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News: Armut im Ruhrgebiet: Kinder in der Krise

Armut bedroht Kinder und Jugendliche in den ehemaligen Arbeitervierteln des Ruhrgebiets weit mehr als in anderen Teilen Nordrhein-Westfalens. Wer es sich leisten kann, hat in den letzten Jahrzehnten den Innenstädten den Rücken gekehrt und wohnt im Umland. Zurück blieben die Armen - zumeist Ausländer und alleinerziehende Eltern. Ihre Kinder erfahren das volle Ausmaß der Arbeitslosigkeit und ihrer Folgen. Die offiziellen Statistiken spiegeln die Situation nach Meinung zweier Wissenschaftler von der Ruhr-Universität Bochum unzureichend wider.
Die Wirklichkeit ist schlimmer als angenommen, und die Statistiken zeigen ein zu optimistisches Bild der Wahrheit: Zu diesem Ergebnis gelangen Prof. Dr. Klaus Peter Strohmeier und Volker Kersting (Stadt- und Regionalsoziologie, Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung, ZEFIR) in ihrer vor wenigen Tagen veröffentlichten Studie "Armut und Sozialhilfe im Ruhrgebiet". Sie fordern darin eine durchgreifende Änderung der Wirtschafts- und Städtebaupolitik, damit Kinder in der Resignation, Apathie und Fremdenfeindlichkeit ihres Milieus nicht ihre Zukunft verspielen.

Kinder und Jugendliche im Ruhrgebiet sind überdurchschnittlich häufig die Kinder von Ausländern und die Kinder armer Leute. Anhand von Bevölkerungs- und Sozialhilfestatistiken aus den Jahren bis 1996 und 1997 gehen die Bochumer Wissenschaftler der räumlichen und sozialen Polarisierung von Lebenslagen und Lebensformen der Kinder und Jugendlichen im Ruhrgebiet nach. Heute leben in den Ballungszentren des Ruhrgebiets weniger Kinder als in den Randregionen, die Stadtkinder jedoch sind im Schnitt ärmer als ihre Altersgenossen. Nahezu jedes zehnte Kind unter zehn Jahren hat 1996 Sozialhilfe bezogen. Dabei ist der Anteil der deutschen Bevölkerung von 1987 bis 1995 um 1,5% zurückgegangen, der Anteil der ausländischen Bevölkerung um 5% gestiegen. Im Ruhrgebiet klafft die Lücke zwischen Arm und Reich weit auf und ist sogar räumlich zu definieren. Allerdings spiegeln die amtlichen Statistiken die Realität nicht genau wider, da sie auf den Erhebungen am Jahresstichtag beruhen und auch die Ausländer und die verdeckte Armut außer acht lassen.

Die Statistiken zeichnen dadurch ein zu optimistisches Bild, daß sie für die Städte als Ganzes erhoben werden und nicht nach Stadtteilen differenzieren. Städte im Ruhrgebiet fürchten um ihr Image, würden die enorm hohen Quoten der Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger bestimmter Stadtteile bekannt. Essen gehört zu den wenigen Ausnahmen unter den Reviergroßstädten; es analysiert kleine Räume und nutzt die Ergebnisse für die Stadtentwicklung und Sozialplanung. Es gibt in Essen sinnvolle Ansätze, Qualifizierungsprogramme für langzeitarbeitslose Sozialhilfeempfängerinnen mit Kinderbetreuung zu kombinieren, um so der kostenintensiven und langfristigen Familiensozialhilfe entgegenzuwirken.

Insgesamt fehlen aber genaue Untersuchungen über die Prozesse, die zu diesen sozialräumlichen Strukturen geführt haben. Die bislang isoliert behandelten Problemfelder Arbeitslosigkeit, Städtebau, Kriminalprävention sind in einer örtlichen Sozialpolitik zusammenzuführen. Ein Neuorientierung der Familienpolitik ist notwendig, hier sind in erster Linie die Vertreter der lokalen Politik und der Wirtschaft gefragt.

Traditionell war das Ruhrgebiet ein Sammelbecken für Zuwanderer aus verschiedenen Regionen und Ländern, die mitsamt ihren Kindern integriert werden konnten. Der Strukturwandel und die daraus resultierende Arbeitslosigkeit hat diese Situation grundlegend verändert: statt Integration zunehmend soziale Ausgrenzung der Zugewanderten. Die Meßlatte dafür sind Wahlen; je höher der Anteil von Ausländern in einem Wahlbezirk, desto höher die Zahl der Stimmen für rechtsextreme Parteien und die der Nichtwähler. Arbeitslosigkeit fördert Fremdenfeindlichkeit, Armut, Resignation, Gewalt und den Zerfall von Familien. Besonders leiden darunter die Kinder. Sie haben kaum eine Zukunft, da ihnen in diesem Milieu nur wenige der Daseins- und Sozialkompetenzen – des Humanvermögens – vermittelt werden, die die nachwachsende Generation braucht, um diese Gesellschaft selbst einmal motiviert fortzusetzen.

Diese Situation folgte dem Boom im Ruhrgebiet in den 50er und 60er Jahren. Viele Menschen waren in diese Region auf der Suche nach Arbeit und gesicherten Verhältnissen im Arbeitermilieu gezogen. In dieser Zeit lag die Zahl der Kinder pro Familie über dem Landesdurchschnitt, war eher mit den ländlichen Gegenden zu vergleichen. Diese Tendenz hielt auch während des allgemeinen Geburtenrückgangs an. Vor dreißig Jahren jedoch begann die Stadtflucht der bessergestellten Familien in die Randbezirke des Ruhrgebiets, so daß die Anzahl der Kinder pro Haushalt in den Ballungsgebieten sank. In den Stadtkernen verblieben Alte, Alleinerziehende und Ausländer. Diese konzentrierten sich in den traditionellen Arbeitervierteln der Städte, in denen eine schleichende Verelendung einsetzte. Bildeten früher die alten Frauen das Gros der städtischen Sozialhilfeempfänger, so sind es heute die Kinder und Jugendlichen; die Hälfte der unter sechzehnjährigen wächst bei allein erziehenden Müttern auf. Fast jedes zweite dieser Kinder ist noch keine sieben Jahre alt und benötigt konstante Betreuung, die bei den derzeitigen Angeboten an "Wegen aus der Sozialhilfe" eine Integration der Mütter in das Berufsleben verhindert.

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