Ariane 6: Neue Rakete, alte Probleme
Am Ende hat es »Puff« gemacht – und trotzdem waren alle glücklich: Das Starship, der neuartige Prototyp der US-Raketenschmiede SpaceX, explodierte im Dezember in einem Feuerball. Das silbrig glänzende Ungetüm war zuvor auf etwa zwölf Kilometer Höhe geklettert und kontrolliert zur Erde zurückgestürzt. Kurz über dem Boden bremste es, richtete sich auf und wollte – auf dem Abgasstrahl tänzelnd – wieder landen. Letztlich fehlte dafür die Kraft, die letzten Meter krachte das Starship ungebremst auf das Landefeld. Die Reaktionen waren dennoch euphorisch: »Großartiger Test«, verkündete SpaceX gegen Ende der Live-Übertragung, »Glückwunsch ans Starship-Team!«
Testen, scheitern, lernen. Und es erneut versuchen. Es ist die Art und Weise, wie SpaceX seine Raketen entwickelt. So entsteht vor den Augen der Öffentlichkeit ein Gefährt, das alsbald billige Flüge zum Mond und sogar zum Mars möglich machen könnte, so zumindest das Versprechen. Niemand weiß, ob das wirklich klappen wird, aber einen Versuch ist es wert. Rückschläge inklusive.
Bürokratisch, träge, risikoscheu
In Europa hingegen hat im Dezember nichts »Puff« gemacht, weder kontrolliert noch unkontrolliert. Dabei hätte rund um Weihnachten eigentlich Europas neue Rakete, die Ariane 6, zu ihrem Erstflug abheben sollen. Doch statt eines stolzen Starts in den Himmel über Französisch-Guayana bekamen Europas Raumfahrtverantwortliche im Dezember bloß eine neue Rechnung zu sehen, über zusätzliche 231 Millionen Euro. Dazu: ein neues Startdatum. Nun soll es im zweiten Quartal 2022 losgehen. Frühestens.
Die Ariane 6, einst Europas Hoffnungsträgerin, ist zu einem Problemfall geworden. Sie steht für eine Raumfahrt – bürokratisch, träge, risikoscheu –, die von politischen Entscheidungen dominiert wird und nicht von Wettbewerb oder Innovation. Das hat Folgen: Während SpaceX und andere private Unternehmen das Tempo vorgeben und die Branche umkrempeln, droht Europa den Anschluss zu verlieren. Lediglich ein paar Start-ups könnten das noch ändern.
Dabei sah alles so schön aus – auf dem Papier: Im Jahr 2014 beschloss der Ministerrat der ESA, Entwicklung und Bau einer neuen Rakete in Auftrag zu geben. Das bisherige Arbeitspferd der Europäischen Weltraumorganisation, die Ariane 5, war in die Jahre gekommen. Vor allem aber war sie zu groß geworden für die unablässig geschrumpften Satelliten.
Flexibler sollte die Nachfolgerin werden, kleiner und günstiger. Vor großen technischen Neuerungen schreckten die Minister jedoch zurück, prinzipielle Änderungen waren allenfalls für die Produktion geplant. Weitgehend automatisiert sollte diese ablaufen, mit neuen Materialien und angelehnt an den Automobilbau. Die Baukosten sollten dadurch, verglichen mit dem Vorgängermodell, um 40 Prozent sinken.
12 story rocket turns off its engines & does a controlled fall https://t.co/HCRgyx42rn
— Elon Musk (@elonmusk) December 24, 2020
Nach langen Diskussionen krempelten die Auftraggeber auch die Finanzierung um. Waren Europas Raumfahrtprojekte bislang lukrative Geschäfte, bei denen Unternehmen für jede zusätzliche Schraube und jede Stunde Mehrarbeit vom Staat entlohnt wurden, erklärte sich die Industrie nun erstmals bereit, mit 400 Millionen Euro aus eigener Tasche einzusteigen. Zudem sollte sie Prämien erhalten für einen Start bis Ende 2020.
Spätestens Mitte 2020 war klar, dass dieser Termin nicht zu halten sein würde – wegen Corona, aber auch wegen technischer Probleme an der Rakete und an der Startrampe. Unter anderem die Versorgungsarme stellen Ingenieure vor Herausforderungen. Über sie wird die Rakete mit frostig kaltem Treibstoff versorgt, und erst im Moment des Starts sollen sie weggezogen werden. »Da sind wir noch immer nicht ganz durch den Tunnel und müssen noch ein paar Meilensteine erreichen«, sagt Daniel Neuenschwander, Direktor für Raumtransportsysteme bei der ESA.
Höhere Kosten, keine Prämien
Auf 231 Millionen Euro beziffert die ESA die Mehrkosten, die mittlerweile angefallen sind. Immerhin 218 Millionen Euro wollen die Mitgliedsstaaten nachschießen, allen voran Frankreich und Deutschland, teilweise auf Kosten von Programmen, mit denen die europäischen Raketen eigentlich weiterentwickelt werden sollten. Gezahlt werde jedoch nur, was von den Raumfahrtunternehmen nachgewiesen und von der ESA überprüft werden könne, betont Neuenschwander: »Wir brauchen hier absolute Transparenz bei der Industrie«, sagt der ESA-Direktor, »das wird auch eine Vertragsklausel werden.« Sprich: Geld soll es nur für tatsächlich anfallende Zusatzkosten geben, nicht für Fantasieausgaben. Zudem seien die in Aussicht gestellten Prämien für einen Starttermin Ende 2020 nun vom Tisch.
Teuer wird es trotzdem: Drei Milliarden Euro hätte die Ariane 6 ursprünglich kosten sollen. Nun, mit dem neuesten Nachschlag und weiteren Entwicklungskosten, liegen die Ausgaben bei knapp vier Milliarden Euro. Für den Preis hätte die ESA bei SpaceX auch 80 Starts mit nagelneuen Falcon-9-Raketen ordern können. Mengenrabatt nicht berücksichtigt.
Doch darum geht es nicht. Es geht um Politik. Und um Strategie. »Oberstes Ziel ist ein unabhängiger europäischer Zugang zum All«, sagt Daniel Neuenschwander. »Es geht um unsere Handlungsfähigkeit.« Und die darf gerne etwas kosten.
Aber auch Wirtschaftsförderung und Arbeitsplätze spielen eine Rolle: Nach langen Diskussionen einigten sich die Raumfahrtminister 2014 auf einen typisch europäischen Kompromiss beim Antrieb der Ariane 6. Er ist zweigeteilt, mit einem zentralen Wasserstoff-Triebwerk, einer deutschen Spezialität, und wahlweise zwei oder vier seitlichen Feststoffraketen, bei denen die französische und italienische Industrie führend ist.
Das macht die Ariane 6 einerseits flexibler, vor allem aber macht es sie komplexer und teurer. Hinzu kommt, dass bei der ESA jedes Mitgliedsland Industrieaufträge zu genau jenem prozentualen Anteil erhält, mit dem es sich an einem Projekt beteiligt. Deshalb wird die Ariane 6 von mehr als 600 Unternehmen in 13 Ländern gebaut, die alle mitreden wollen und alle koordiniert werden müssen.
SpaceX hingegen fertigt seine Raketen fast komplett selbst. Angetrieben werden die Mitarbeiter von ihrem mitunter übereifrigen Firmenchef Elon Musk, der schnelle und klare Entscheidungen liebt. Wenig verwunderlich, dass SpaceX für die Entwicklung seiner Falcon 9 nur 400 Millionen Dollar an direkter staatlicher Unterstützung abgerufen hat, während für die Ariane 6 das Zehnfache fließen soll.
Ein weiterer Faktor: Die Kosten, um eine Tonne Nutzlast in den Weltraum zu bringen, werden selbst bei der verbesserten Ariane 6 fast doppelt so hoch liegen wie bei der Falcon 9, so eine Analyse der Europäischen Investitionsbank. Das künftige Starship von SpaceX, sollte es eines Tages bis in der Erdorbit und zurück fliegen, wird die Kosten nochmals deutlich drücken. Entsprechend mau ist bislang die Nachfrage kommerzieller Kunden nach Starts mit der verspäteten Ariane 6.
Eine europäische Satellitenkonstellation?
Europa versucht, dies mit staatlichen Aufträgen auszugleichen. Unter anderem hat die EU-Kommission insgesamt sechs Flüge für das europäische Navigationssystem Galileo gebucht. Das reicht allerdings bei Weitem nicht, um die elf Starts pro Jahr zu erreichen, auf denen die Ariane-6-Kalkulation der Industrie beruht. Offenbar werden bereits Szenarien mit einer deutlich geringeren Zahl an Flügen durchgespielt. Weniger Starts bei weitgehend unveränderten Fixkosten dürften aber noch mehr staatliche Zuschüsse nötig machen.
Bislang spricht das niemand der Verantwortlichen so klar aus. Stattdessen überlegt die EU-Kommission, ob sie nicht eine europäische Satellitenkonstellation für Internetkommunikation ins Leben rufen sollte – was der Ariane 6 wohl viele zusätzliche Raketenstarts bescheren dürfte. Allerdings wäre es der Versuch, staatliche Investitionen in eine Rakete mit noch mehr staatlichen Investitionen zu retten, die man noch dazu fragwürdig finden kann. Und das in einer Raumfahrtwelt, die immer mehr vom Wettbewerb geprägt wird.
Nicht nur in diesem Punkt wirkt Europas Raumfahrtpolitik ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Mitte Dezember kündigte die ESA an, eine wiederverwendbare Raketenstufe entwickeln zu wollen – mit einem ersten umfassenden Flug im Jahr 2025. Zum Vergleich: SpaceX hat seine Raketenstufen bereits 70-mal erfolgreich gelandet und verwendet sie regelmäßig wieder. Neben der schnellen, riskanten Teststrategie und der schlanken Organisation ist genau das eines der großen Erfolgsrezepte des kalifornischen Unternehmens.
ESA-Direktor Neuenschwander betont daher, dass Themis, so der Name der europäischen Raketenstufe, nicht mehr sein soll als ein Technologiedemonstrator, dotiert mit lediglich 33 Millionen Euro. Es gehe darum, Daten zu sammeln, zu technischen Fähigkeiten, aber auch zu wirtschaftlichen Aspekten. »Wir wissen, dass Wiederverwendbarkeit durchaus Sinn macht, aber vor allem bei einer hohen Frequenz an Raketenstarts pro Jahr«, sagt Neuenschwander.
Konkurrenz durch deutsche Start-ups
Ob die Wiederverwendbarkeit – mehr als ein Jahrzehnt nach SpaceX und angesichts einer absehbar niedrigen Nachfrage – auch eine Option für Europa sein könnte, müssen letztlich die Minister entscheiden. »Es geht um eine strategische Weichenstellung«, sagt Neuenschwander. »Unsere Aufgabe als ESA ist es, dazu möglichst viele Daten zu sammeln und den Entscheidungsträgern entsprechende Optionen vorzulegen.«
Im Kleinen tut sich bereits etwas. Ende 2019 beschlossen die ESA-Minister, ein neuartiges Förderprogramm für Mini-Raketen einzurichten. Mit einer Nutzlast von bis zu einer Tonne liegen diese so genannten Microlauncher zwar weit unter der Ariane 6, die fast 22 Tonnen in eine Erdumlaufbahn wuchten kann. Sie könnten jedoch gut geeignet sein für die geplanten Konstellationen aus vielen kleinen Satelliten. Das Besondere: Anstatt, wie bei der Ariane, die Entwicklung aus staatlichen Mitteln zu bezahlen und der Industrie das Risiko weitgehend abzunehmen, soll es bei den Microlaunchern nur eine Finanzspritze geben – knapp 30 Millionen Euro für bis zu drei Unternehmen. Den Rest soll der Markt regeln.
Offenbar klappt das ganz gut. Das Münchner Start-up Isar Aerospace, neben HyImpulse aus dem württembergischen Neuenstadt am Kocher und der Rocket Factory Augsburg eines der drei konkurrierenden Unternehmen, hat nach eigenen Angaben bereits hundert Millionen Euro Wagniskapital eingetrieben. »Das bedeutet, der Steuerzahler trägt gerade einmal zehn Prozent des Risikos«, sagt Deutschlands Raumfahrtkoordinator Thomas Jarzombek, einer der Köpfe hinter der Microlauncher-Initiative. »Das ist eine völlig andere Herangehensweise als bei der Ariane.« Und es ist ein anderes Tempo: Bereits Ende 2021 will Isar Aerospace, das sich selbst bereits als »europäisches SpaceX« sieht, eine erste Rakete starten.
Der Erfolg scheint dabei aber alles andere als garantiert, und ganz vorne dabei ist Europa wieder nicht: Das US-amerikanische Start-up Rocket Labs schickt seine Mini-Raketen mit nur 150 Kilogramm Nutzlast seit 2018 ins All. Und das kalifornische Unternehmen Astra hat Mitte Dezember bei einem Testflug die Erdumlaufbahn nur knapp verpasst. Drei Monate zuvor hatte Astra allerdings auch gezeigt, dass Starts neuer Raketen keine Selbstläufer sind. Nur 30 Sekunden nach dem Abheben trat Astras Prototyp – ungeplant – den Rückflug zur Erde an. Risiko und hohe Geschwindigkeit haben manchmal eben auch ihren Preis.
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