest für geraume Zeit.

Als die Arbeiter und Arbeiterinnen ihre Familien nachholten, wurden statt Baracken richtige Wohnungen gebraucht. Und die gab es nicht, oder sie wurden nicht an Migranten vermietet. Die Kinder der »Gastarbeiter« brauchten Betreuung und Bildung. Ihre Eltern wollten wie die Deutschen Kindergeld für sie haben. Sie machten ihre Rechte geltend.

»1 DM mehr für alle!« | Ende August 1973 bestreikten Tausende Arbeiter, meist türkische Arbeitsmigranten, das Ford-Werk in Köln-Niehl.

»Die Türken kommen – rette sich, wer kann«, titelte »Der Spiegel« am 29. Juli 1973 und schwadronierte: »In immer größeren Schüben schwärmen sie von den Gestaden des Bosporus und aus dem Hochland von Anatolien ein.« Von »Ghettos« ist die Rede und davon, dass die wenigen verbleibenden Deutschen sich nicht mehr sicher fühlten, in Westberlin oder anderen Großstädten.

Der wilde Streik von Köln

In Köln spitzte sich die Lage im Sommer 1973 zu. Im dortigen Ford-Werk arbeiteten Tausende Menschen aus der Türkei. Auf Entlassungen aus ihren Reihen reagierten sie mit Streiks. Italienische, jugoslawische und deutsche Kolleginnen und Kollegen schlossen sich ihnen an, die Montage ruhte, das Werk war besetzt. Die Forderungen: eine Mark mehr, weniger Bandgeschwindigkeit, längere Pausen. Die Polizei beendete den Streik – mit Gewalt und ohne Einigung mit der Werksleitung.

Die »Bild«-Zeitung schrieb dazu: »Gastarbeiter – dieses Wort kommt von Gast. Ein Gast, der sich schlecht beträgt, gehört vor die Tür gesetzt!« Vor die Tür setzen konnte man die inzwischen Millionen zugewanderter Menschen nicht, aber keine neuen mehr hereinlassen, das ging. Der Anwerbestopp war eigentlich schon beschlossene Sache, als das von arabischen Ländern verhängte Ölembargo nach dem Jom-Kippur-Krieg in Israel im Oktober 1973 als Vorwand wie gerufen kam. Der Ölpreis explodierte, die Wirtschaft lahmte – Deutschland äußerte, keinen Bedarf mehr an Arbeitskräften aus dem Ausland zu haben.

Wer bereits angekommen war und Jahre in Westdeutschland gearbeitet hatte, holte nun seine Familie nach. Denn eine Tatsache blieb unverändert: Man hatte Arbeitskräfte gerufen, und Menschen waren gekommen.

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  • Quellen

Alexopoulou, M., Deutschland und die Migration, 2020

Gutiérrez Koester, I., Estudios filológicos alemanes 22, 2011

Höhne, J. et al., Die Gastarbeiter. Geschichte und aktuelle soziale Lage, WSI Report 16, 2014

Huneke, D. (Hg.), Ziemlich deutsch, 2013

Hunn, K., Archiv für Sozialgeschichte 42, 2002

Sala, R., Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1, 2007

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