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Kernwaffentests: Arbeitslose Atomspäher

Ursprünglich sollte das "International Monitoring System" nur Atomwaffentests detektieren. Doch es kann noch viel mehr - etwa vor Tsunamis warnen und Meteoritenabstürze eingrenzen.
Oberirdischer Atomwaffentest

Es ist ein bisschen, als würde man mit Atombomben auf Spatzen schießen: 294 Messstationen rund um den Globus achten derzeit peinlich genau darauf, dass der internationale Vertrag zum Verbot von Kernwaffentests eingehalten wird. Sie fahnden 24 Stunden am Tag nach verräterischen Signalen – sieben Tage die Woche, im Wasser, im Boden, in der Luft und mit unterschiedlichen Sensoren für Seismik, Infraschall, Hydroakustik und Radionuklide. Am Ende des Ausbaus sollen es sogar 337 Stationen sein.

Sie haben allerdings kaum etwas zu tun: Die großen Atomstaaten zeigen momentan keinerlei Regungen, ihre eingestellten Tests wieder aufzunehmen. Und der einzige Emporkömmling im Klub der Kernwaffenmächte kümmert sich nicht um das Kontrollnetz und seine vermeintlich abschreckende Wirkung: Gerade erst hat Nordkorea erneut eine unterirdische Atombombe gezündet – zum dritten Mal seit 2006. Es waren die drei einzigen Tests in diesem Jahrhundert.

Atomwaffentest | Oberirdische Atomwaffentests wie hier "Ivy Mike" im Jahr 1952 werden zum Glück schon seit Jahrzehnten nicht mehr durchgeführt. Und auch unterirdische Tests sind durch ein Moratorium der wichtigsten Atommächte weit gehend ausgesetzt. Im 21. Jahrhundert hat bislang nur Nordkorea dreimal Nuklearbomben unterirdisch gezündet.

Kaum Explosionen, kaum Arbeit: Das "International Monitoring System" (IMS), wie das weltweite Netzwerk zur Überwachung des Kernwaffenteststopps heißt, steckt in einer Legitimationskrise. Geschätzte 100 Millionen Dollar geben die 183 Staaten, die den Vertrag bislang unterschrieben haben, jährlich für dessen Kontrolle aus – verbunden mit hohen Erwartungen. Eine Messung alle drei Jahre kann die Ansprüche nicht wirklich erfüllen.

Neue Aufgaben gesucht

"Wir müssen relevant bleiben", fordert daher Lassina Zerbo, Direktor des IMS-Datenzentrums, beim Jahrestreffen des US-Wissenschaftsverbands AAAS vergangenen Monat in Boston. "Und um relevant zu bleiben, müssen wir über wissenschaftliche Anwendungen nachdenken." Zerbos Idee: Das Netzwerk mit seinen seismischen Messstationen, seinen Horchposten und seinen Fühlern für Radioaktivität soll sich der Forschung öffnen. Es soll die Umwelt überwachen, vor Naturkatastrophen warnen, zum Verständnis der Erde beitragen. Doch nicht alle Vertragsparteien sind davon begeistert – hauptsächlich aus politischen Gründen.

Dass das Netzwerk einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag leisten könnte, daran zweifelt kaum jemand. Gleich zweimal hat es in den vergangenen Wochen seine Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt: Als Nordkorea am 12. Februar die dritte Atombombe zündete, erfuhren die Mitgliedsstaaten des "Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty" (CTBT) innerhalb einer Stunde von der Explosion – noch bevor Pjöngjang selbst mit dem Test prahlen konnte. In 94 Stationen des IMS-Netzwerks hatten Seismografen ausgeschlagen. Zudem vernahmen zwei Infraschallsensoren die Druckwelle der Explosion. Die hochempfindlichen Messgeräte suchen nach Schwankungen in der Erdatmosphäre, die mit weniger als zehn Hertz weit unterhalb der menschlichen Hörschwelle liegen.

Auf Basis dieser ersten Daten konnten die IMS-Spezialisten den Ort der Detonation mit einer Genauigkeit von acht Kilometern angeben. "Durch weitere Analysen sollten wir sogar auf einige hundert Meter an den Punkt der Detonation herankommen", sagt Raymond Jeanloz von der University of California in Berkeley. Auf der Tagung in Boston präsentiert der Geologe eine vorläufige Untersuchung norwegischer Seismologen, die die Wellen des aktuellen Tests zu ihrem Ursprung zurückverfolgt haben. Jeanloz überlagert die Daten mit einem Satellitenbild des Versuchsgeländes im hügeligen Nordosten des Landes: Der errechnete Ort stimmt beinahe perfekt mit dem Südportal des Atomkomplexes überein, dem vermutlichen Ort des Tests.

Punktgenaue Ortung von Detonationen

Vor sieben Jahren, bei der ersten nordkoreanischen Atombombe, sah das noch ganz anders aus. Damals waren 22 IMS-Stationen an der Auswertung beteiligt, sie konnten den Ort der Detonation lediglich auf ein Gebiet von 880 Quadratkilometern einkreisen. Drei Jahre später, 2009, waren es schon 61 Messstationen, das vermutliche Areal schrumpfte auf 265 Quadratkilometer. Nun also fast eine Punktlandung. "Es ist schon verblüffend, dass wir heute einen Testort am anderen Ende der Welt auf weniger als 1000 Meter genau ermitteln können", sagt Jeanloz. Verantwortlich dafür sind nicht nur zusätzliche Stationen, sondern auch ein genauerer wissenschaftlicher Ansatz: Unter anderem haben die IMS-Forscher in den vergangenen Jahren das seismische Hintergrundrauschen in der Erdkruste studiert und daraus errechnet, wie schnell sich Erschütterungen in unterschiedlichen Regionen des Globus ausbreiten. Die Daten sind in verbesserte Analysemodelle eingeflossen.

Auch drei Tage nach dem nordkoreanischen Test, am 15. Februar, war das IMS zur Stelle: Nicht einmal eine Minute nachdem über der russischen Stadt Tscheljabinsk ein Meteor explodiert war, registrieren Seismografen im 140 Kilometer entfernten Städtchen Arti ein verräterisches Beben des Bodens. In der kasachischen Messstation Borovoe kamen die Erschütterungen wenig später an. Auch 17 Infraschallsensoren fingen rund um den Globus die Druckwelle der Explosion auf. Selbst in der Antarktis, 15 000 Kilometer von Tscheljabinsk entfernt, blieben die tiefen Töne nicht unentdeckt. Es waren die stärksten Infraschallsignale, die vom IMS jemals empfangen wurden.

Den Experten wurde dennoch schnell klar, dass sie es nicht mit einer stationären Atomexplosion zu tun hatten. "Wir konnten erkennen, wie sich die Richtung der Signale änderte, während der Meteor mit Überschallgeschwindigkeit Richtung Erde raste", berichtet Pierrick Mialle, Akustiker bei der CTBT-Organisation in Wien. Also kein Grund zur Besorgnis.

"Da viele Menschen den Boliden von Tscheljabinsk gesehen haben, kann man natürlich fragen, ob es diese Entwarnung überhaupt gebraucht hätte", sagt Raymond Jeanloz. Was aber wäre passiert, fragt der Forscher in Boston, wenn der Meteorit fernab der Zivilisation heruntergekommen wäre? Was, wenn sich das Gerücht verbreitet hätte, im Ural – weniger als 100 Kilometer von den russischen Atombunkern entfernt – wäre eine Bombe getestet worden? Und was, wenn sich die Russen angegriffen gefühlt hätten? Für Raymond Jeanloz, der auch das Komitee für Rüstungskontrolle der amerikanischen Akademie der Wissenschaften leitet, ist die Antwort klar: Die Welt braucht das IMS – zur Rüstungskontrolle, zur Aufklärung unbekannter Detonationen, aber auch für die Wissenschaft.

Frühwarnsystem für mörderische Tsunamis?

Dass die aktuellen Messwerte Forschern helfen, mehr über Bahn, Auseinanderbrechen und Sprengkraft des russischen Meteors zu erfahren, ist allerdings eher Zufall. Noch schottet sich das Netzwerk gegen eine konsequente Nutzung jenseits der Atomtests ab. Eine der wenigen Ausnahmen sind Tsunamiwarnungen: Nach der Katastrophe von Sumatra Ende 2004 mussten die IMS-Experten erkennen, dass ihre Messdaten eine rechtzeitige Evakuierung möglich gemacht hätten. Viele Menschen könnten noch leben. Seitdem sind fast 40 Stationen offiziell in regionale Tsunamiwarnsysteme integriert.

Geophysiker wären gerne auch schon so weit. Zwar ist das IMS nicht das einzige seismische Netzwerk auf dem Globus, seine bis zu 170 hochempfindlichen Messstationen füllen aber wichtige Lücken: Um das Innere der Erde zu vermessen, sind Forscher auf seismische Wellen angewiesen, die den Erdkern durchqueren oder von ihm reflektiert werden. "Leider sind die Quellen dieser Erdbebenwellen sehr ungleich verteilt, sie beschränken sich auf die Plattengrenzen", sagt Miaki Ishii, Geowissenschaftlerin an der Harvard University im amerikanischen Cambridge. "Erst ein ausreichend großes Netzwerk erlaubt uns, immer die passende Empfangsstation auszuwählen."

Das Infraschallnetzwerk des IMS ist sogar das einzige seiner Art. Neben Atomexplosionen und Meteoren könnte es, so Jeanloz, Vulkanausbrüche, Sturmsysteme und Raketenstarts untersuchen. Die weltweiten Unterwassermikrofone, die ebenfalls zum IMS gehören, könnten die Wanderung von Walen verfolgen oder Schiffe vor Eisbergen warnen, die vom Schelfeis abgebrochen sind. Und das globale Strahlungsnetzwerk saugt nicht nur radioaktive Nuklide aus der Luft, sondern auch Staub, Schadstoffe und Mikroorganismen. All das könnte ausgewertet werden. "Im Grunde bräuchten wir nicht nur ein paar Dutzend Sensoren in der Atmosphäre, sondern ein paar tausend", sagt Raymond Jeanloz. "Das würde auch mehr Akteure ins Boot holen und die Transparenz unter den Staaten stärken."

Doch genau hier liegt das Problem: Der Teststoppvertrag ist ein politisch äußerst fragiles Gebilde. Noch immer haben ihn nicht alle Mitgliedsländer ratifiziert; offiziell ist der CTBT somit gar nicht in Kraft. Zudem beruht die Teilnahme am Vertrag für viele Nationen auf der Abwägung, möglichst viel über bedrohliche Vorgänge in anderen Staaten zu erfahren und dabei möglichst wenig über das eigene Land preiszugeben. Wenn über das IMS nun plötzlich Messdaten zum Klimaschutz, zum Walfang oder zur Staubbelastung verbreitet werden, könnte das vielen eher verschwiegenen Regierungen nicht gefallen.

"Der Vertrag arbeitet bislang unter einem sehr strengen Regelwerk, das dem IMS spezifische Aufgaben zuweist", sagt Jeanloz. Daher sei viel Fingerspitzengefühl, viel Überzeugungsarbeit nötig: "Es darf keinesfalls die Befürchtung aufkommen, dass das Netzwerk durch die wissenschaftliche Arbeit missbraucht oder in seiner eigentlichen Aufgabe beeinträchtigt wird." Letztlich wird dem IMS aber gar nichts anderes übrig bleiben, als den wissenschaftlichen Weg zu beschreiten. Schon heute, klagte Jeanloz in Boston, sei es problematisch, die Mitarbeiter zu motivieren und bei der Stange zu halten: "Selbst mit den besten Absichten aller beteiligten Parteien lässt sich ein System wie das IMS kaum aufrechterhalten, wenn es partout nichts zu messen gibt."

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