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Asteroidenforschung: Ist das große Meteoritenrätsel gelöst?

Eine internationale Forschungsgruppe behauptet, die Quellen von 90 Prozent aller Steinmeteoriten entdeckt zu haben. Ist an dieser These etwas dran? Welche Rolle spielen dabei Kollisionen im Asteroidengürtel?
Raumsonde Hayabusa2 über der Oberfläche von Ryugu (Illustration)

Seit vielen Jahren wissen wir aufgrund spektroskopischer und anderer Messungen, dass bestimmte Arten von Meteoriten vom Mond, Mars oder sogar vom Asteroiden Vesta stammen. Viele Meteoriten weisen mineralogische Merkmale auf, die sie eindeutig mit diesen Mutterkörpern in Verbindung bringen. Vermutlich haben Einschläge von Asteroiden oder Kometen Fragmente von diesen Körpern ausgeworfen, die ihren Weg zur Erde gefunden haben.

Aber diese drei Quellen können die Herkunft von nur sechs Prozent der etwa 70 000 bisher katalogisierten Meteoriten erklären. Woher stammt also der Rest?

Eine Fülle von Meteoriten

Ein großes Problem ist die breite Vielfalt an Meteoritentypen sowie die Tatsache, dass die meisten von ihnen mineralogische Eigenschaften aufweisen, die nicht zu den bekannten möglichen Quellen passen, das heißt in der Regel Asteroiden oder Kometen. Der häufigste Meteoritentyp, die Gewöhnlichen Chondrite, die hauptsächlich aus den silikatreichen Mineralien Pyroxen und Olivin bestehen, passen beispielsweise nicht zu den gewöhnlichen silikatreichen Asteroiden vom Typ S, die verblüffend unterschiedliche Reflexionseigenschaften haben.

Auf der anderen Seite gibt es viele dunkle, kohlenstoffreiche Asteroiden und Kometenkerne. Kometen verlieren auf ihren Bahnen ständig und insbesondere in Sonnennähe Material und können Staubspuren hinterlassen, die für periodische Meteoritenschauer verantwortlich sind. Auch Kometen können theoretisch die Mutterkörper bestimmter Meteoriten sein. Allerdings finden sich nur relativ wenige kohlenstoffreiche Meteoriten in irdischen Meteoritensammlungen.

Forscher haben versucht, diese Diskrepanzen mit verschiedenen Annahmen zu erklären. Zum Beispiel kann die Verwitterung der Oberflächen von Asteroiden durch Staubpartikel und den Sonnenwind (englisch: space weathering) im Lauf von vielen Millionen Jahren zu Veränderungen ihrer Reflexionseigenschaften führen. Dagegen stammen Meteoriten vermutlich aus »frischem« Material, das durch einen oder mehrere Einschläge aus einem Mutterkörper herausgeschleudert wurde.

Im Fall von kohlenstoffreichen Mineralen sind die entstehenden Körper relativ zerbrechlich und überleben in vielen Fällen den Fall durch die Erdatmosphäre nicht. Zerbrechliche Körper können auch aufgrund der thermischen Belastung durch wiederholte Annäherungen an die Sonne auseinanderbrechen (englisch: thermal fragmentation), und das Material erreicht die Erde dann nur als kleine Partikel.

Kosmische Verkehrsunfälle

Viele Asteroiden im Asteroidengürtel bewegen sich in Gruppen oder Familien, deren Mitglieder dynamisch verwandte Bahnen haben, die auf einen gemeinsamen Ursprung hindeuten. Man geht davon aus, dass der Ursprung einer Asteroidenfamilie eine heftige Kollision zwischen zwei Asteroiden war, bei der viele Trümmerteile unterschiedlicher Größe freigesetzt wurden. Die entstandenen Fragmente erleiden weitere Kollisionen und bewegen sich über viele Millionen Jahre langsam auseinander.

Es gibt jedoch drei Beispiele von jungen Familien im Hauptgürtel, die aus Kollisionen in bereits existierenden Asteroidenfamilien entstanden sind und bis heute gut zusammengehalten haben: die Karin-Familie (eine Untergruppe der Koronis-Familie), benannt nach dem Asteroiden (832) Karin mit einem durchschnittlichen Durchmesser von 17 Kilometern, die sich aus einer Kollision vor 5,8 Millionen Jahren bildete; eine weitere Untergruppe der Koronis-Familie, benannt nach dem Asteroiden (158) Koronis mit 39 Kilometern Durchmesser, die in einer Kollision vor 7,6 Millionen Jahren entstanden ist; und eine Untergruppe der Massalia-Asteroidenfamilie, nach dem namensgebenden Mitglied (20) Massalia mit rund 136 Kilometern Durchmesser, die auf diese Weise vor weniger als 40 Millionen Jahren entstand.

Es liegt auf der Hand, dass bei einer Kollision von Asteroiden die Anzahl von kleinen Körpern, die sich in der entsprechenden Region des Hauptasteroidengürtels bewegen, plötzlich zunimmt. Wegen des Einflusses des massereichen Planeten Jupiter und anderer dynamischer Effekte können sich die Bahnen einiger Kollisionsfragmente relativ schnell weiterentwickeln, bis sie ihren Weg in das innere Sonnensystem finden.

Drei Fragen

Aber lassen sich bestimmte Asteroidenfamilien als Quellen bekannter Meteoritentypen identifizieren? Das hängt davon ab, ob die folgenden drei Fragen positiv beantwortet werden können:

1. Sind die Mitglieder einer Asteroidenfamilie mineralogisch mit einem Meteoritentyp vereinbar?

2. Haben die Asteroidenfamilie und die Meteoriten ein gemeinsames Alter?

3. Gab es dynamisch wirksame Wege für Kollisionsfragmente aus der Asteroidenfamilie, die Erde zu erreichen?

Zur Beantwortung von Frage 1 werden Beobachtungsdaten benötigt, um die spektroskopischen Fingerabdrücke von Mineralen auf Mitgliedern der Asteroidenfamilien zu analysieren und sie mit den bekannten spektroskopischen Merkmalen von Meteoriten zu vergleichen.

Das Alter eines Meteoriten – siehe Frage 2 – lässt sich zum Beispiel durch die Messung der Konzentrationen von sogenannten kosmogenen Nukliden bestimmen. Diese Isotope entstehen durch Reaktionen zwischen dem Material des Objekts und Teilchen der kosmischen Strahlung, denen es auf seinen Weg durch den Weltraum ausgesetzt ist. Je größer die Menge der vorhandenen kosmogenen Nuklide, desto länger hat sich das Objekt auf seinem Weg zur Erde im Weltraum aufgehalten.

Die Bahnen der Asteroiden im Asteroidengürtel sind sehr genau bekannt. Hochentwickelte Programme zur Berechnung der Umlaufbahnen ermöglichen es, die Positionen der Familienmitglieder über Millionen von Jahren vorwärts oder rückwärts zu extrapolieren. Die Programme berücksichtigen die gravitativen Störeffekte aller wichtigen Planeten und andere dynamische Effekte. Wenn die Bahnen der Familienmitglieder zuverlässig in der Zeit zurückverfolgt werden können, kann ein Punkt gefunden werden, an dem die Bahnen konvergieren, das heißt ein Punkt in der Vergangenheit, an dem die Familie infolge einer großen Kollision entstand.

Mit einem geeigneten Bahnberechnungsprogramm lässt sich auch feststellen, ob ein Familienmitglied im Lauf seiner Bahnentwicklung aus dem Asteroidengürtel entkommen kann. Je nach ihrer Position im Asteroidengürtel und ihrer Nähe zu sogenannten orbitalen Resonanzen mit den Planeten Jupiter und Saturn können einige Familienmitglieder zügig ihren Weg zur Erde finden. Das beantwortet dann Frage 3.

Drei maßgebliche Familien

Die Forschungsgruppe um Miroslav Brož von der Karls-Universität, Prag, Michaël Marsset von der Europäischen Südsternwarte ESO und Pierre Vernazza von der Universität Aix-Marseille hat ihre Ergebnisse in drei Publikationen beschrieben. Ihren Ergebnissen zufolge ist die Asteroidenfamilie Massalia der Ursprung aller gewöhnlichen Chondrite (englisch: ordinary chondrites, kurz OC) der Klasse L, wobei L (englisch: low) einen niedrigen Eisengehalt bedeutet. Sie machen etwa 40 Prozent aller OC-Meteoriten aus. Eine weitere wichtige Klasse von OC-Meteoriten ist die Klasse H, was für einen hohen (englisch: high) Eisengehalt steht. Die Forschungsgruppen zeigen, dass die Asteroidenfamilien Karin und Koronis mineralogische Merkmale und Alter aufweisen, die mit H-Chondriten übereinstimmen. Insgesamt können diese drei Familien den Ursprung von etwa 70 Prozent aller bekannten Meteoriten erklären.

Rätsel bleiben

Die Situation bei den wegen ihres Gehalts an Kohlenstoff als kohlige Chondriten (englisch: carbonaceous chondrite, kurz CC) bezeichneten Meteoriten ist komplizierter. Forscher haben eine Vielzahl von Asteroidenfamilien identifiziert, die CC-Meteoriten produzieren können. Darunter sind die Veritas-Familie, nach (490) Veritas mit 120 Kilometern Durchmesser benannt, die vor 8,3 Millionen Jahren entstand, die Polana-Familie, nach (142) Polana benannt (Durchmesser 55 Kilometer, Alter der Familie 2000 bis 2500 Millionen Jahre), und die Euphrosyne-Familie, nach (31) Euphrosyne benannt (Durchmesser 270 Kilometer, Alter der Familie 280 Millionen Jahre). Ein Problem bleibt jedoch bestehen: Die Zahl der bekannten CC-Meteoriten ist viel geringer, als wegen der identifizierten Quellen und der orbitalen Entwicklung der kleinen Familienmitglieder zu erwarten wäre. Offenbar ist die oben erwähnte Annahme, dass viele zerbrechliche kohlenstoffhaltige Objekte verlorengehen, zum Beispiel durch Fragmentierung im Weltraum oder in der Erdatmosphäre, bevor sie den Boden erreichen, immer noch notwendig.

Die dynamischen Einflüsse, die auf die Familienmitglieder wirken, sind größenabhängig. Die Bahnen von metergroßen Objekten, aus denen Meteoriten entstehen können, entwickeln sich im Lauf der Zeit anders als die von kilometergroßen Asteroiden. Das bedeutet, dass Meteoriten und kilometergroße Asteroiden mit ähnlichen spektralen Eigenschaften und mineralogischen Zusammensetzungen völlig unterschiedliche Ursprünge haben können. Obwohl die Veritas-Familie als Quelle von kohlenstoffhaltigen Chondriten dominiert, behaupten die Wissenschaftler, dass kohlenstoffhaltige erdnahe Objekte von einem Kilometer Größe meist aus den Familien Polana und Euphrosyne stammen.

Ursprung von alten Bekannten

Ein höchst interessantes Ergebnis dieser Arbeit ist die wahrscheinliche Identifizierung der Quellen der kohlenstoffhaltigen erdnahen Asteroiden Ryugu und Bennu (siehe SuW 5/2025, S. 20, und SuW 12/2023, S. 16). Ryugu wurde von der japanischen Raumsonde Hayabusa2 im Jahr 2019 besucht und Bennu von der NASA-Raumsonde OSIRIS-REx im Jahr 2020. In beiden Fällen wurden Proben des Oberflächenmaterials von der Raumsonde entnommen und zur Erde gebracht. Analysen der Proben in terrestrischen Labors zeigen, dass kohlenstoffhaltige Chondrite vom Typ CI der nächstgelegene Meteoritentyp ist. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse und der dynamischen Eigenschaften der Polana-Familie und der Asteroiden behaupten die Forscher, dass es eine mindestens 90-prozentige Wahrscheinlichkeit gibt, dass diese Familie der Ursprung der beiden Asteroiden ist.

Besucht von Raumsonden | Die erdnahen Asteroiden Bennu, etwa 500 Meter Durchmesser (rechts), und Ryugu, rund 900 Meter Durchmesser, waren Ziele der NASA-Raumsonde OSIRIS-REx beziehungsweise der japanischen Raumsonde Hayabusa2. Die zwei kohlenstoffhaltigen Asteroiden haben wahrscheinlich einen gemeinsamen Ursprung, nämlich die Asteroidenfamilie Polana.

Wie die Arbeit dieser Forschungsgruppe überzeugend zeigt, ist es möglich, Materialien in Meteoriten und erdnahen Asteroiden in irdischen Labors zu untersuchen und die Ergebnisse mit astronomischen Beobachtungen von direkt verwandten Asteroiden im Weltraum zu vergleichen. Dies eröffnet ein aufregendes und vielversprechendes neues Fenster zur Geschichte und Entwicklung unseres Sonnensystems.

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