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Gärtnern im Weltall: Frisches Gemüse für die Raumfahrt

Wie reagieren Pflanzen auf die Bedingungen im All? Experimente auf der Internationalen Raumstation geben der Astrobotanik wichtige Impulse. Die Erkenntnisse sind entscheidend für künftige Langzeitmissionen.
Zwei Personen in einem Raumanzuglabor auf einer Raumstation untersuchen eine Pflanze, die in einem speziellen Anbausystem wächst. Eine Person trägt Schutzbrillen und hält die Pflanze, während die andere Person interessiert zuschaut. Im Hintergrund sind technische Geräte und Kabel zu sehen. Die Szene zeigt wissenschaftliche Experimente zur Pflanzenzucht im Weltraum.
Pflanzen auf der ISS sind ein Garant für frisches Gemüse und gute Laune: Die NASA-Astronauten Jessica Watkins und Bob Hines erforschen während ihres Aufenthalts, ob sie auch ohne Erde wachsen.

Die Szene wirkt kurios: Im August 2015 stoßen drei Männer mit einem Salatblatt an und beißen voll Freude hinein. »Großartig!«, ruft einer. Und ein anderer: »Wow, das ist lecker!« Die drei Männer sind die Astronauten Scott Kelly, Kjell Lindgren und Kimiya Yui und sie befinden sich auf der Internationalen Raumstation ISS. Erstmals in der Geschichte der Raumfahrt haben sie Gemüse im Weltall gesät, geerntet und gegessen. Das knackige Grünzeug ist eine willkommene Abwechslung auf dem Speiseplan der Raumfahrer, denn dieser besteht fast ausschließlich aus vorgefertigten, aufgewärmten Mahlzeiten. Frisches Obst und Gemüse gibt es nur alle paar Monate, wenn Frachtschiffe Nachschub zur Station bringen.

Die ISS ist von der Erde aus recht gut zu erreichen. Doch die großen Raumfahrtnationen wollen tiefer ins All. Die US-amerikanische Raumfahrtagentur NASA plant, bis 2050 einen bemannten Außenposten auf dem Mond aufzubauen – sowohl für die Forschung als auch als Sprungbrett für Reisen zum Mars. Und die chinesische CNSA will bis zur Mitte des Jahrhunderts ein ganzes Netzwerk von Forschungsstationen in der Südpolregion des Mondes errichten, das sich bis zum Äquator und zur Rückseite des Erdtrabanten erstrecken soll. Bei künftigen Langzeitaufenthalten werden die Crews weitgehend auf sich allein gestellt sein. Eine Versorgung von der Erde wäre logistisch zu aufwendig und auch zu teuer. Schon seit Jahrzehnten forschen Raumfahrtagenturen deshalb an Systemen, die mithilfe von biologischen Prozessen saubere Luft, Wasser und Nahrung für die Menschen im All bereitstellen. 

Pflanzen spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie liefern lebenswichtige Vitamine und Nährstoffe, produzieren Sauerstoff, ziehen Kohlendioxid aus der Luft und sie können sogar Wasser reinigen und aufbereiten, indem sie Schadstoffe herausfiltern. Nicht zuletzt sorgen Pflanzen für frische Nahrung und – wie man im Video aus dem Jahr 2015 sieht – für gute Laune an Bord.

© NASA
Erster Salat im Weltall
Im August 2015 haben die Astronauten Scott Kelly, Kjell Lindgren and Kimiya Yui erstmals einen Salat verspeist, der auf der Internationalen Raumstation ISS im All herangewachsen ist.

Dazu müssen sie allerdings langfristig mit den Bedingungen im Weltraum klarkommen. Der Biochemiker Borja Barbero Barcenilla von der A&M University in Texas forscht daran, Pflanzen widerstandsfähiger gegen die Strahlung im All zu machen. »Man kann Menschen nicht auf eine Reise zum Mars schicken, und plötzlich hören die Pflanzen an Bord auf, Samen und Früchte zu produzieren. Was machen die Raumfahrer dann? Sie brauchen eine Garantie, dass die Pflanzen überleben.« Pflanzen so zu verändern, dass sie nicht nur auf der Erde, sondern auch im Weltraum gedeihen, ist allerdings eine große Herausforderung.

Welche Bedingungen brauchen Pflanzen?

Landpflanzen haben sich in ihrer rund 500 Millionen Jahre dauernden Evolution perfekt an die Erde angepasst: an die hier wirkende Schwerkraft und die irdische Atmosphäre. Die Lufthülle unseres Planeten schirmt alle Lebewesen weitgehend von schädlicher Strahlung aus dem All ab. Zudem brauchen Pflanzen Sonnenlicht in ausreichender Menge, um zu wachsen und zu überleben. Dass sie unter genau diesen Bedingungen am besten gedeihen, ist kaum überraschend – schließlich sind sie auf der Erde entstanden.

Im Weltraum, wo extreme Temperaturen und fast völlige Luftleere herrschen, können Pflanzen nur in einer künstlichen Umgebung wie der ISS überleben. Doch selbst dort haben sie mit schwierigen Bedingungen zu kämpfen: Die Schwerelosigkeit und die erhöhte Strahlung setzen Pflanzen unter Stress. Sie reagieren darauf mit einem geschwächten Immunsystem sowie mit Veränderungen im Stoffwechsel und in der Genaktivität.

Wenn Pflanzen keimen und wachsen, orientieren sie sich an der Erdanziehungskraft (Gravitropismus) und dem Lichteinfall (Fototropismus). Ein komplexes Wechselspiel der Reaktionen darauf gibt der Pflanze ihre Gestalt. Der lichtempfindliche Spross wächst zur Sonne hin und von der Erde weg, während die Wurzeln im Boden in die Tiefe vordringen in Richtung Erdmittelpunkt. Die Wahrnehmung der Gravitation erfolgt mit den Statocyten. Das sind spezialisierte Zellen an der Wurzelspitze, in denen sich Stärkekörner befinden, die sich durch ihr Eigengewicht innerhalb der Zelle verlagern können und damit signalisieren: Hier ist »unten«. Diese Information sorgt dafür, dass sich das Pflanzenhormon Auxin in bestimmten Bereichen ansammelt. Dieses Hormon beeinflusst nicht nur die Bildung und Ausrichtung der Wurzeln, sondern auch das Wachstum und die Entwicklung der gesamten Pflanze.

Fehlt die Schwerkraft, verlieren die Statocyten ihre Funktion und die Wurzeln wissen nicht mehr, wo unten ist. Das Auxin verteilt sich daraufhin in der gesamten Pflanze, wodurch das Gleichgewicht von Zellwachstum und Zellteilung in der Wurzelspitze gestört wird. Die Wurzeln wachsen in alle Richtungen. Dadurch entwickeln Pflanzen im Weltraum eine unregelmäßigere Gestalt als ihre Artgenossen auf der Erde. Zudem schwingt die wachsende Wurzelspitze hin und her, was es Gewächsen auch im Weltraum ermöglicht, den Boden nach Wasser, Nährstoffen und geeigneten Stellen zur Verankerung zu durchsuchen. Diese Drehbewegungen bezeichnet man als Zirkumnutation.

»Wenn das Licht diffus ist und aus allen Richtungen kommt, wachsen die Wurzeln nicht mehr in dieselbe Richtung«Anna-Lisa Paul, Pflanzenforscherin

Ohne Schwerkraft wird Licht zum wichtigsten Faktor für die Orientierung im Raum. Der Spross leitet Lichtsignale in die Wurzeln, die diese wiederum über spezielle Lichtrezeptoren wahrnehmen und ihr Wachstum daran ausrichten können. Das funktioniere allerdings nur, wenn die Pflanze durch Helligkeitsunterschiede eine Lichtquelle erkennen und sich daran orientieren kann, erklärt Anna-Lisa Paul von der University of Florida. »Wenn das Licht allerdings diffus ist und aus allen Richtungen kommt, wachsen die Wurzeln nicht mehr in dieselbe Richtung«, sagt die Botanikerin in einem Youtube-Video der NASA. Sie erforscht, wie sich die Umweltveränderungen im Weltraum auf die Aktivität der Pflanzengene auswirken.

Wachstum fördern mit Licht

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben daraufhin auf der Erde untersucht, wie sich Pflanzen mithilfe von Licht gezielt beeinflussen lassen. Dafür entwickelten sie spezielle LED-Beleuchtungssysteme: Bestimmte Wellenlängen aktivieren Fotorezeptoren, die etwa das Wachstum anregen oder die Bildung von Blüten und Früchten fördern. So konnten sie zeigen, dass sowohl rotes als auch blaues Licht Fotosynthese und Wachstum von Pflanzen verbessert. Sogar Geschmack und Nährstoffgehalt der Pflanzen lassen sich auf diese Weise steuern.

Wie die Licht- und Schwerkraftsensoren im Weltraum genau funktionieren, haben Astronauten im Experiment »Seedling Growth 3« auf der ISS studiert. Das gemeinsame Forschungsprojekt von NASA und ESA nahm acht genetische Stämme der Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana genauer unter die Lupe. Die krautig wachsende Schotenkresse aus der Familie der Kreuzblütler ist das Labormaus-Äquivalent unter den Pflanzen. Für das Experiment wurden die Pflanzen in mehrere Gruppen aufgeteilt. In Zentrifugen, mit denen sich die Schwerkraft simulieren lässt, wuchsen die Samen auf der ISS zu winzigen Pflänzchen heran. Ein Teil der Sämlinge war Schwerelosigkeit ausgesetzt, während die anderen entweder unter simulierter irdischer Schwerkraft aufwuchsen oder einem Drittel davon, was der Schwerkraft auf dem Mars entspricht. Zunächst wurden alle Sämlinge vier Tage lang unter weißem Licht gehalten, um gleiche Ausgangsbedingungen zu schaffen. Danach wurden sie zwei Tage lang mit rotem oder blauem oder mit einer Kombination aus rotem und blauem Licht beleuchtet. Einige Pflanzen verbrachten die Zeit zum Vergleich im Dunkeln. Am Ende des Experiments froren Astronauten die Proben entweder ein oder machten mithilfe von Chemikalien eine »konservierte« Momentaufnahme.

Auf der Erde analysierte eine Forschungsgruppe dann im Labor, welche Gene der Weltraumpflanzen besonders aktiv und welche weniger aktiv geworden waren. Die Ergebnisse geben einen Einblick in die Prozesse, mit denen sich die Pflanzen an die Weltraumumgebung anpassen. Dabei zeigte sich, dass rotes Licht einige der genetischen Veränderungen, die durch die Schwerelosigkeit ausgelöst werden, wieder ausgleichen kann. Mit rotem Licht lässt sich der Stress, den die fehlende Gravitationskraft auslöst, also reduzieren.

Japanischer Blattsenf | In der Veggie-Anlage auf der ISS versorgen die Astronautinnen und Astronauten Salatpflanzen über ein Spritzensystem mit Wasser und Nährstoffen.

Wie sensibel Nutzpflanzen auf unterschiedliche Mischungen von rotem und blauem Licht in der Schwerelosigkeit reagieren, hat auch Jess Bunchek vom Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) mit einem Experiment erforscht. Als Beispielorganismus diente ihr der Asia-Salat Mizuna, auch bekannt als japanischer Blattsenf. »Beide Wellenlängenbereiche sind sehr wichtig für die Photosynthese«, erklärt die Agrarwissenschaftlerin. »Samen brauchen blaues Licht für die Keimung und rotes Licht für ihr Wachstum.« Außerdem sei festgestellt worden, dass Mizuna, wenn er überwiegend rotes Licht bekam, leicht nussig schmeckte und größere Blätter ausbildete, während er bei einem höheren Blauanteil etwas säuerlich wurde und die Stiele kleiner blieben.

Auch die Erträge schaute sich das Team von Bunchek im Detail an. Dabei stellte sich heraus, dass bei einer einmaligen Ernte rotes Licht für eine größere Ausbeute sorgt. Bei der sogenannten Cut-and-Come-Again-Methode, bei der mehrmals nur die äußeren Blätter abgetrennt werden, verhalf wiederum blaues Licht zu einer besseren Ernte.

Modellpflanzen für die Grundlagenforschung

Solche Erkenntnisse sind mehr als botanische Grundlagenforschung. Sie sind wichtige Bausteine für künftige Gewächshäuser auf Mars- oder Mondstationen. Mit maßgeschneiderter Beleuchtung lassen sich Keimlinge eines Tages vielleicht so stimulieren, dass sie auch im All starke Wurzeln ausbilden und zu kräftigen Pflanzen heranwachsen können. Doch obwohl Pflanzen schon seit Jahrzehnten in der Schwerelosigkeit untersucht werden, ist das Wissen über ihre Anpassungsmechanismen noch unvollständig. Von einer wirklich »weltraumtauglichen« Pflanze ist die Forschung noch ein gutes Stück entfernt.

Die Wissenslücken sollen Modellpflanzen wie Arabidopsis thaliana schließen: Sie lässt sich platzsparend kultivieren, ihr Genom ist kompakt, und vom Samen bis zur Reife vergehen nur wenige Wochen. Auf der Erde ist sie das am besten untersuchte Gewächs überhaupt – und auch auf der ISS kommt sie in zahlreichen Experimenten zum Einsatz. Weil sie sich genetisch leicht manipulieren lässt, gibt es bereits viele Mutanten von ihr. Die Forschung damit hat bereits mehrere wissenschaftliche Durchbrüche im All ermöglicht, etwa Einblicke in die Veränderungen von Telomeren und der Aktivität des sie schützenden Enzyms Telomerase während eines Aufenthalts im Orbit.

Telomerase ist ein Enzym, das die Telomere verlängert. Das sind die Kappen an den Chromosomenenden, die das Erbgut schützen. Diese Aufgabe können sie aber nur erfüllen, wenn sie eine ganz bestimmte Länge haben. Und die nimmt zum Beispiel durch Zellteilung und oxidativen Stress ab. Die dabei entstehenden Sauerstoffverbindungen sind sehr reaktionsfreudig und können Zellbestandteile wie DNA, Proteine oder Zellmembranen schädigen. Die Telomerlänge gilt daher als wichtiger Marker für die Gesundheit und das biologische Alter eines Organismus, nicht nur bei Menschen und Tieren, sondern auch bei Pflanzen.

Um herauszufinden, wie sich die Telomere und die Aktivität der Telomerase bei Pflanzen im Weltraum verändern, schickte ein Team um Dorothy Shippen von der Texas A&M University Arabidopsis-Sämlinge zur ISS und ließ sie dort zwölf Tage lang wachsen. Die Forschungsgruppe war überrascht zu sehen, dass sich die Länge der Telomere nicht verändert hatte, obwohl die Pflanzen durch Schwerelosigkeit und Strahlung im Weltraum einem hohen oxidativen Stress ausgesetzt waren. Das zeigte sich an der dramatisch angestiegenen Telomeraseaktivität.

Von Pflanzen lernen, mit Stress umzugehen

Bei Menschen lässt oxidativer Stress im All die Telomere deutlich länger werden – und das schon nach wenigen Tagen. Nach der Rückkehr zur Erde verkürzen sie sich bei den meisten Astronauten jedoch rasch, sodass sie nach dem Flug kürzere Telomere haben als zuvor. Lange Telomere gelten als Merkmale von Krebszellen, während kurze Telomere mit vorzeitiger Zellalterung in Verbindung gebracht werden.

»Pflanzen haben Wege gefunden, ihre Telomere intakt zu halten. Den genauen Mechanismus kennen wir noch nicht – aber ich bin überzeugt, dass wir daraus Strategien ableiten können, die auch auf den Menschen anwendbar sind«Borja Barbero Barcenilla, Biochemiker

»Pflanzen können sich nicht bewegen«, erklärt der Biochemiker Barcenilla, der an der Studie zu den pflanzlichen Telomeren maßgeblich beteiligt war. »Sie müssen mit Stressfaktoren auf molekularer Ebene umgehen und haben daher Wege gefunden, ihre Telomere intakt zu halten. Den genauen Mechanismus kennen wir noch nicht – aber ich bin überzeugt, dass wir daraus Strategien ableiten können, die auch auf den Menschen anwendbar sind.« Die Pflanzenversuche deuteten darauf hin, dass Telomerase für das Überleben im Weltraum eine wichtige Rolle spielt. Deren Aktivierung scheint pflanzliches Erbgut vor Schäden durch Zellstress zu schützen. Diese Hypothese bestätigte sich im Sommer 2025 beim APEX-12-Experiment auf der ISS, bei dem fünf Mutanten von Arabidopsis thaliana untersucht wurden.

Parallel führten Barcenilla und sein Team Experimente auf der Erde durch: Die gleichen Mutanten wurden in Teilchenbeschleunigern unterschiedlich starker kosmischer Strahlung ausgesetzt. So wollten die Forschenden herausfinden, welche Strahlendosen die Telomeraseaktivität erhöhen – und ob das Genom der Pflanzen auch bei zunehmender Strahlung stabil bleibt. Solche Erkenntnisse sind entscheidend für Missionen, die weit über den Erdorbit hinausgehen, und bei denen Menschen und Pflanzen einer noch deutlich höheren Strahlenbelastung ausgesetzt sind.

Achkerschmalwand im Härtetest | Mit der Plant Habitat-01-Studie wollen Forscherinnen und Forscher herausfinden, wie sich Pflanzen in der Genetik, im Stoffwechsel, in der Photosynthese und in der Schwerkraftwahrnehmung unterscheiden – je nachdem, ob sie im Weltraum oder auf der Erde wachsen.

Erstmals wurde im Rahmen von APEX-12 auch eine völlig neue Mutante der Ackerschmalwand getestet, die ein spezielles Gen aus Bärtierchen für das Protein Dsup trägt. Dsup schützt die DNA der weniger als einen Millimeter großen, achtbeinigen Tiere vor Strahlenschäden. Gentechnisch veränderte menschliche Zellen haben dadurch ebenfalls eine um 40 Prozent erhöhte Toleranz gegenüber Röntgenstrahlung. Aber funktioniert der Schutzmechanismus auch bei Pflanzen?

»Wir haben beobachtet, dass die genveränderten Pflanzen tatsächlich niedrigere Werte der hochreaktiven Sauerstoffverbindungen aufweisen«, fasst Barcenilla die ersten Resultate zusammen. »Sie scheinen entsprechend weniger Zellschäden zu haben als Pflanzen ohne dieses Protein.« Es ist ein erster Hinweis darauf, dass die Kombination aus Pflanze und Bärtierchen-Gen die Widerstandskraft im All erhöhen könnte.

Barcenilla hat bereits weitere Gene des Bärtierchens im Blick, um Pflanzen künftig noch widerstandsfähiger zu machen. Doch nicht nur sie dienen als Vorbild: Auch in der Flora extremer Lebensräume auf der Erde liegt großes Potenzial. Pflanzen, die in Hochgebirgen, Wüsten, der Antarktis oder sogar im ukrainischen Tschernobyl überleben, haben von selbst Mechanismen entwickelt, um mit intensiver Strahlung umzugehen. Dieses Wissen könnte der Weltraumforschung entscheidende Impulse geben.

Die Keimlinge für das Telomerexperiment wuchsen in einem speziellen Mini-Gewächshaus auf der ISS, dem Vegetable Production System, kurz »Veggie«. Es ist eine von zwei Anlagen, die speziell für die Pflanzenforschung im Orbit entwickelt wurden. Das andere System ist das größere Advanced Plant Habitat (APH), das vor allem für pflanzenphysiologische Studien genutzt wird.

Die dort laufenden Experimente lassen sich weitgehend von der Erde aus überwachen und steuern. Zwei optische Kameras und eine Infrarotkamera dokumentieren das Wachstum der Pflanzen, während rund 200 Sensoren Licht und Bewässerung regulieren sowie Temperatur, CO2-Gehalt und Feuchtigkeit messen. Das APH kann zudem das von den Pflanzen abgegebene Wasser vollständig recyceln, und Filtersysteme halten die Umgebung frei von flüchtigen Schadstoffen. In dieser kontrollierten Umgebung können Pflanzen bis zu einem halben Meter hoch werden.

Die ISS-Bewohner scheinen die farbige Mini-Oase zu schätzen: Es gibt zahlreiche Fotos von den Pflanzen im Veggie-System

Veggie ist dagegen eher ein kleiner Weltraumgarten. Statt in klassischen Beeten wachsen die Pflanzen dort in »Kissen« oder speziellen Behältern, gefüllt mit tonhaltigen Kügelchen und Langzeitdünger. Diese Substrate sorgen dafür, dass Wasser, Nährstoffe und Luft gleichmäßig an die Wurzeln gelangen – die Crew muss lediglich regelmäßig gießen. LED-Leuchten bestrahlen die Pflanzen mit rotem und blauem Licht, das ihr Wachstum ankurbelt und die Kammer in ein intensives Magenta taucht. Die ISS-Bewohner scheinen die farbige Mini-Oase zu schätzen: Es gibt zahlreiche Fotos von den Pflanzen im Veggie-System. Wegen des grellbunten Lichts wirkt es fast wie in einer interplanetaren Diskothek.

Weltraumgärtnern für die Psyche

Der Anbau von frischem Gemüse bringt aber nicht nur Abwechslung auf den Speiseplan, sondern auch in den entbehrungsreichen Alltag an Bord. »Im Weltraum kann man weder die Sonne im Gesicht, noch das Gras unter den Füßen spüren«, soll der US-Astronaut Scott Kelly gesagt haben, der ein ganzes Jahr auf der ISS verbrachte. Diesen Mangel an vertrauten Sinnesreizen, der sich mit der Zeit verstärkt, stuft die NASA als Risiko für die menschliche Psyche ein.

Ein Blumengruß aus dem All | Der NASA Astronaut Scott Kelly kümmerte sich während seines Aufenthalts auf der ISS aufopferungsvoll um Zinnien. Anlässlich des Valentinstags 2016 teilte er ein Foto von einem Strauß der Blumen auf seinem Instagram-Account.

Kelly wurde als Weltraumgärtner bekannt, weil er sich mit besonderer Hingabe um Zinnien kümmerte. Eigentlich sollten die Blumen wichtige Erkenntnisse für den späteren Tomatenanbau liefern – doch die Pflanzen waren im Begriff zu sterben, da sie wegen der verzögerten Kommunikation mit dem Bodenteam falsch bewässert wurden. »Ich fühlte mich verantwortlich«, sagte Scott Kelly später. »Es war frustrierend, dort oben ein weiteres Lebewesen wachsen zu lassen und zuzusehen, wie es kämpfte, ohne dass ich mich richtig darum kümmern konnte.« Die Zinnien lagen Kelly so am Herzen, dass er sie zum Sonnenlicht in die Cupola, das große Fenster der ISS, brachte und sie sogar zu den Abendessen mit der Crew in andere Module mitnahm. Am Valentinstag 2016 erntete er schließlich die Blüten und schickte ein inzwischen ikonisches Foto zur Erde: einen schwebenden Zinnienstrauß im All.

Auch andere Astronautinnen und Astronauten berichten von tiefen Gefühlen beim Weltraumgärtnern. Peggy Whitson, die erfahrenste Astronautin der NASA, schrieb 2002 in einem Brief an ihre Familie: »Es war überraschend für mich, wie prächtig die Sojabohnenpflanzen aussahen. Ich glaube, nach anderthalb Monaten zum ersten Mal wieder etwas Grünes zu sehen, hat mich zutiefst beeindruckt.« Und der britische Astronaut Mike Foale erzählte, er habe jeden Morgen zehn bis fünfzehn Minuten damit verbracht, die Pflanzen zu betrachten. »Das war ein Moment der Ruhe.«

»Wenn sie den Beutel des Veggie-Systems oder die Tür zum Advanced Plant Habitat öffnen, so erzählen sie, fühle es sich fast so an, als stünden sie in der Obst- und Gemüseabteilung eines Supermarkts«Gioia Massa, Pflanzenforscherin

Gioia Massa vom Kennedy Space Center hat viele Astronauten zu ihren Erfahrungen mit Pflanzen auf der Raumstation befragt. Zahlreiche Crewmitglieder verbrachten demnach mehr Zeit mit der Pflege der Gewächse als vorgesehen, berichtet sie. Ein Detail tauchte in fast allen Erzählungen auf: die Sinneseindrücke. »Wenn sie den Beutel des Veggie-Systems oder die Tür zum Advanced Plant Habitat öffnen, so erzählen sie, fühle es sich fast so an, als stünden sie in der Obst- und Gemüseabteilung eines Supermarkts – ein Duft, den sie auf der Raumstation wirklich vermisst haben«, sagt Massa. »Und natürlich genießen sie die Pflanzen auch als Bereicherung ihres Speiseplans.«

Wie geht es weiter?

Die NASA konnte schon verschiedene Nutzpflanzen auf der ISS anbauen. Ein großer Teil der Ernten wird zur Erde geschickt und in Laboren auf schädliche Substanzen untersucht, die durch Stress entstehen, auf Keime und auf den Gehalt an Nährstoffen. Die gemessenen Werte werden dann mit denen irdischer Kontrollpflanzen verglichen. In einer umfangreichen Studie zeigte sich, dass die im Erdorbit gezüchteten Pflanzen zu wenig Nährstoffe wie Kalzium und Magnesium enthalten und erhöhte Werte hochreaktiver Moleküle aufweisen. Diese Moleküle können schädlich sein; eine langfristige Ernährung ausschließlich mit solchen Pflanzen könnte erhebliche Gesundheitsrisiken bergen.

Die wohl entscheidendste offene Frage ist: Wie ergeht es Pflanzen jenseits des Erdorbits? Auf dem Mond herrscht nur ein Sechstel der irdischen Schwerkraft, und die Strahlenbelastung ist dort deutlich höher als auf der ISS. Erste Hinweise lieferte bereits die chinesische Chang’e-4-Mission, der es gelang, eine Baumwollpflanze für kurze Zeit zum Keimen zu bringen – ein experimenteller Anfang, der jedoch mehr Fragen aufwarf, als er beantwortete.

Ab Mitte 2027 soll das Experiment LEAF, kurz für »Lunar Effects on Agricultural Flora«, mit der Artemis-3-Mission zum Mond starten. Dabei handelt es sich um ein Mini-Gewächshaus, in dem Rübsaat, Wasserlinsen und Ackerschmalwand gezüchtet werden. Nach der Landung wird die Crew das Modul im Mondstaub absetzen und die Nährstoffversorgung zur Keimung der Samen aktivieren. Drei bis fünf Tage später soll ein Teil der Pflanzen aus der Anlage entnommen und zur Erde zurückgebracht werden, um sie im Labor eingehend zu untersuchen.

Die anderen Versuchspflanzen sollen auf dem Mond weiterwachsen, bis die Mondnacht einsetzt – zwei Wochen Finsternis, in denen das Gewächshaus keine Energie mehr erhält. Bis dahin dokumentieren Kameras das Wachstum und senden Bilder zur Erde, während Sensoren den Kohlendioxidverbrauch und die Sauerstoffproduktion im Inneren erfassen. Aus diesen Messungen lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, wie Pflanzen unter realen Mondbedingungen atmen, wachsen und mit Stress umgehen. Es sind Daten, die langfristig entscheidend sein könnten für die Entwicklung einer funktionierenden Landwirtschaft auf dem Mond – und damit für dauerhafte Außenposten fern der Erde.

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  • Quellen
Johnson, C.M. et al., Frontiers in Astronomy and Space Sciences 10.3389/fspas.2021.734343, 2021 Barcenilla B.B. et al., Nature Communications 10.1038/s41467–023–41510–4, 2023 Bunchek, J. et al., Journal of Plant Interactions 10.1080/17429145.2023.2292220, 2024

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