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News: Auf den Punkt gebracht

In den heutigen Zeiten moderner molekularbiologischer Methoden erwarten viele, dass Wissenschaftler jetzt so auf die Schnelle problemlos zu verschiedenen Erbkrankheiten die verantwortlichen Gene präsentieren können. Ganz so einfach und vor allem flink geht das aber nicht. Einer Forschergruppe gelang nun jedoch eine Glanzleistung der besonderen Art: Sie entdeckten ein Gen, das eine entscheidende Rolle dafür spielt, wie anfällig Menschen für Typ II-Diabetes sind.
Weltweit gibt es etwa 135 Millionen Menschen, die an Typ II-Diabetes leiden, und die Zahl der neu diagnostizierten Fälle ist steigend. Die Krankheit wird häufig vererbt, weshalb Wissenschaftler eifrig nach der genetischen Ursache suchen. Allerdings handelt es sich um eine komplexe Krankheit, die nicht auf einen Defekt in einem einzigen Gen zurückzuführen ist. Dementsprechend schwer ist die Aufgabe zu lösen.

Ein wichtiger Schritt auf dem langen und schwierigen Weg ist nun Forschern um Graeme Bell vom Howard Hughes Medical Institute gelungen. Mit einem als positional cloning bezeichneten Verfahren engten die Wissenschaftler den "Sündenbock" immer weiter ein, vom Chromosom über das Gen bis hin schließlich zur folgenschweren Mutation. Als Datengrundlage nutzten die Wissenschaftler Aufzeichnungen der Krankengeschichte und DNA-Proben von 330 Geschwisterpaaren einer mexikanisch-amerikanischen Familie in Texas, die eine besonders hohe Rate an Diabetes-Erkrankten aufweist. Craig Hanis vom Human Genetics Center an der University of Texas in Houston und seine Kollegen verfolgen deren Geschichte schon seit fast zwei Jahrzehnten. 1996 konnten Bell und Hanis eine Verknüpfung herstellen zwischen dem erhöhten Diabetes-Risiko und einem unbekannten Gen, das sich nahe des Endes von Chromosom 2 befindet und das sie NIDDM1 tauften.

Doch damit fehlte noch der entscheidende Schritt: das entsprechende Gen auch zu identifizieren. Statistische Berechnungen und immer genauere Sequenzdaten schließlich brachten die Forscher auf die Spur eines Gens, das als Sündenbock eigentlich gar nicht geeignet scheint. Denn es codiert für eine Protease, ein Enzym, das Stücke von anderen Proteinen abschneidet und so ihre Aktivität verändert. Das Enzym selbst, Calpain 10, ist ein Neuling für die Forscher. Angehörige der Proteinfamilie finden sich jedoch in allen menschlichen Zellen und im gesamten Tierreich. Und auch Calpain 10 scheint in allen Körpergeweben gegenwärtig zu sein. Eine seiner Formen beispielsweise tritt nur in den Insulin-produzierenden Inselzellen der Bauchspeicheldrüse auf.

Beim Gen angekommen, richteten die Forscher nun ihren Blick auf die Basenfolge, um Unterschiede zwischen gesunden und kranken Angehörigen der Familie zu finden. Und kleiner hätte die Differenz fast nicht sein können: Nur eine Base ist anders, denn bei Diabetes-Betroffenen sitzt an einer bestimmten Stelle ein Guanin statt ein Adenin. Besonders verblüffend ist, dass diese Punktmutation in einem so genannten Intron auftritt – einem Stück DNA, das gar keine Information enthält und zwei codierende Abschnitte, die als Exons bezeichnet werden, voneinander trennt. Dabei verhält sich die winzige Veränderung rezessiv, das heißt nur diejenigen, die von beiden Elternteilen die Mutation geerbt haben, sind auch anfälliger für Diabetes. Doch damit nicht genug. Die Wissenschaftler entdeckten noch an zwei weiteren Intron-Stellen Mutationen, die das Diabetes-Risiko beeinflussten (Nature Genetics vom Oktober 2000).

Welche Folgen hat nun aber eine solche Mutation in einem Abschnitt, der eigentlich bei der Übersetzung der DNA in die Boten-RNA herausgeschnitten wird und somit für die Bauanleitung des Protein an sich gar keine Rolle zu spielen scheint? Die Forscher vermuten, dass die verschiedenen Mutationen zusammenwirken und das Ablesen des Gens stören. Sie schlagen ein Modell vor, das aus zwei Effekten besteht: Zum einen soll die Expression von Calpain 10 in den Insulin-produzierenden beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse verändert sein, während zum anderen sich auch die Gen-Expression in Muskel- oder Fettzellen wandelt, also Geweben, die normalerweise Glucose verbrauchen oder speichern.

Andere Untersuchungen untermauern den Zusammenhang zwischen Typ II-Diabetes und dem NIDDM1-Gen auch außerhalb der von Bell und Hanis bearbeiteten Familiengruppe. So konnten sie diese Verknüpfung auch bei Proben aus Finnland und Frankreich nachweisen, obwohl sie hier schwächer ausgeprägt war. Weiterhin stellte Leslie Baier vom National Institute of Diabetes and Digestive and Kidney Diseases an Pima-Indianern fest, dass Individuen ohne Diabetes, aber mit der entsprechenden Punktmutation auf beiden Chromosomen, in den Muskelzellen 53 Prozent weniger Boten-RNA produzieren. Auch leiden die Betroffenen unter einer ganzen Reihe von Stoffwechselstörungen, von herabgesetztem Stoffwechsel bis hin zu erhöhter Insulinresistenz, die einer leichten Diabetes ähneln. Das passt erstaunlich gut zu einer 30 Jahre alten Theorie, wonach bestimmte ethnische Gruppen "geizige" Gene besitzen, die sie vor Hungerzeiten schützten, bei der heutigen Ernährungslage aber gefährden. Menschen mit solchen Genen sollen eine eher magere Energiebilanz aufweisen, zu der eine verringerte Stoffwechselrate während des Schlafs gehört und die Tendenz, Glucose eher zu speichern als zu verbrennen. Auch die Pima-Angehörigen mit der doppelten Mutation zeigen einige dieser Charakteristika.

Die Forscher warnen davor, ihren Fund als "Diabetes-Gen" misszuverstehen. Denn die Mutationen lösen die Krankheit nicht aus, dafür ist ein kompliziertes Wechselspiel von verschiedenen Genen und Umweltfaktoren nötig. Aber vielleicht helfen die Erkenntnisse dabei, neue Behandlungsformen zu entwickeln. Und nicht zuletzt könnten Mediziner damit eventuell schon bei jungen Menschen den Risikofaktor bestimmen. Denn Typ II-Diabetes wird meist erst bei über 40-Jährigen festgestellt, könnte jedoch schon deutlich früher behandelt werden.

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