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Millennium-Problem: Riemannsche Vermutung endlich gelöst?

Abelpreisträger und Fields-Medaillengewinner Sir Michael Atiyah behauptet das knapp 160 Jahre alte Problem gelöst zu haben. Gelang dem 89-Jährigen tatsächlich der Durchbruch?
Mathematik

»Niemand glaubt einen Beweis der riemannschen Vermutung!« Diese kernige Aussage präsentiert der renommierte Mathematiker Sir Michael Atiyah am Montag auf dem Heidelberg Laureate Forum 2018 – während er seinen Beweis eben dieser riemannschen Vermutung auf einer einzigen Folie zeigt. Im Publikum sitzen prominente Abel- und Fields-Medaillenpreisträger sowie junge aufstrebende Mathematiker und Informatiker. Am Ende von Atiyahs Vortrag vernimmt man zunächst nur eines – Schweigen.

Kein Wunder: Die riemannsche Vermutung zählt zu den bedeutendsten offenen Fragen der Mathematik. Und jetzt will sie jemand bewiesen haben? Da ist erst einmal Skepsis angesagt. Sollte der Beweis stimmen, wären die Folgen gewaltig: Er würde die lang ersehnte Verteilung der Primzahlen extrem genau preisgeben. Daneben wäre auch noch ein ganzer Stapel anderer mathematischer Fragen beantwortet.

Aber die Vermutung ist ein harter Brocken: In den vergangenen 160 Jahren hat es nur erfolglose Versuche gegeben, sie zu beweisen. Nun aber glaubt der Brite Atiyah, mit einer radikal neuen Methode einen Beweis gefunden zu haben. »Ich habe gar nicht danach gesucht«, erzählt er in seinem Vortrag, »es kam einfach so heraus.« Kann das sein? Hat der 89-Jährige wirklich den entscheidenden Schlüssel zur Lösung der legendären Frage gefunden?

Ein 160 Jahre altes Rätsel

Bernhard Riemann war einer der wichtigsten Mathematiker der letzten Jahrhunderte, der die Gebiete der Analysis, Differenzialgeometrie und der Zahlentheorie vollkommen veränderte. In seiner 1859 erschienenen Arbeit »Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe« formulierte er seine berühmte Vermutung. Dies war seine einzige Veröffentlichung im Bereich der Zahlentheorie – und dennoch zählt sie bis heute zu einem der bedeutendsten Werke dieser Disziplin. In seinem neunseitigen Aufsatz untersuchte er die Verteilung der Primzahlen und erzielte dabei faszinierende Ergebnisse.

© HLF Heidelberg
Vortrag von Sir Michael Atiyah auf dem HLF 2018

Da Riemann hauptsächlich auf dem Fachgebiet der Analysis tätig war, die sich häufig mit stetigen oder differenzierbaren Funktionen beschäftigt, wählte er auch einen solchen Ansatz, um die Verteilung der Primzahlen zu studieren. Das wirkte zunächst überraschend, da das Reich der Funktionen, die kontinuierliche Werte annehmen können, auf den ersten Blick nichts mit den diskreten Zahlen zu tun hat, die nur durch eins und sich selbst teilbar sind. Durch Riemanns Arbeit fanden Mathematiker später heraus, dass Primzahlen in kleinen Bereichen des Zahlenstrahls zwar willkürlich verstreut sind, aber asymptotisch (also für Intervallgrößen, die gegen unendlich gehen) regelmäßig erscheinen.

Diese Ordnung spiegelt sich in der von Riemann gefundenen Primzahlfunktion π(x) wider, welche die Anzahl aller Primzahlen bestimmt, die kleiner als eine gegebenen Anzahl x sind. Die Funktion hängt von der so genannten Zeta-Funktion ζ ab, die der Schweizer Wissenschaftler Leonhard Euler bereits 1737 eingeführt hatte, die aber erst durch Riemanns berühmte Arbeit ins Rampenlicht der Mathematik rückte. Die Primzahlfunktion ist nicht exakt – die Verteilung der Primzahlen schwankt um einen Wert, der durch die Nullstellen der Zeta-Funktion bestimmt ist. Anders ausgedrückt: Kennt man all die Werte z für die ζ(z) gleich null ist, kann man daraus sehr genau auf die Verteilung der Primzahlen schließen.

Riemann fiel bereits in diesem Aufsatz auf, dass die Nullstellen der Zeta-Funktion einem bestimmten Muster zu folgen scheinen. »Hiervon wäre allerdings ein strenger Beweis zu wünschen; ich habe indes die Aufsuchung desselben nach einigen flüchtigen vergeblichen Versuchen vorläufig bei Seite gelassen, da er für den nächsten Zweck meiner Untersuchung entbehrlich schien«, merkt er darin an. Das Muster entdeckte er aber erst, nachdem er die von Euler definierte Funktion erweitert hatte: Anstatt sie nur mit den gewöhnlichen reellen Zahlen zu speisen, setzte er auch komplexe Zahlen ein, die Wurzeln aus negativen Zahlen enthalten. Schnell stieß Riemann auf »triviale« Nullstellen: Er zeigte, dass die Zeta-Funktion für alle negativen geraden Zahlen verschwindet. Allerdings besitzt sie weitere Nullstellen, die alle auf einer Geraden zu liegen scheinen: Und zwar auf Re(z)=12. Das würde heißen, dass der reelle Anteil einer Nullstelle der Zeta-Funktion immer den Wert 12 hätte. Diese Beobachtung ging als »riemannsche Vermutung« in die Mathematikgeschichte ein.

In den nächsten 150 Jahren versuchten sich etliche Wissenschaftler erfolglos an einem Beweis dieser These. Als der Mathematiker David Hilbert von der Universität Göttingen im Jahr 1900 am internationalen Mathematikerkongress in Paris seine berühmte Rede zu den zehn wichtigsten offenen Problemen der Mathematik hielt, befand sich darunter auch die riemannsche Vermutung. Hilbert soll gesagt haben, dass seine erste Frage nach einem 1000-jährigen Schlaf wäre, ob das 1859 gestellte Rätsel inzwischen gelöst sei.

Von ursprünglich zehn Problemen seiner Liste sind inzwischen acht zumindest teilweise gelöst – doch bei der riemannschen Vermutung gab es bisher kaum Fortschritte. Anlässlich des 100. Jahrestags von Hilberts prägender Rede formulierte das Clay Mathematics Institute zur Jahrtausendwende sieben »Millennium-Probleme«, deren Lösung mit jeweils einer Million US-Dollar belohnt wird. Darunter ist auch die riemannsche Vermutung. Das Preisgeld erhält man aber nur für ihren Beweis. Liefert man hingegen ein Gegenbeispiel, das heißt eine Nullstelle, die nicht auf der erwarteten Gerade liegt, geht man leer aus. Neben den gescheiterten Versuchen eines Beweises haben Mathematiker mit enormer Rechenpower bisher mehrere Milliarden dieser Nullstellen berechnet, und keine wich von der vorhergesagten Geraden ab.

Eine Lösung durch Zufall?

Nun behauptet Atiyah durch Zufall auf eine Lösung der riemannschen Vermutung gestoßen zu sein. Der britisch-libanesische Mathematiker kam 1929 in London zur Welt. Seine bekannteste Errungenschaft ist der nach ihm und Isadore Singer benannte Atiyah-Singer-Indexsatz, den sie 1963 gemeinsam bewiesen. Bewegt sich beispielsweise ein physikalisches Teilchen auf einer gekrümmten Oberfläche, dann setzt der Indexsatz die Form der Oberfläche mit den möglichen Energien der Teilchen in Zusammenhang. Drei Jahre später brachte unter anderem diese Arbeit Atiyah die Fields-Medaille ein, eine Art Nobelpreis für Mathematik, die nur Personen unter 40 Jahren verliehen wird.

2004 erhielt er zusammen mit Singer den Abelpreis, eine weitere hohe Auszeichnung, die meist für das Lebenswerk eines Mathematikers vergeben wird. Anders als viele andere Meister seines Fachs zeigte sich Atiyah stets an den Anwendungen seiner Theorien interessiert und erzielte gerade mit seinem Indexsatz wichtige Ergebnisse in der theoretischen Physik. Insgesamt gilt er in der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht als »Problemlöser«, sondern als »Erschaffer von Theorien«.

Und in der Fachwelt war zuletzt bereits angekommen, was er in Heidelberg präsentieren will. Doch einige Experten äußerten sich im Vorfeld der Konferenz skeptisch. Der mathematische Physiker John Baez von der University of California in Riverside äußerte beispielsweise in einem Tweet: »Ich gehe davon aus, dass [der Beweis] nicht standhalten wird. Atiyah hat in der Vergangenheit schon große Ankündigungen gemacht, etwa dass die sechsdimensionale Kugelfläche keine komplexen Strukturen zulässt, die einer Prüfung nicht standhielten. Jeder, der ihn gut kennt, war zu verlegen, um die Gründe dafür öffentlich zu diskutieren.«

Auch viele der Zuhörer von Atiyahs Vortrag fragten sich, wie der berühmte Engländer in nur 45 Minuten einen vollständigen Beweis der riemannschen Vermutung präsentieren sollte – und, wie er ankündigte, auch noch auf für Mathematikstudenten nachvollziehbarem Niveau.

Umso erstaunter sind alle während des Vortrags, als er die ersten 30 Minuten damit verbrachte, eine Einführung in das Thema zu geben. Doch dann kommt Atiyah plötzlich auf die Teilchenphysik zu sprechen. Anfang 2018 habe er eine Konferenz besucht, wo er sich mit vielen Physikern unterhalten konnte, erzählt er. Dort sei er mit ihnen zu dem Schluss gekommen, dass man endlich die Feinstrukturkonstante verstehen müsse – auch nicht gerade ein kleines Rätsel.

Die Feinstrukturkonstante ist eine dimensionslose Größe, welche die Stärke der elektromagnetischen Wechselwirkung in der Physik angibt. Sie entspricht etwa 1137 und kann bisher nur durch physikalische Berechnungen und Messungen genau bestimmt werden; sie scheint nicht mit anderen mathematischen Konstanten (wie π oder der Eulerschen Zahl e) zusammenzuhängen. Was sollte die Feinstrukturkonstante aus der Physik nun mit der riemannschen Vermutung zu tun haben?

Als Atiyah nach einer rein mathematischen Herleitung der Feinstrukturkonstante suchte, stieß er auf eine Funktion, die der deutsche Mathematiker Friedrich Hirzebruch in den 1960er Jahren eingeführt hatte. Mit der so genannten Todd-Funktion fand Atiyah nach eigenen Angaben zuerst einen mathematischen Ausdruck der Feinstrukturkonstante und ihm gelang anschließend ein Widerspruchsbeweis der riemannschen Vermutung. Indem er voraussetzte, die Zeta-Funktion hätte eine Nullstelle außerhalb der vorhergesagten Gerade, folgerte er aus den Eigenschaften der Todd-Funktion, dass die Zeta-Funktion überall null sein müsse. Da dies offensichtlich nicht stimmt, muss auch die Annahme falsch sein – somit liegen alle Nullstellen auf der Geraden Re(z)=12. Die einzelnen mathematischen Umformungen nahmen nur drei Zeilen in Anspruch. Damit hatte niemand gerechnet.

So erzählt er es dem staunenden Publikum in Heidelberg. Als ihn jemand im Publikum fragt, wann er sein Ergebnis veröffentlichen würde, antwortet Atiyah, dass die mathematische Herleitung der Feinstrukturkonstante das eigentlich komplizierte Ergebnis sei – der Beweis der riemannschen Vermutung sei vollständig auf seiner Folie präsentiert.

Doch es geht noch skurriler: Er habe seine Resultate bereits bei »arXiv« eingereicht, einem bei Physikern und Mathematikern sehr beliebten Server für Preprint-Aufsätze – seine Arbeit sei aber nach eigenen Angaben wegen seines hohen Alters abgelehnt worden. Auch wenn Artikel auf »arXiv« ohne aufwändiges Peer-Review veröffentlicht werden, prüft ein Experte des betreffenden Fachgebiets einen Aufsatz und kann diesen dann zurückweisen.

Wie groß ist nun die Wahrscheinlichkeit, dass sein Beweis stimmt? Andere Mathematiker haben sich mittlerweile kritisch geäußert. Sie vermuten schwer wiegende Fehler in der Definition und den genutzten Eigenschaften der Todd-Funktion. Ob die riemannsche Vermutung nun wirklich bewiesen ist, ist also fraglich. Es bleibt abzuwarten, was andere Kollegen dazu sagen werden – oder ob auch sie einfach nur schweigen.

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