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Arktisches Meereis: Der Tag, an dem das Eis verschwindet

Es ist die erste fundamentale Veränderung der Erde durch den Klimawandel: Schon bald wird das Polarmeer erstmals frei von Meereis sein. Möglicherweise bereits in fünf Jahren. Doch tatsächlich ist die Frage nach dem genauen Zeitpunkt komplex.
Eine Eisscholle schwimmt in einem tiefblauen Ozean. Es war tatsächlich fast die einzige einzelne Eisscholle in der Datenbank ohne vorwurfsvoll guckenden Eisbären drauf.
Schon bald wird der Arktische Ozean im Spätsommer über längere Zeiträume komplett eisfrei sein. Es ist die erste wirklich fundamentale Veränderung im Erdsystem durch den Klimawandel.

Einst war das Eis der Arktis sprichwörtlich ewig. Im kalten Winter überspannte ein Eispanzer den gesamten Ozean, und selbst im Sommer war das Meer für Schiffe unpassierbar. Noch Mitte der 1990er Jahre bedeckte das schwimmende Eis auch im Hochsommer eine Fläche, die etwa so groß war wie Australien. Doch das ist vorbei. Noch nie war am Ende des Winters so wenig Eis auf dem Nordpolarmeer wie 2025. Und bald wird es ganz verschwunden sein. Schon vor 2030, berechneten die Forscherinnen Céline Heuzé und Alexandra Jahn vor einigen Monaten in einer Veröffentlichung, könnte der Ozean erstmals an einzelnen Spätsommertagen eisfrei sein. Doch wann genau ist dieser Tag X?

Einerseits hat das genaue Datum keine besondere Bedeutung. Für die Konsequenzen des immer mehr verschwindenden Meereises, sei es im Hinblick auf verändertes Wetter auf der Nordhalbkugel oder die neuen Schifffahrtsrouten in der Arktis, sind lange eisfreie Perioden viel entscheidender. Klimamodelle deuten darauf hin, dass irgendwann Mitte des 21. Jahrhunderts der gesamte Arktische Ozean im Spätsommer eisfrei sein wird. Andererseits hat der erste eisfreie Tag eine enorme symbolische Bedeutung, denn im hohen Norden spielt sich die erste fundamentale Veränderung des Erdsystems durch den Klimawandel ab.

»Sie markiert den Übergang von einem Ozean, der zumindest in Teilen das ganze Jahr über von Eis bedeckt ist, zu einem nur noch saisonal vereisten Meer«, erklärt Helge Gößling vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. »Das hat große Auswirkungen auf die Bedingungen vor Ort, die Biologie des Arktischen Ozeans und alles, was da mit dranhängt. Die Arktis ist ja keineswegs isoliert.«

Wenn das Eis auf dem Meer verschwindet, wärmt der Ozean die Luft stärker und es verdunstet mehr Wasser. Dadurch nimmt der Energieunterschied zwischen der Arktis und den Tropen ab, der das Wetter der mittleren Breiten antreibt. Es gilt als wahrscheinlich, dass dadurch der Jetstream größere Wellen schlägt und das Risiko für Hitzewellen und Kaltlufteinbrüche sowie wochenlang blockierte Wetterlagen steigt. Bisher ist es schwierig, solche großflächigen Effekte präzise vorherzusagen. Doch sicher ist, dass der Übergang zu einem saisonal eisfreien Ozean eine ganze Kaskade von Effekten in Gang setzt, die sich durch das globale Klima ziehen.

Die magische eine Million Quadratkilometer

»Eisfrei« ist allerdings relativ. An den Küsten Sibiriens oder in den Kanälen des kanadisch-arktischen Archipels werden sich Teile des Meereises noch sehr lange auch im Sommer halten. Dann spielen sie jedoch keine Rolle mehr für den Ozean. Um dem Rechnung zu tragen, setzt man die Grenze, ab der das Nordpolarmeer quasi funktional eisfrei ist, bei einer Million Quadratkilometer Resteis an. Das ist die dreifache Fläche Deutschlands, macht aber nur rund sieben Prozent der Gesamtfläche des Arktischen Ozeans aus. Zu wenig, um die Wechselwirkung zwischen Ozean und Atmosphäre noch zu beeinflussen.

Klimamodelle tun sich schwer damit vorherzusagen, wann diese symbolische Schwelle erreicht sein wird. Das liegt unter anderem daran, dass die Eisbedeckung des Ozeans außerordentlich variabel ist. In der Polarnacht wächst die Fläche des Meereises auf über 14 Millionen Quadratkilometer an, eine gigantische Menge gefrorenen Wassers, deren Schmelzen in den folgenden Monaten nicht nur vom allgemeinen Erwärmungstrend abhängt, sondern auch vom Wetter.

So rätseln Fachleute, welche Rolle sporadische Warmlufteinbrüche spielen, wie eben im Februar 2025. Ein Strom warmer Luft von Süden, den ein Tiefdruckgebiet über Island wie ein Schaufelrad Richtung Nordozean drückte, ließ die Temperaturen in der Hocharktis um rund 20 Grad steigen. Nahe dem Nordpol stieg die Temperatur über den Gefrierpunkt. In der Finsternis des tiefen Winters begann die Eisdecke, die sich jeden Winter während der Polarnacht über den Nordozean ausbreitet, zu schmelzen. Nachdem das Meereis schon im Januar so wenig Fläche bedeckt hatte wie nie zuvor in einem Januar, blieb die Eisausdehnung nun beinahe eine halbe Million Quadratkilometer hinter dem zuvor niedrigsten Stand zurück. Auch im März erholte sich das Meereis kaum und blieb kleiner als je zuvor seit Beginn der Messungen. Schlechte Vorzeichen für den Eiszustand im kommenden Sommer.

Wann das Meereis schmilzt – und warum

Die Beziehung zwischen solchen winterlichen Schmelzereignissen und der verbleibenden Eisausdehnung im Sommer ist jedoch komplex. Klar ist: Je weniger Eis den Sommer übersteht, desto mehr dünnes, einjähriges Eis bedeckt den Ozean. Und das schmilzt in solchen warmen Phasen viel leichter als mehrjähriges Eis. Dadurch reduzieren solche Warmphasen die winterliche Eisdecke viel deutlicher als früher. Umgekehrt hat die Eisdecke im Winter und im Frühjahr Auswirkungen auf das Meereisminimum im September.

Langfristiger Eisverlust | Mitte März erreicht die Fläche des arktischen Meereises ihr jährliches Maximum. Deutlich zu erkennen ist hier eine massive Eisschmelze im Februar 2025, als warme Luft aus dem Atlantikraum die Temperatur nahe dem Nordpol über den Gefrierpunkt steigen ließ.

Eine wichtige offene Frage ist, welche Rolle »rapid ice loss events« (RILEs, schnelle Eisverlust-Ereignisse), bei denen das Eis mehrere Jahre in Folge stark abnimmt, für den langfristigen Rückgang der Eisdecke spielen. Ein solches Ereignis im Zeitraum von 2007 bis 2012 war 2012 für die bisher kleinste Meereisfläche verantwortlich, die je beobachtet wurde. Klimasimulationen legen nahe, dass solche mehrjährigen Perioden ungewöhnlich starker Eisschmelze ein wichtiger Teil des langfristigen arktischen Eisverlustes sind. Doch ob sie den Eisverlust antreiben oder einfach ein erwartbares statistisches Phänomen sind, weiß man bisher nicht.

Mit Sicherheit spielen sie aber für das Datum des ersten eisfreien Tages eine entscheidende Rolle. In den Simulationen von Céline Heuzé von der Universität Göteborg und Alexandra Jahn von der University of Boulder Colorado, laut denen eisfreie Tage schon vor 2030 möglich sind, erweisen sich solche Schmelzphasen als entscheidend. Nur neun der insgesamt 366 Simulationsläufe erreichten ausgehend vom Eiszustand des Jahres 2023 einen eisfreien Tag vor 2030. Sie alle benötigten eine anhaltende Phase schnellen Eisverlusts, und der erste eisfreie Tag trat während eines RILE auf.

Das wirft die Frage auf, ob RILEs einen erkennbaren Auslöser haben; möglich wäre, dass mehrere kurzfristige Schmelzereignisse binnen einem oder zwei Jahren den Startschuss geben. Demnach könnten sie eine Serie von Rückkopplungen in Gang setzen, durch die sich der Eisverlust für eine Weile deutlich beschleunigt. Der mutmaßlich wichtigste Faktor bei solchen kurzfristigen Schmelzereignissen sind laut statistischen Analysen Warmlufteinbrüche wie im Februar 2025.

Alles nur zufällige Schwankungen?

Neben Warmlufteinbrüchen spielen Tiefdruckgebiete eine Rolle: Stürme, die in die Arktis ziehen und neben Niederschlägen starke Winde mit sich bringen. Die wühlen das Meer auf und zerschlagen das schwimmende Eis, so dass es leichter schmilzt. Außerdem durchmischen sie die sehr kalte Wasserschicht an der Meeresoberfläche mit wärmerem Wasser aus der Tiefe, wodurch die Temperatur an der Oberfläche steigt.

Beide Effekte bedrohen vor allem dünnes, junges Eis. Je weniger altes, dickes Eis noch übrig ist, desto wichtiger werden solche Auswirkungen und desto größer sind die dadurch ausgelösten Schwankungen. Im Februar 2025 vermutete ein Team um Steven M. Cavallo von der University of Oklahoma, dass von Tiefdruckgebieten getriebene Eisverluste in aufeinanderfolgenden Jahren zu einem dauerhaften Eisverlust führen und so nicht nur den langfristigen Rückgang des arktischen Meereises beschleunigen könnten, sondern auch die Zeit bis zum ersten eisfreien Tag X verkürzen.

Gößling allerdings warnt davor, RILEs überzuinterpretieren. »Der Hauptschuldige für solche Episoden sind die natürlichen Schwankungen auf verschiedenen Zeitskalen, zumindest bis man irgendwie das Gegenteil beweist«, sagt der Forscher. »Ich wüsste jetzt nicht, wie man begründen sollte, dass mehr dahintersteckt als die natürlichen Schwankungen.« Trotz der Rückkopplungen zwischen Eis und Erwärmung leitet ein starker Eisverlust keineswegs eine unaufhaltsame Abwärtsspirale ein. Das demonstriert schon die enorme Schwankungsbreite, die der stetig abnehmenden Meereiskurve überlagert ist. Kühle Phasen können jederzeit zu besonders starker Eiszunahme im Herbst oder geringer Eisschmelze im Frühjahr führen, die Verluste aus den Vorjahren wieder wettmachen. Umgekehrt könnten ein oder zwei Jahre mit besonders ungünstigem Wetter das Eis drastisch schrumpfen lassen.

Daneben ist die praktische Bedeutung des ersten eisfreien Tages ohnehin nur begrenzt. Laut Gößling sagen solche Studien nicht allzu viel über die Zukunft der Arktis insgesamt aus. »Da guckt man sich den schlimmsten Fall an, und es ist möglich, dass wir vor 2030 schon mal unter diese Eine-Million-Quadratkilometer-Schwelle fallen«, erklärt der Forscher. »Aber der entscheidende Zeitpunkt ist jener der langfristigen Eisfreiheit im Spätsommer. Und das haben wir nach wie vor etwa Mitte des Jahrhunderts zu erwarten oder kurz davor.«

Der Tag X ist eigentlich nebensächlich

So führt das Bild vom eisfreien Ozean 2030 potenziell doppelt in die Irre. Zum einen nämlich tritt das Szenario nur in wenigen Worst-Case-Simulationen ein, und zum anderen beschreibt es einen rein symbolischen Zeitpunkt, der für das Gesamtsystem Arktis nebensächlich ist. Den entstehenden Eindruck, dass das Meereis schneller schmilzt als erwartet, teilen nur wenige Fachleute. Dieser Verdacht entstand in den Jahren nach 2007, als die Eisfläche im Sommer tief unter die von den Modellen prognostizierte Kurve absackte und 2012 einen Negativrekord von nur noch 3,4 Millionen Quadratkilometern erreichte. Wenn man zum Beispiel die Kurve von 1996 bis 2012 in die Zukunft fortschreibt, erhält man einen anhaltend eisfreien Ozean tatsächlich schon in den 2030er Jahren, viel früher als von den Klimamodellen vorhergesagt.

Tatsächlich kam es ganz anders. Der Rekord von 2012 hat bis heute Bestand, und die sommerlichen Meereisminima passen inzwischen wieder zu den Modellrechnungen. »Im Moment sehe ich da nicht wirklich eine starke Diskrepanz«, sagt auch Gößling. Neben den zufälligen Schwankungen gebe es aber in der Tat noch eine gewisse Unsicherheit – und zwar, wie schnell das Eis real im Durchschnitt zurückgeht. »Wenn man so eine stark verwackelte Kurve hat, die man in die Zukunft projizieren will, dann entstehen Unsicherheiten nicht bloß durch die natürlichen Schwankungen«, sagt Gößling.

»Tatsächlich ist die Lage der Kurve selbst noch nicht so stark eingegrenzt, wie wir das gerne hätten. Damit kommen wir wieder zu der globalen Frage der Klimasensitivität.« Das heißt, ebenso wie bisher nur ungefähr bekannt ist, wie stark sich die Erde durch mehr Kohlendioxid wirklich erwärmt, ist auch beim Meereis nicht ganz sicher, wie rasch es durch den Klimawandel abschmilzt. Dadurch kann die Meereiskurve etwas steiler oder flacher abfallen – und damit etwas vor oder nach 2050 bei null ankommen.

Für Gößling ist die Diskussion um genaue Zeitpunkte jedoch ohnehin nur eine Nebensache. »Ich würde nicht sagen, dass die letzten paar Quadratmeter jetzt das völlig Ausschlaggebende sind«, erklärt er. »Natürlich ist das eine kontinuierliche Sache, und am Ende ist es ja auch nicht nur wichtig, was im September beim Meereisminimum los ist. Die anderen Monate sind klimatisch genauso relevant.«

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